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Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Erstes Vierteljahr.

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Die Irrtümer der Demokratie
I'llius Patzelt i von n

n den gesetzgebenden Körperschaften sind im Laufe der letzten
Jahre Erscheinungen aufgetreten, die auf schwere Fehler in dem
Aufbau der abendländischen Staatsverfassungen hindeuten. Auf
der einen Seite versichert man allerdings, daß es sich lediglich
vorübergehende Störungen handle, die durch die weitere
Demokratisierung von Staat und Gesellschaft ohne weiteres beseitigt werden
wurden; aber auf der andern Seite wird umso schärfer betont, daß die kritische
Entwicklung des modernen Verfassungslebens gerade auf seiner demokratischen
Grundlage beruhe. Es unterliegt wohl keinem Zweifel, daß heute un Volke
dus Verlangen uach einer kräftigern Anwendung des demokratischen Prinzips
Verfassnugslebeu stärker ist als der entgegengesetzte Wunsch. Im Banne
der demokratischen Lehre stehend betrachten die Massen ihr "Recht" auf Herrschaft
als ein kostbares Gut, das fortwährend vermehrt werden müsse; auch sieht ein
gwßer Teil der Gebildete,: darin ein notwendiges Gegengewicht gegen die
Willkür Einzelner. Die fabelhafte Entwicklung unsers Erwerbslebens mit seinem
Streben nach Vergesellschaftung hat außerdem mitgewirkt, das Publikum zum
großen Teile der sozialistischen Richtung zuzuführen, die den politischen
"Kollektivismus" durch den wirtschaftlichen, die politische Demokratie dnrch
die soziale ergänzen will. Die entgegengesetzte Anschauung hat also vor¬
läufig wenig Aussicht, gehört zu werden; trotzdem ist es für die Kreise, die
nicht in den Sklavenketten der sogenannten öffentlichen Meinung liegen, viel¬
leicht nicht ohne Interesse zu untersuchen, ob die bedenklichen Erscheinungen,
die in dein Verfassungsleben der europäischen Staaten auftreten, nur zufällig
und beiläufig, oder ob sie die natürlichen Folgen organischer Fehler der den
festländischen Verfassungen zu Grunde liegenden Theorien sind. Da sie alle
ohne Ausnahme in der revolutionären Entwicklung Frankreichs am Ende des
achtzehnten Jahrhunderts wurzeln, sei zunächst erörtert, welche Aufgabe die
französische Revolution lösen wollte, und mit welchen Mitteln und welchem
Erfolge sie es versucht hat.

Faßt man den Zustand Frankreichs beim Tode Ludwigs des Fünfzehnten,


Grenzboten I 190K 48


Die Irrtümer der Demokratie
I'llius Patzelt i von n

n den gesetzgebenden Körperschaften sind im Laufe der letzten
Jahre Erscheinungen aufgetreten, die auf schwere Fehler in dem
Aufbau der abendländischen Staatsverfassungen hindeuten. Auf
der einen Seite versichert man allerdings, daß es sich lediglich
vorübergehende Störungen handle, die durch die weitere
Demokratisierung von Staat und Gesellschaft ohne weiteres beseitigt werden
wurden; aber auf der andern Seite wird umso schärfer betont, daß die kritische
Entwicklung des modernen Verfassungslebens gerade auf seiner demokratischen
Grundlage beruhe. Es unterliegt wohl keinem Zweifel, daß heute un Volke
dus Verlangen uach einer kräftigern Anwendung des demokratischen Prinzips
Verfassnugslebeu stärker ist als der entgegengesetzte Wunsch. Im Banne
der demokratischen Lehre stehend betrachten die Massen ihr „Recht" auf Herrschaft
als ein kostbares Gut, das fortwährend vermehrt werden müsse; auch sieht ein
gwßer Teil der Gebildete,: darin ein notwendiges Gegengewicht gegen die
Willkür Einzelner. Die fabelhafte Entwicklung unsers Erwerbslebens mit seinem
Streben nach Vergesellschaftung hat außerdem mitgewirkt, das Publikum zum
großen Teile der sozialistischen Richtung zuzuführen, die den politischen
«Kollektivismus" durch den wirtschaftlichen, die politische Demokratie dnrch
die soziale ergänzen will. Die entgegengesetzte Anschauung hat also vor¬
läufig wenig Aussicht, gehört zu werden; trotzdem ist es für die Kreise, die
nicht in den Sklavenketten der sogenannten öffentlichen Meinung liegen, viel¬
leicht nicht ohne Interesse zu untersuchen, ob die bedenklichen Erscheinungen,
die in dein Verfassungsleben der europäischen Staaten auftreten, nur zufällig
und beiläufig, oder ob sie die natürlichen Folgen organischer Fehler der den
festländischen Verfassungen zu Grunde liegenden Theorien sind. Da sie alle
ohne Ausnahme in der revolutionären Entwicklung Frankreichs am Ende des
achtzehnten Jahrhunderts wurzeln, sei zunächst erörtert, welche Aufgabe die
französische Revolution lösen wollte, und mit welchen Mitteln und welchem
Erfolge sie es versucht hat.

Faßt man den Zustand Frankreichs beim Tode Ludwigs des Fünfzehnten,


Grenzboten I 190K 48
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[0381] [Abbildung] Die Irrtümer der Demokratie I'llius Patzelt i von n n den gesetzgebenden Körperschaften sind im Laufe der letzten Jahre Erscheinungen aufgetreten, die auf schwere Fehler in dem Aufbau der abendländischen Staatsverfassungen hindeuten. Auf der einen Seite versichert man allerdings, daß es sich lediglich vorübergehende Störungen handle, die durch die weitere Demokratisierung von Staat und Gesellschaft ohne weiteres beseitigt werden wurden; aber auf der andern Seite wird umso schärfer betont, daß die kritische Entwicklung des modernen Verfassungslebens gerade auf seiner demokratischen Grundlage beruhe. Es unterliegt wohl keinem Zweifel, daß heute un Volke dus Verlangen uach einer kräftigern Anwendung des demokratischen Prinzips Verfassnugslebeu stärker ist als der entgegengesetzte Wunsch. Im Banne der demokratischen Lehre stehend betrachten die Massen ihr „Recht" auf Herrschaft als ein kostbares Gut, das fortwährend vermehrt werden müsse; auch sieht ein gwßer Teil der Gebildete,: darin ein notwendiges Gegengewicht gegen die Willkür Einzelner. Die fabelhafte Entwicklung unsers Erwerbslebens mit seinem Streben nach Vergesellschaftung hat außerdem mitgewirkt, das Publikum zum großen Teile der sozialistischen Richtung zuzuführen, die den politischen «Kollektivismus" durch den wirtschaftlichen, die politische Demokratie dnrch die soziale ergänzen will. Die entgegengesetzte Anschauung hat also vor¬ läufig wenig Aussicht, gehört zu werden; trotzdem ist es für die Kreise, die nicht in den Sklavenketten der sogenannten öffentlichen Meinung liegen, viel¬ leicht nicht ohne Interesse zu untersuchen, ob die bedenklichen Erscheinungen, die in dein Verfassungsleben der europäischen Staaten auftreten, nur zufällig und beiläufig, oder ob sie die natürlichen Folgen organischer Fehler der den festländischen Verfassungen zu Grunde liegenden Theorien sind. Da sie alle ohne Ausnahme in der revolutionären Entwicklung Frankreichs am Ende des achtzehnten Jahrhunderts wurzeln, sei zunächst erörtert, welche Aufgabe die französische Revolution lösen wollte, und mit welchen Mitteln und welchem Erfolge sie es versucht hat. Faßt man den Zustand Frankreichs beim Tode Ludwigs des Fünfzehnten, Grenzboten I 190K 48

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341877_239555/381>, abgerufen am 24.11.2024.