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Die Grenzboten. Jg. 61, 1902, Viertes Vierteljahr.

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Am Fuße des Hradjchius

Heute war alles nach Wunsch gegangen. Da Joseph auf den Berg zum
Prior bestellt war und deshalb weder in die Reitbahn noch auf den Stallhof
hatte kommen können, so hatten Hassans Eltern, der schwarze König und dessen
Gattin vor der Zunge des rachsüchtigen jungen Ministranten Ruhe gehabt. Die
Montenervsche Familie war etwas früher als gewöhnlich in corpore abgezogen,
denn man erwartete die Äbtissin zum zweiten Frühstück, und die Etikette verbot, die
hochgestellte und nach dem Herkommen fürstlichen Rang einnehmende Dame auch nur
eine Minute warten zu lassen. Als es zum zweitenmal läutete, waren der Fürst,
die jungen Leute und der Kaplan schon im sogenannten Lederzimmer versammelt,
und als die Gräfin mit der Äbtissin eintrat, konnte sofort zu Tisch gegangen werden.
Auch bei dieser grundsätzlich formlosen und intimen Mahlzeit war wieder alles,
womit hier im Monteneroschen Palais der etwas zu klein geratene moderne Mensch
zu thun hatte, zu stattlich und zu feierlich. Der Saal war zu groß, dessen Decke
zu hoch, der Tisch, an dem man saß, zu breit, und die von geräuschlos agierenden
Offizianten und Lakaien bewirkte Fütterung würde etwas geisterhaftes gehabt haben,
wenn sich die drei Alten, der Fürst, die Äbtissin und die Gräfin, in dieser Feierlich¬
keit und Größe nicht wie der Fisch im Wasser befunden hätten: auf sie, auf ihre Eltern,
auf ihre Großeltern war die Sache zugeschnitten gewesen; sie paßten hinein; sie
waren von Jugend auf die große Bühne gewohnt gewesen, ihre Bewegungen, ihre
Sprache waren natürlich, entsprechend und am Platze, während die jungen Leute
den Eindruck machten, als seien sie eine kleinere Bühne gewohnt, wo es mit etwas
weniger Grandezza und etwas mehr Sichgehnlassen und Witz ergötzlicher sei.

Auch Graf Egon, der neben der Äbtissin saß und sich ihrer besondern Gunst
und Gnade erfreute, machte keinen recht wohlthuenden Eindruck. Auch er gehörte
dem neuen Geschlecht an, das da, wo es sich um die leichten anmutigen Formen
der großen Geselligkeit handelt, gegen früher ein wenig zurückgegangen ist. Auch
die Gabe der fesselnden, auf den Interessenkreis des andern berechneten Unterhaltung
war ihm nicht verliehen, und die arme Äbtissin mußte ihm, sie mochte wollen oder
nicht, in alle Einzelheiten folgen, die er von der Auffindung eines illuminierten
tschechischen Missale aus dein sechzehnten Jahrhundert zu berichten für gut fand, weil
das ihn interessierte. Kirchliche Altertümer, wenn sie tschechischen Ursprungs waren,
begeisterten ihn, er sammelte solche Seltenheiten und verstand sich wirklich darauf.
Daß er bei der Äbtissin nicht dieselbe Teilnahme voraussetzen konnte, fiel ihm nicht
ein, und wenn der auf der andern Seite der Äbtissin sitzende Fürst nicht noch bei
rechter Zeit mit ein paar Stadtnenigkeiten und ein paar gutmütigen Späßen ein¬
gesprungen wäre, so würde die gute alte Dame in einen magnetischen Schlaf gefallen
sein, den man, wenn möglich, bei seinen Tischgästen vermeidet. Als sie sich beim
Dessert durch ein mächtiges Glas Madeira -- via ana är)' -- wieder etwas ge¬
stärkt hatte, veranlaßte sie den Kaplan, das Dankgebet zu sprechen, und entführte
nach ausgehöhlter Tafel den Grafen Egon in den Wintergarten, wo sie, von Ka¬
melien und tropischen Pflanzen umgeben, Privataudienzen zu erteilen und ihr Nach¬
mittagsschläfchen zu halten pflegte.

Der Graf, der sich für alle Fälle mit einem tüchtigen Glas desselben köstlichen
Weins für die Strapazen einer neuen Redekampagne gerüstet hatte, saß zu ihre"
Füßen auf einem niedrigen Korbstnhl in der seelischen Verfassung eines Lcibmopses,
der sich geliebt weiß und in seligem Nirwana die streichelnde Hand erwartet.

Sie sind nicht herzlich, nicht innig, nicht zärtlich genug, Egon, sagte die Äb¬
tissin, seine Schulter mit ihrer noch immer schönen, wenngleich etwas zu vollen
Hand berührend.

Der Schreck, den der Graf über diesen Vorwurf und über das, was nun folgen
konnte, empfand, malte sich zu deutlich in seinen Züge", als daß die Äbtissin sich
nicht hätte bemühen sollen, ihn einigermaßen zu beruhigen. Ich spreche, sagte sie,
von der Art und Weise, in der Sie unsrer lieben Paula begegnen. Es fehlt Ihnen
an Feuer, um Leidenschaft.


Am Fuße des Hradjchius

Heute war alles nach Wunsch gegangen. Da Joseph auf den Berg zum
Prior bestellt war und deshalb weder in die Reitbahn noch auf den Stallhof
hatte kommen können, so hatten Hassans Eltern, der schwarze König und dessen
Gattin vor der Zunge des rachsüchtigen jungen Ministranten Ruhe gehabt. Die
Montenervsche Familie war etwas früher als gewöhnlich in corpore abgezogen,
denn man erwartete die Äbtissin zum zweiten Frühstück, und die Etikette verbot, die
hochgestellte und nach dem Herkommen fürstlichen Rang einnehmende Dame auch nur
eine Minute warten zu lassen. Als es zum zweitenmal läutete, waren der Fürst,
die jungen Leute und der Kaplan schon im sogenannten Lederzimmer versammelt,
und als die Gräfin mit der Äbtissin eintrat, konnte sofort zu Tisch gegangen werden.
Auch bei dieser grundsätzlich formlosen und intimen Mahlzeit war wieder alles,
womit hier im Monteneroschen Palais der etwas zu klein geratene moderne Mensch
zu thun hatte, zu stattlich und zu feierlich. Der Saal war zu groß, dessen Decke
zu hoch, der Tisch, an dem man saß, zu breit, und die von geräuschlos agierenden
Offizianten und Lakaien bewirkte Fütterung würde etwas geisterhaftes gehabt haben,
wenn sich die drei Alten, der Fürst, die Äbtissin und die Gräfin, in dieser Feierlich¬
keit und Größe nicht wie der Fisch im Wasser befunden hätten: auf sie, auf ihre Eltern,
auf ihre Großeltern war die Sache zugeschnitten gewesen; sie paßten hinein; sie
waren von Jugend auf die große Bühne gewohnt gewesen, ihre Bewegungen, ihre
Sprache waren natürlich, entsprechend und am Platze, während die jungen Leute
den Eindruck machten, als seien sie eine kleinere Bühne gewohnt, wo es mit etwas
weniger Grandezza und etwas mehr Sichgehnlassen und Witz ergötzlicher sei.

Auch Graf Egon, der neben der Äbtissin saß und sich ihrer besondern Gunst
und Gnade erfreute, machte keinen recht wohlthuenden Eindruck. Auch er gehörte
dem neuen Geschlecht an, das da, wo es sich um die leichten anmutigen Formen
der großen Geselligkeit handelt, gegen früher ein wenig zurückgegangen ist. Auch
die Gabe der fesselnden, auf den Interessenkreis des andern berechneten Unterhaltung
war ihm nicht verliehen, und die arme Äbtissin mußte ihm, sie mochte wollen oder
nicht, in alle Einzelheiten folgen, die er von der Auffindung eines illuminierten
tschechischen Missale aus dein sechzehnten Jahrhundert zu berichten für gut fand, weil
das ihn interessierte. Kirchliche Altertümer, wenn sie tschechischen Ursprungs waren,
begeisterten ihn, er sammelte solche Seltenheiten und verstand sich wirklich darauf.
Daß er bei der Äbtissin nicht dieselbe Teilnahme voraussetzen konnte, fiel ihm nicht
ein, und wenn der auf der andern Seite der Äbtissin sitzende Fürst nicht noch bei
rechter Zeit mit ein paar Stadtnenigkeiten und ein paar gutmütigen Späßen ein¬
gesprungen wäre, so würde die gute alte Dame in einen magnetischen Schlaf gefallen
sein, den man, wenn möglich, bei seinen Tischgästen vermeidet. Als sie sich beim
Dessert durch ein mächtiges Glas Madeira — via ana är)' — wieder etwas ge¬
stärkt hatte, veranlaßte sie den Kaplan, das Dankgebet zu sprechen, und entführte
nach ausgehöhlter Tafel den Grafen Egon in den Wintergarten, wo sie, von Ka¬
melien und tropischen Pflanzen umgeben, Privataudienzen zu erteilen und ihr Nach¬
mittagsschläfchen zu halten pflegte.

Der Graf, der sich für alle Fälle mit einem tüchtigen Glas desselben köstlichen
Weins für die Strapazen einer neuen Redekampagne gerüstet hatte, saß zu ihre»
Füßen auf einem niedrigen Korbstnhl in der seelischen Verfassung eines Lcibmopses,
der sich geliebt weiß und in seligem Nirwana die streichelnde Hand erwartet.

Sie sind nicht herzlich, nicht innig, nicht zärtlich genug, Egon, sagte die Äb¬
tissin, seine Schulter mit ihrer noch immer schönen, wenngleich etwas zu vollen
Hand berührend.

Der Schreck, den der Graf über diesen Vorwurf und über das, was nun folgen
konnte, empfand, malte sich zu deutlich in seinen Züge», als daß die Äbtissin sich
nicht hätte bemühen sollen, ihn einigermaßen zu beruhigen. Ich spreche, sagte sie,
von der Art und Weise, in der Sie unsrer lieben Paula begegnen. Es fehlt Ihnen
an Feuer, um Leidenschaft.


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[0622] Am Fuße des Hradjchius Heute war alles nach Wunsch gegangen. Da Joseph auf den Berg zum Prior bestellt war und deshalb weder in die Reitbahn noch auf den Stallhof hatte kommen können, so hatten Hassans Eltern, der schwarze König und dessen Gattin vor der Zunge des rachsüchtigen jungen Ministranten Ruhe gehabt. Die Montenervsche Familie war etwas früher als gewöhnlich in corpore abgezogen, denn man erwartete die Äbtissin zum zweiten Frühstück, und die Etikette verbot, die hochgestellte und nach dem Herkommen fürstlichen Rang einnehmende Dame auch nur eine Minute warten zu lassen. Als es zum zweitenmal läutete, waren der Fürst, die jungen Leute und der Kaplan schon im sogenannten Lederzimmer versammelt, und als die Gräfin mit der Äbtissin eintrat, konnte sofort zu Tisch gegangen werden. Auch bei dieser grundsätzlich formlosen und intimen Mahlzeit war wieder alles, womit hier im Monteneroschen Palais der etwas zu klein geratene moderne Mensch zu thun hatte, zu stattlich und zu feierlich. Der Saal war zu groß, dessen Decke zu hoch, der Tisch, an dem man saß, zu breit, und die von geräuschlos agierenden Offizianten und Lakaien bewirkte Fütterung würde etwas geisterhaftes gehabt haben, wenn sich die drei Alten, der Fürst, die Äbtissin und die Gräfin, in dieser Feierlich¬ keit und Größe nicht wie der Fisch im Wasser befunden hätten: auf sie, auf ihre Eltern, auf ihre Großeltern war die Sache zugeschnitten gewesen; sie paßten hinein; sie waren von Jugend auf die große Bühne gewohnt gewesen, ihre Bewegungen, ihre Sprache waren natürlich, entsprechend und am Platze, während die jungen Leute den Eindruck machten, als seien sie eine kleinere Bühne gewohnt, wo es mit etwas weniger Grandezza und etwas mehr Sichgehnlassen und Witz ergötzlicher sei. Auch Graf Egon, der neben der Äbtissin saß und sich ihrer besondern Gunst und Gnade erfreute, machte keinen recht wohlthuenden Eindruck. Auch er gehörte dem neuen Geschlecht an, das da, wo es sich um die leichten anmutigen Formen der großen Geselligkeit handelt, gegen früher ein wenig zurückgegangen ist. Auch die Gabe der fesselnden, auf den Interessenkreis des andern berechneten Unterhaltung war ihm nicht verliehen, und die arme Äbtissin mußte ihm, sie mochte wollen oder nicht, in alle Einzelheiten folgen, die er von der Auffindung eines illuminierten tschechischen Missale aus dein sechzehnten Jahrhundert zu berichten für gut fand, weil das ihn interessierte. Kirchliche Altertümer, wenn sie tschechischen Ursprungs waren, begeisterten ihn, er sammelte solche Seltenheiten und verstand sich wirklich darauf. Daß er bei der Äbtissin nicht dieselbe Teilnahme voraussetzen konnte, fiel ihm nicht ein, und wenn der auf der andern Seite der Äbtissin sitzende Fürst nicht noch bei rechter Zeit mit ein paar Stadtnenigkeiten und ein paar gutmütigen Späßen ein¬ gesprungen wäre, so würde die gute alte Dame in einen magnetischen Schlaf gefallen sein, den man, wenn möglich, bei seinen Tischgästen vermeidet. Als sie sich beim Dessert durch ein mächtiges Glas Madeira — via ana är)' — wieder etwas ge¬ stärkt hatte, veranlaßte sie den Kaplan, das Dankgebet zu sprechen, und entführte nach ausgehöhlter Tafel den Grafen Egon in den Wintergarten, wo sie, von Ka¬ melien und tropischen Pflanzen umgeben, Privataudienzen zu erteilen und ihr Nach¬ mittagsschläfchen zu halten pflegte. Der Graf, der sich für alle Fälle mit einem tüchtigen Glas desselben köstlichen Weins für die Strapazen einer neuen Redekampagne gerüstet hatte, saß zu ihre» Füßen auf einem niedrigen Korbstnhl in der seelischen Verfassung eines Lcibmopses, der sich geliebt weiß und in seligem Nirwana die streichelnde Hand erwartet. Sie sind nicht herzlich, nicht innig, nicht zärtlich genug, Egon, sagte die Äb¬ tissin, seine Schulter mit ihrer noch immer schönen, wenngleich etwas zu vollen Hand berührend. Der Schreck, den der Graf über diesen Vorwurf und über das, was nun folgen konnte, empfand, malte sich zu deutlich in seinen Züge», als daß die Äbtissin sich nicht hätte bemühen sollen, ihn einigermaßen zu beruhigen. Ich spreche, sagte sie, von der Art und Weise, in der Sie unsrer lieben Paula begegnen. Es fehlt Ihnen an Feuer, um Leidenschaft.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 61, 1902, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341875_238787/622>, abgerufen am 01.09.2024.