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Die Grenzboten. Jg. 61, 1902, Viertes Vierteljahr.

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Russische Kultur

dem Minister für geistliche Angelegenheiten und für Volksaufklürung auch die
Pietisten und Mystiker unterstellte und das Protektorat einer Bibelgesellschaft
annahm, wurden die Sekten hoffähig; der Kaiser besuchte sogar die der Re¬
sidenz benachbarte Skopzenansiedlung, deren eigentliches Mysterium er nicht
gekannt zu haben scheint, und die Damen am Hofe führten die heiligen Tanze
der Chlysten auf. Lange vor Tolstoi haben die Duchoborzen gelehrt, daß die
Christen keine Steuern zahlen, keiner Obrigkeit gehorchen und auch zur Ver¬
teidigung des Vaterlands nicht in den Krieg ziehn dürfen. Während das
Schisma der Altgläubigen nnr die Bauern und die Kaufleute ergriff, haben
sich an der Sektiererei Volk und Intelligenz gleichmäßig beteiligt. Doch auch
jenes, obwohl dein starrsten Bnchstnbeuglauben entsprungen, bedeutet einen
Fortschritt, weil es das Volk zur Selbständigkeit im religiösen Leben er¬
zogen hat.

Der Hierarchie steht auch der nicht schismatische Russe gleichgiltig gegen-
über. Der Pope wird nur als Schreiber geschätzt, wenn er schreiben kann:
zu ihrem Bedauern fanden die Bauern in der Zeit, wo sie noch ihren Popen
selbst wählten, nur ausnahmsweise einen schreibkundiger Mann, den sie dem
Bischof zur Weihe präsentieren konnten. (Mit diesem Zustande vergleiche man
den Englands, wo im dreizehnten Jahrhundert anch im kleinsten Dörfchen die
Gntsrechnung auf das sorgfältigste geführt wurde.) Den Diakon aber schätzte
man nur, wenn er die Gemeinde, um die Wette mit der großen Glocke, dnrch
seineu gewaltigen Baß erbauen konnte. Die Popen galten als eine -- und
zwar als die unterste -- der erblichen Rangklassen, von denen die Amtsführung
als Dienstpflicht gefordert wurde; erst das Jahr 1869 befreite die Söhne der
Kirchendiener von dem Zwange, wider ihren Willen das väterliche Gewerbe
zu betreiben. Die überzähligen Sprößlinge des Standes waren bis dahin zu
Soldaten gemacht worden, und die Flucht in den Soldatenstand war der
einzige Ausweg aus einem Elend, das manchem noch schlimmer erschien als
das Soldatenclend, da der Geistliche anch vor Prügeln nicht sicher war und,
um nur kümmerlich leben zu können, wie der ärmste Bauer ans dem Acker
arbeiten mußte. "Gelehrte," d. h. in einem geistlichen Seminar ausgebildete
Popen, giebt es seit dem achtzehnten Jahrhundert, aber erst 1814 wurde die
Vorbildung im Seminar für die Geistlichen obligatorisch gemacht. (Bis dahin
war also der russische Klerus ungefähr so beschaffen, wie der fränkische unter
Karl dem Großen.)

Was die Kirchenverfassung betrifft, so erleichterte das Schisma dem ge¬
waltthätigen Peter die gänzliche Beseitigung der Patriarchalgewalt. Anstatt
des russischen Papstes regiert seitdem der Heilige spröd oder vielmehr der
Oberproturatvr, der den Kaiser im spröd vertritt nud Staatsminister ist. Eines
obersten Glaubensrichters bedarf die russische Kirche uicht, deun es giebt für
sie keine theologischen Fragen; sie ist niemals der gemeinsamen Sünde der
protestantischen und der römischkatholischen Kirche, dem Nationalismus verfallen,
sondern hat sich immer nur die Aufgabe gestellt, deu überlieferten Buchstaben
zu bewahren. Einzelne theologische Schulen haben allerdings teils katholische,
teils protestantische Grundsätze angenommen, und die protestantische Richtung


Russische Kultur

dem Minister für geistliche Angelegenheiten und für Volksaufklürung auch die
Pietisten und Mystiker unterstellte und das Protektorat einer Bibelgesellschaft
annahm, wurden die Sekten hoffähig; der Kaiser besuchte sogar die der Re¬
sidenz benachbarte Skopzenansiedlung, deren eigentliches Mysterium er nicht
gekannt zu haben scheint, und die Damen am Hofe führten die heiligen Tanze
der Chlysten auf. Lange vor Tolstoi haben die Duchoborzen gelehrt, daß die
Christen keine Steuern zahlen, keiner Obrigkeit gehorchen und auch zur Ver¬
teidigung des Vaterlands nicht in den Krieg ziehn dürfen. Während das
Schisma der Altgläubigen nnr die Bauern und die Kaufleute ergriff, haben
sich an der Sektiererei Volk und Intelligenz gleichmäßig beteiligt. Doch auch
jenes, obwohl dein starrsten Bnchstnbeuglauben entsprungen, bedeutet einen
Fortschritt, weil es das Volk zur Selbständigkeit im religiösen Leben er¬
zogen hat.

Der Hierarchie steht auch der nicht schismatische Russe gleichgiltig gegen-
über. Der Pope wird nur als Schreiber geschätzt, wenn er schreiben kann:
zu ihrem Bedauern fanden die Bauern in der Zeit, wo sie noch ihren Popen
selbst wählten, nur ausnahmsweise einen schreibkundiger Mann, den sie dem
Bischof zur Weihe präsentieren konnten. (Mit diesem Zustande vergleiche man
den Englands, wo im dreizehnten Jahrhundert anch im kleinsten Dörfchen die
Gntsrechnung auf das sorgfältigste geführt wurde.) Den Diakon aber schätzte
man nur, wenn er die Gemeinde, um die Wette mit der großen Glocke, dnrch
seineu gewaltigen Baß erbauen konnte. Die Popen galten als eine — und
zwar als die unterste — der erblichen Rangklassen, von denen die Amtsführung
als Dienstpflicht gefordert wurde; erst das Jahr 1869 befreite die Söhne der
Kirchendiener von dem Zwange, wider ihren Willen das väterliche Gewerbe
zu betreiben. Die überzähligen Sprößlinge des Standes waren bis dahin zu
Soldaten gemacht worden, und die Flucht in den Soldatenstand war der
einzige Ausweg aus einem Elend, das manchem noch schlimmer erschien als
das Soldatenclend, da der Geistliche anch vor Prügeln nicht sicher war und,
um nur kümmerlich leben zu können, wie der ärmste Bauer ans dem Acker
arbeiten mußte. „Gelehrte," d. h. in einem geistlichen Seminar ausgebildete
Popen, giebt es seit dem achtzehnten Jahrhundert, aber erst 1814 wurde die
Vorbildung im Seminar für die Geistlichen obligatorisch gemacht. (Bis dahin
war also der russische Klerus ungefähr so beschaffen, wie der fränkische unter
Karl dem Großen.)

Was die Kirchenverfassung betrifft, so erleichterte das Schisma dem ge¬
waltthätigen Peter die gänzliche Beseitigung der Patriarchalgewalt. Anstatt
des russischen Papstes regiert seitdem der Heilige spröd oder vielmehr der
Oberproturatvr, der den Kaiser im spröd vertritt nud Staatsminister ist. Eines
obersten Glaubensrichters bedarf die russische Kirche uicht, deun es giebt für
sie keine theologischen Fragen; sie ist niemals der gemeinsamen Sünde der
protestantischen und der römischkatholischen Kirche, dem Nationalismus verfallen,
sondern hat sich immer nur die Aufgabe gestellt, deu überlieferten Buchstaben
zu bewahren. Einzelne theologische Schulen haben allerdings teils katholische,
teils protestantische Grundsätze angenommen, und die protestantische Richtung


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[0368] Russische Kultur dem Minister für geistliche Angelegenheiten und für Volksaufklürung auch die Pietisten und Mystiker unterstellte und das Protektorat einer Bibelgesellschaft annahm, wurden die Sekten hoffähig; der Kaiser besuchte sogar die der Re¬ sidenz benachbarte Skopzenansiedlung, deren eigentliches Mysterium er nicht gekannt zu haben scheint, und die Damen am Hofe führten die heiligen Tanze der Chlysten auf. Lange vor Tolstoi haben die Duchoborzen gelehrt, daß die Christen keine Steuern zahlen, keiner Obrigkeit gehorchen und auch zur Ver¬ teidigung des Vaterlands nicht in den Krieg ziehn dürfen. Während das Schisma der Altgläubigen nnr die Bauern und die Kaufleute ergriff, haben sich an der Sektiererei Volk und Intelligenz gleichmäßig beteiligt. Doch auch jenes, obwohl dein starrsten Bnchstnbeuglauben entsprungen, bedeutet einen Fortschritt, weil es das Volk zur Selbständigkeit im religiösen Leben er¬ zogen hat. Der Hierarchie steht auch der nicht schismatische Russe gleichgiltig gegen- über. Der Pope wird nur als Schreiber geschätzt, wenn er schreiben kann: zu ihrem Bedauern fanden die Bauern in der Zeit, wo sie noch ihren Popen selbst wählten, nur ausnahmsweise einen schreibkundiger Mann, den sie dem Bischof zur Weihe präsentieren konnten. (Mit diesem Zustande vergleiche man den Englands, wo im dreizehnten Jahrhundert anch im kleinsten Dörfchen die Gntsrechnung auf das sorgfältigste geführt wurde.) Den Diakon aber schätzte man nur, wenn er die Gemeinde, um die Wette mit der großen Glocke, dnrch seineu gewaltigen Baß erbauen konnte. Die Popen galten als eine — und zwar als die unterste — der erblichen Rangklassen, von denen die Amtsführung als Dienstpflicht gefordert wurde; erst das Jahr 1869 befreite die Söhne der Kirchendiener von dem Zwange, wider ihren Willen das väterliche Gewerbe zu betreiben. Die überzähligen Sprößlinge des Standes waren bis dahin zu Soldaten gemacht worden, und die Flucht in den Soldatenstand war der einzige Ausweg aus einem Elend, das manchem noch schlimmer erschien als das Soldatenclend, da der Geistliche anch vor Prügeln nicht sicher war und, um nur kümmerlich leben zu können, wie der ärmste Bauer ans dem Acker arbeiten mußte. „Gelehrte," d. h. in einem geistlichen Seminar ausgebildete Popen, giebt es seit dem achtzehnten Jahrhundert, aber erst 1814 wurde die Vorbildung im Seminar für die Geistlichen obligatorisch gemacht. (Bis dahin war also der russische Klerus ungefähr so beschaffen, wie der fränkische unter Karl dem Großen.) Was die Kirchenverfassung betrifft, so erleichterte das Schisma dem ge¬ waltthätigen Peter die gänzliche Beseitigung der Patriarchalgewalt. Anstatt des russischen Papstes regiert seitdem der Heilige spröd oder vielmehr der Oberproturatvr, der den Kaiser im spröd vertritt nud Staatsminister ist. Eines obersten Glaubensrichters bedarf die russische Kirche uicht, deun es giebt für sie keine theologischen Fragen; sie ist niemals der gemeinsamen Sünde der protestantischen und der römischkatholischen Kirche, dem Nationalismus verfallen, sondern hat sich immer nur die Aufgabe gestellt, deu überlieferten Buchstaben zu bewahren. Einzelne theologische Schulen haben allerdings teils katholische, teils protestantische Grundsätze angenommen, und die protestantische Richtung

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 61, 1902, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341875_238787/368>, abgerufen am 01.09.2024.