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Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Erstes Vierteljahr.

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Ravenna ist die Stadt der letzten Dekadenee des weströmischen Kaiser¬
tums, des ostgotischen Königtums in seiner größten Machtfülle und dann in
seinem Niedergange und schließlich die Stadt der byzantinischen Herrschaft in
Italien. In die Spanne dieser wenigen Jahrhunderte drängt sich die geschicht¬
liche und kulturhistorische Bedeutung Rcwennas zusammen. In seinen Kirchen,
von den Basiliken bis zum Kuppelbau San Vitales, in seinen Baptisterien,
die den Basilikcnstil auf deu Rundbau übertragen, in seinen Mosaiken und
Sarkophagen ist Navennn die Fundgrube für das Studium der altchristlichen
Kunst vom fünften bis zum achten Jahrhundert; denn in keiner andern italie¬
nischen Stadt sind aus dieser Zeit des Umsturzes, in der der Kampf zwischen
Römertum und Germanentum in Italien nnsgefochtcn wurde, Denkmäler alt¬
christlicher Kunst in solchem Umfange vorhanden wie in Ravenna. Als die
Stadt dann an deu Kirchenstaat siel und kurze Zeit auch in venetianische
Hände kam, verschwindet sie aus der Geschichte, und keine Baudenkmäler ans
dieser Periode zieren sie besonders. Nur einmal im Mittelalter, in der Vor¬
renaissance, als die Stadt unter der Herrschaft des Geschlechts der Polenta
stand, sind die Augen Italiens noch einmal auf Ravenna gerichtet gewesen,
von dein aus einst die Geschichte des Orients und zum Teil auch des Occi-
dents bestimmt worden ist, ich meine die Zeit, als Guido Novello da Polenta
dem Dichter der göttlichen Komödie, Dante, hier Zuflucht und Heimat bot.
Der königliche Sänger hat hierfür im Inferno dem Geschlechte der Poleutaner
seinen Dank gezollt.

Aber dies ist uur eine Episode in der Geschichte der Stadt. Die welt¬
geschichtlichen Erinnerungen knüpfen sich hauptsächlich an die Namen Stilicho,
Honorius, Galla Plaeidia, Odoaker, an Theodorich den Großen, den Ost-
gotenkönig, an seine Nachfolger Totilas und Tejas, die in dem Helden-
kampfe gegell die byzantinische Macht unterlagen, um Belisar und an Narses,
die den Untergang der Ostgoten besiegelt und für Justinian hier die Herr¬
schaft von Byzanz aufgerichtet haben. Welche Häufung von Schicksalen, welches
Ringen der Völker verkörpern diese Namen! Diese drei Perioden, die letzte
Dekadenee des oströmischen Kaisertums, die Gotenherrschaft und die Herrschaft
von Byzanz haben in Ravenna Erinnerungen dnrch ihre Bauten zurückgelassen,
und in diesem Verhältnis der Bauten zur Geschichte liegt der eigentümliche
Zauber, den Rnvenna auf den Vesncher ausübt.

Die Dekadenee des weströmischen Kaisertums verkörpert das Mausoleum
der Galla Plaeidia, San Nazario e Celsv genannt, das in der Nähe von San
Vitale liegt, und wo diese Frau, die Schwester des Honorius, die Gattin des
Westgoten Ataulf und des Feldherrn Konstantins, die Mutter Valentinians des
Dritten, des Letzten ans dem Geschlechte des großen Theodosius, nach einem
sturmbewegteu Leben ihre Ruhe gefunden hat. Eine bescheidne Ruhestätte für
die Schwester eines Kaisers, die ihre Schicksale durch den ganzen Orient und
Occident geführt haben, ein kleiner Ziegelruudbau, in den durch vier kleine
Fenster das Licht hereinfällt. Aus dem Dämmerlichte leuchten die Mosaiken
auf dunkelblauem Grunde; sie stammen ans der Mitte des fünften Jahr¬
hunderts, zeigen die Christus gestalt in doppelter Darstellung mit und ohne


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Ravenna ist die Stadt der letzten Dekadenee des weströmischen Kaiser¬
tums, des ostgotischen Königtums in seiner größten Machtfülle und dann in
seinem Niedergange und schließlich die Stadt der byzantinischen Herrschaft in
Italien. In die Spanne dieser wenigen Jahrhunderte drängt sich die geschicht¬
liche und kulturhistorische Bedeutung Rcwennas zusammen. In seinen Kirchen,
von den Basiliken bis zum Kuppelbau San Vitales, in seinen Baptisterien,
die den Basilikcnstil auf deu Rundbau übertragen, in seinen Mosaiken und
Sarkophagen ist Navennn die Fundgrube für das Studium der altchristlichen
Kunst vom fünften bis zum achten Jahrhundert; denn in keiner andern italie¬
nischen Stadt sind aus dieser Zeit des Umsturzes, in der der Kampf zwischen
Römertum und Germanentum in Italien nnsgefochtcn wurde, Denkmäler alt¬
christlicher Kunst in solchem Umfange vorhanden wie in Ravenna. Als die
Stadt dann an deu Kirchenstaat siel und kurze Zeit auch in venetianische
Hände kam, verschwindet sie aus der Geschichte, und keine Baudenkmäler ans
dieser Periode zieren sie besonders. Nur einmal im Mittelalter, in der Vor¬
renaissance, als die Stadt unter der Herrschaft des Geschlechts der Polenta
stand, sind die Augen Italiens noch einmal auf Ravenna gerichtet gewesen,
von dein aus einst die Geschichte des Orients und zum Teil auch des Occi-
dents bestimmt worden ist, ich meine die Zeit, als Guido Novello da Polenta
dem Dichter der göttlichen Komödie, Dante, hier Zuflucht und Heimat bot.
Der königliche Sänger hat hierfür im Inferno dem Geschlechte der Poleutaner
seinen Dank gezollt.

Aber dies ist uur eine Episode in der Geschichte der Stadt. Die welt¬
geschichtlichen Erinnerungen knüpfen sich hauptsächlich an die Namen Stilicho,
Honorius, Galla Plaeidia, Odoaker, an Theodorich den Großen, den Ost-
gotenkönig, an seine Nachfolger Totilas und Tejas, die in dem Helden-
kampfe gegell die byzantinische Macht unterlagen, um Belisar und an Narses,
die den Untergang der Ostgoten besiegelt und für Justinian hier die Herr¬
schaft von Byzanz aufgerichtet haben. Welche Häufung von Schicksalen, welches
Ringen der Völker verkörpern diese Namen! Diese drei Perioden, die letzte
Dekadenee des oströmischen Kaisertums, die Gotenherrschaft und die Herrschaft
von Byzanz haben in Ravenna Erinnerungen dnrch ihre Bauten zurückgelassen,
und in diesem Verhältnis der Bauten zur Geschichte liegt der eigentümliche
Zauber, den Rnvenna auf den Vesncher ausübt.

Die Dekadenee des weströmischen Kaisertums verkörpert das Mausoleum
der Galla Plaeidia, San Nazario e Celsv genannt, das in der Nähe von San
Vitale liegt, und wo diese Frau, die Schwester des Honorius, die Gattin des
Westgoten Ataulf und des Feldherrn Konstantins, die Mutter Valentinians des
Dritten, des Letzten ans dem Geschlechte des großen Theodosius, nach einem
sturmbewegteu Leben ihre Ruhe gefunden hat. Eine bescheidne Ruhestätte für
die Schwester eines Kaisers, die ihre Schicksale durch den ganzen Orient und
Occident geführt haben, ein kleiner Ziegelruudbau, in den durch vier kleine
Fenster das Licht hereinfällt. Aus dem Dämmerlichte leuchten die Mosaiken
auf dunkelblauem Grunde; sie stammen ans der Mitte des fünften Jahr¬
hunderts, zeigen die Christus gestalt in doppelter Darstellung mit und ohne


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[0232] Rcwmma Ravenna ist die Stadt der letzten Dekadenee des weströmischen Kaiser¬ tums, des ostgotischen Königtums in seiner größten Machtfülle und dann in seinem Niedergange und schließlich die Stadt der byzantinischen Herrschaft in Italien. In die Spanne dieser wenigen Jahrhunderte drängt sich die geschicht¬ liche und kulturhistorische Bedeutung Rcwennas zusammen. In seinen Kirchen, von den Basiliken bis zum Kuppelbau San Vitales, in seinen Baptisterien, die den Basilikcnstil auf deu Rundbau übertragen, in seinen Mosaiken und Sarkophagen ist Navennn die Fundgrube für das Studium der altchristlichen Kunst vom fünften bis zum achten Jahrhundert; denn in keiner andern italie¬ nischen Stadt sind aus dieser Zeit des Umsturzes, in der der Kampf zwischen Römertum und Germanentum in Italien nnsgefochtcn wurde, Denkmäler alt¬ christlicher Kunst in solchem Umfange vorhanden wie in Ravenna. Als die Stadt dann an deu Kirchenstaat siel und kurze Zeit auch in venetianische Hände kam, verschwindet sie aus der Geschichte, und keine Baudenkmäler ans dieser Periode zieren sie besonders. Nur einmal im Mittelalter, in der Vor¬ renaissance, als die Stadt unter der Herrschaft des Geschlechts der Polenta stand, sind die Augen Italiens noch einmal auf Ravenna gerichtet gewesen, von dein aus einst die Geschichte des Orients und zum Teil auch des Occi- dents bestimmt worden ist, ich meine die Zeit, als Guido Novello da Polenta dem Dichter der göttlichen Komödie, Dante, hier Zuflucht und Heimat bot. Der königliche Sänger hat hierfür im Inferno dem Geschlechte der Poleutaner seinen Dank gezollt. Aber dies ist uur eine Episode in der Geschichte der Stadt. Die welt¬ geschichtlichen Erinnerungen knüpfen sich hauptsächlich an die Namen Stilicho, Honorius, Galla Plaeidia, Odoaker, an Theodorich den Großen, den Ost- gotenkönig, an seine Nachfolger Totilas und Tejas, die in dem Helden- kampfe gegell die byzantinische Macht unterlagen, um Belisar und an Narses, die den Untergang der Ostgoten besiegelt und für Justinian hier die Herr¬ schaft von Byzanz aufgerichtet haben. Welche Häufung von Schicksalen, welches Ringen der Völker verkörpern diese Namen! Diese drei Perioden, die letzte Dekadenee des oströmischen Kaisertums, die Gotenherrschaft und die Herrschaft von Byzanz haben in Ravenna Erinnerungen dnrch ihre Bauten zurückgelassen, und in diesem Verhältnis der Bauten zur Geschichte liegt der eigentümliche Zauber, den Rnvenna auf den Vesncher ausübt. Die Dekadenee des weströmischen Kaisertums verkörpert das Mausoleum der Galla Plaeidia, San Nazario e Celsv genannt, das in der Nähe von San Vitale liegt, und wo diese Frau, die Schwester des Honorius, die Gattin des Westgoten Ataulf und des Feldherrn Konstantins, die Mutter Valentinians des Dritten, des Letzten ans dem Geschlechte des großen Theodosius, nach einem sturmbewegteu Leben ihre Ruhe gefunden hat. Eine bescheidne Ruhestätte für die Schwester eines Kaisers, die ihre Schicksale durch den ganzen Orient und Occident geführt haben, ein kleiner Ziegelruudbau, in den durch vier kleine Fenster das Licht hereinfällt. Aus dem Dämmerlichte leuchten die Mosaiken auf dunkelblauem Grunde; sie stammen ans der Mitte des fünften Jahr¬ hunderts, zeigen die Christus gestalt in doppelter Darstellung mit und ohne

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341877_239555/232>, abgerufen am 24.11.2024.