Die Grenzboten. Jg. 61, 1902, Viertes Vierteljahr.Deutsch - Ästerreich Die Deutschösterreicher sind keineswegs von einem unvorhergesehenen Deutsch - Ästerreich Die Deutschösterreicher sind keineswegs von einem unvorhergesehenen <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0521" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/239309"/> <fw type="header" place="top"> Deutsch - Ästerreich</fw><lb/> <p xml:id="ID_2488" next="#ID_2489"> Die Deutschösterreicher sind keineswegs von einem unvorhergesehenen<lb/> Mißgeschick überfallen oder von einem gänzlich unverschuldeten Unglück betroffen<lb/> worden. Ihre gegenwärtige „bedrängte und unwürdige Lage" ist vielmehr eine<lb/> notwendige Folge früherer nationaler Unterlassungssünden und mangelnden<lb/> Politischen Verständnisses. Von diesem Verschulden nahm, wenigstens soweit<lb/> die letzten drei Jahrzehnte in Betracht kommen, der ungünstige Gang der Dinge<lb/> seinen Anfang. Die Deutschösterreicher waren seit dem Beginn des konstitutio¬<lb/> nellen Lebens in Österreich zusammen mehr als ein Jahrzehnt im Vollbesitz<lb/> der Macht, sie haben dem Staate die gesetzliche innere Einrichtung selbst ge¬<lb/> geben, mit deren Hilfe sie jetzt von den Slawen fröhlich majorisiert werden,<lb/> aber sie haben dabei nie an die Zukunft ihres Volks gedacht, sondern geglaubt,<lb/> mit deu unklaren Grundsätzen des kosmopolitischen Liberalismus leicht herrschen<lb/> zu können, und sind damit überall beiseite geschoben worden, ganz so wie<lb/> einst das metternichsche Österreich im europäischen Konzert. Der politische Um¬<lb/> sturz von 1866, der sie zur Herrschaft brachte, kam freilich ihnen gänzlich un¬<lb/> erwartet und traf sie vollkommen unvorbereitet. Ihre Führer standen durchaus<lb/> auf dem Standpunkte der preußischen Fortschrittspartei, die soeben ihre ent¬<lb/> scheidende Niederlage erlebt hatte, und suchten Österreich auf solcher Grundlage<lb/> aufzubauen; dabei machte sich die Thorheit von 1848 breit, die ganze Ver¬<lb/> ranntheit und die französische Schablone liberaler Bestrebungen und Be¬<lb/> geisterungen ohne Verständnis der nationalen Aufgabe. Was noch nicht in<lb/> der Verfassung an kernlibernlen Ausdrücken von Gleichberechtigung und der¬<lb/> gleichen stand, wurde in die sogenannten „Staatsgrnndgesetze" eingefügt; es<lb/> galt nicht, dem praktischen Bedürfnis zu dienen, sondern der „Reaktion" und<lb/> dem „Klerikalismus" möglichst unangenehm zu werden. Das entsprach durchaus<lb/> dem auch unter Schmerling geltenden Gedanken, die Völker würden von selber<lb/> durch die liberale Schablone glücklich werden, auch den noch vielfach in Öster¬<lb/> reich über Gebühr gefeierten josephinischen Maximen, mit denen man ernten<lb/> wollte, wo noch nicht gesät war, säen, ohne den Boden vorher gepflügt zu<lb/> haben. Die betrübende Lehre der Geschichte, daß sich das Volk damals gegen<lb/> die ihm aufgenötigten Freiheiten, die es nicht verstand, erbittert wehrte, be¬<lb/> achtet der doktrinäre Liberalismus nicht, und so wurde bei der Abfassung der<lb/> liberalen Staatsgrundgesctze gar nicht in Betracht gezogen, daß sich der Wider¬<lb/> stand gegen diese am Ende gegen das liberale Deutschtum richten werde, dessen<lb/> Herrschaft man kurzsichtigcrweise für immer gesichert hielt, obgleich man doch<lb/> erst wenig Jahre vorher das liberale Kabinett Schmerling plötzlich wieder hatte<lb/> ^schwinden sehen. Beim Mittelschulgesctz wurden wohl einige Bestimmungen,<lb/> die dem Deutschtum günstig zu sein schienen, eingefügt, sie haben sich aber in¬<lb/> zwischen als Gegenteil von dem erwiesen. Die Fehler, die in dem folgen¬<lb/> schweren Ansglcichsjahre und bei der Abfassung der Staatsgrnndgesetze, nament¬<lb/> lich bei der überhasteten Schulgesetzgebung, begangen worden sind, wurden lange<lb/> nicht eingesehen. Es waren aber immer nur Konstruktionsfehler, die sich hätten<lb/> allsgleichen und zum Guten wenden lassen, wenn die Deutschliberalen ver¬<lb/> standen hatten, sich in der Regierung zu erhalten. Aber dazu machte sie ihr<lb/> doktrinärer Liberalismus auf die Dauer unfähig, denn er wurde durch keine</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0521]
Deutsch - Ästerreich
Die Deutschösterreicher sind keineswegs von einem unvorhergesehenen
Mißgeschick überfallen oder von einem gänzlich unverschuldeten Unglück betroffen
worden. Ihre gegenwärtige „bedrängte und unwürdige Lage" ist vielmehr eine
notwendige Folge früherer nationaler Unterlassungssünden und mangelnden
Politischen Verständnisses. Von diesem Verschulden nahm, wenigstens soweit
die letzten drei Jahrzehnte in Betracht kommen, der ungünstige Gang der Dinge
seinen Anfang. Die Deutschösterreicher waren seit dem Beginn des konstitutio¬
nellen Lebens in Österreich zusammen mehr als ein Jahrzehnt im Vollbesitz
der Macht, sie haben dem Staate die gesetzliche innere Einrichtung selbst ge¬
geben, mit deren Hilfe sie jetzt von den Slawen fröhlich majorisiert werden,
aber sie haben dabei nie an die Zukunft ihres Volks gedacht, sondern geglaubt,
mit deu unklaren Grundsätzen des kosmopolitischen Liberalismus leicht herrschen
zu können, und sind damit überall beiseite geschoben worden, ganz so wie
einst das metternichsche Österreich im europäischen Konzert. Der politische Um¬
sturz von 1866, der sie zur Herrschaft brachte, kam freilich ihnen gänzlich un¬
erwartet und traf sie vollkommen unvorbereitet. Ihre Führer standen durchaus
auf dem Standpunkte der preußischen Fortschrittspartei, die soeben ihre ent¬
scheidende Niederlage erlebt hatte, und suchten Österreich auf solcher Grundlage
aufzubauen; dabei machte sich die Thorheit von 1848 breit, die ganze Ver¬
ranntheit und die französische Schablone liberaler Bestrebungen und Be¬
geisterungen ohne Verständnis der nationalen Aufgabe. Was noch nicht in
der Verfassung an kernlibernlen Ausdrücken von Gleichberechtigung und der¬
gleichen stand, wurde in die sogenannten „Staatsgrnndgesetze" eingefügt; es
galt nicht, dem praktischen Bedürfnis zu dienen, sondern der „Reaktion" und
dem „Klerikalismus" möglichst unangenehm zu werden. Das entsprach durchaus
dem auch unter Schmerling geltenden Gedanken, die Völker würden von selber
durch die liberale Schablone glücklich werden, auch den noch vielfach in Öster¬
reich über Gebühr gefeierten josephinischen Maximen, mit denen man ernten
wollte, wo noch nicht gesät war, säen, ohne den Boden vorher gepflügt zu
haben. Die betrübende Lehre der Geschichte, daß sich das Volk damals gegen
die ihm aufgenötigten Freiheiten, die es nicht verstand, erbittert wehrte, be¬
achtet der doktrinäre Liberalismus nicht, und so wurde bei der Abfassung der
liberalen Staatsgrundgesctze gar nicht in Betracht gezogen, daß sich der Wider¬
stand gegen diese am Ende gegen das liberale Deutschtum richten werde, dessen
Herrschaft man kurzsichtigcrweise für immer gesichert hielt, obgleich man doch
erst wenig Jahre vorher das liberale Kabinett Schmerling plötzlich wieder hatte
^schwinden sehen. Beim Mittelschulgesctz wurden wohl einige Bestimmungen,
die dem Deutschtum günstig zu sein schienen, eingefügt, sie haben sich aber in¬
zwischen als Gegenteil von dem erwiesen. Die Fehler, die in dem folgen¬
schweren Ansglcichsjahre und bei der Abfassung der Staatsgrnndgesetze, nament¬
lich bei der überhasteten Schulgesetzgebung, begangen worden sind, wurden lange
nicht eingesehen. Es waren aber immer nur Konstruktionsfehler, die sich hätten
allsgleichen und zum Guten wenden lassen, wenn die Deutschliberalen ver¬
standen hatten, sich in der Regierung zu erhalten. Aber dazu machte sie ihr
doktrinärer Liberalismus auf die Dauer unfähig, denn er wurde durch keine
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