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Die Grenzboten. Jg. 61, 1902, Viertes Vierteljahr.

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Österreich

Wicklung der Angelegenheit ist die erfreuliche Erscheinung, daß sich in beiden
Reichshälften angesehene Stimmen dafür ausgesprochen haben, künftig müsse
der wirtschaftliche Dualismus zwischen Österreich und Ungarn zu einem
dauernden gemacht werden. Daß diese Änderung eine wirkliche "Staats¬
notwendigkeit" ist, glaube ich schon erwiesen zu haben, und es dürfte einer ge¬
schickten und energischen Regierung nicht schwer fallen, die bisher bei den
Ausgleichsberatungen gesammelten ungünstigen Erfahrungen zu benutzen, um
hüben wie drüben die auf einen dauernden Ausgleich gerichtete Strömung zu
fördern. Hierbei würde sich die Initiative und das thätige Eingreifen der
Krone empfehlen.

Dieselbe Einwirkung erweist sich ans andern Gebieten des Staatslebens
mindestens in ebenso nachdrücklicher Weise als dringend notwendig, wenngleich
der Dualismus auf Zeit das in einer verfehlten politischen Absicht und in
übereilter Weise eingeführte Hauptübel der österreichischen Monarchie ist. Aus
ihm leiten ja anch die Tschechen die Begründung ihres sogenannten Staatsrechts
her, indem sie sagen: Wenn durch die Revolution von 1848/49 das ungarische
Staatsrecht nicht verloren gegangen ist, kann auch das Recht der Wenzelskronc
durch die Schlacht am Weißen Berge nicht vernichtet worden sein. So hängt
sich immer ein nationaler Anspruch an den andern, wird zu einem ständigen
Streitpunkt in der Presse und einem gelegentlichen im Parlament, ohne jemals
zu einer Klärung zu gelangen, denn nur in zwei Punkten versteht man in
Wien keinen Spaß: wenn nämlich die Armee oder die Hoheit des Kniserhauses
angetastet wird; dann wird auch die unerschöpfliche Langmut des Kaisers
Franz Joseph zu Äußerungen und Entschlüssen veranlaßt, die an Entschiedenheit
und Klarheit nichts zu wünschen übrig lassen. Die Tschechen und auch Herr von
Szell konnten aus den letzten Jahren einiges Interessante hierüber erzählen.

Das Durcheinanderlaufen nicht nnerkcmuter nationaler Ansprüche, schiefer
Auffassungen des modernen Stnatslebens und gänzlich einseitiger Auslegung
der übrigens kaum gekannten Verfassung sind die hauptsächlichen Merkmale
des gegenwärtigen innerpolitischen Lebens in Österreich. Daß es so weit ge¬
kommen ist, war die notwendige Folge davon, daß man eben in Österreich
vier Jahrzehnte lang gar nicht regiert hat, sondern die innern politischen Er¬
eignisse sich nach einer niemals klar heraus gearbeiteten parlamentarischen
Schablone, der man gelegentlich auch einmal recht wenig Rücksicht erwies, ab¬
spielen ließ. Eine klare Verfassungspraxis hat es nie gegeben, ja man darf
behaupten, daß die Mehrzahl der Politiker, sogar der Abgeordneten und der
Minister, die Verfassung nur oberflächlich kennt, vielleicht kaum gelesen hat.
Die ganze Zeit hat in Österreich die Auffassung der hauptstädtischen Presse
über die Verfassung geherrscht, nach der sie eine parlamentarische sei, das Ab¬
geordnetenhaus also durch seine Mehrheit über den Bestand des jeweiligen
Kabinetts zu entscheiden habe. Diese Anschauung ist freilich schon längst unter
dem Ministerium Taaffe sei absurclum geführt worden, denn so oft auch damals
die Wiener Blätter nach irgend einer parlamentarischen Niederlage der Welt
verkündeten, das Ministerium sei gefallen, blieb es doch im Amte, weil es
das Vertrauen der Krone weiter hatte. Trotzdem scheint die Ansicht über den


Österreich

Wicklung der Angelegenheit ist die erfreuliche Erscheinung, daß sich in beiden
Reichshälften angesehene Stimmen dafür ausgesprochen haben, künftig müsse
der wirtschaftliche Dualismus zwischen Österreich und Ungarn zu einem
dauernden gemacht werden. Daß diese Änderung eine wirkliche „Staats¬
notwendigkeit" ist, glaube ich schon erwiesen zu haben, und es dürfte einer ge¬
schickten und energischen Regierung nicht schwer fallen, die bisher bei den
Ausgleichsberatungen gesammelten ungünstigen Erfahrungen zu benutzen, um
hüben wie drüben die auf einen dauernden Ausgleich gerichtete Strömung zu
fördern. Hierbei würde sich die Initiative und das thätige Eingreifen der
Krone empfehlen.

Dieselbe Einwirkung erweist sich ans andern Gebieten des Staatslebens
mindestens in ebenso nachdrücklicher Weise als dringend notwendig, wenngleich
der Dualismus auf Zeit das in einer verfehlten politischen Absicht und in
übereilter Weise eingeführte Hauptübel der österreichischen Monarchie ist. Aus
ihm leiten ja anch die Tschechen die Begründung ihres sogenannten Staatsrechts
her, indem sie sagen: Wenn durch die Revolution von 1848/49 das ungarische
Staatsrecht nicht verloren gegangen ist, kann auch das Recht der Wenzelskronc
durch die Schlacht am Weißen Berge nicht vernichtet worden sein. So hängt
sich immer ein nationaler Anspruch an den andern, wird zu einem ständigen
Streitpunkt in der Presse und einem gelegentlichen im Parlament, ohne jemals
zu einer Klärung zu gelangen, denn nur in zwei Punkten versteht man in
Wien keinen Spaß: wenn nämlich die Armee oder die Hoheit des Kniserhauses
angetastet wird; dann wird auch die unerschöpfliche Langmut des Kaisers
Franz Joseph zu Äußerungen und Entschlüssen veranlaßt, die an Entschiedenheit
und Klarheit nichts zu wünschen übrig lassen. Die Tschechen und auch Herr von
Szell konnten aus den letzten Jahren einiges Interessante hierüber erzählen.

Das Durcheinanderlaufen nicht nnerkcmuter nationaler Ansprüche, schiefer
Auffassungen des modernen Stnatslebens und gänzlich einseitiger Auslegung
der übrigens kaum gekannten Verfassung sind die hauptsächlichen Merkmale
des gegenwärtigen innerpolitischen Lebens in Österreich. Daß es so weit ge¬
kommen ist, war die notwendige Folge davon, daß man eben in Österreich
vier Jahrzehnte lang gar nicht regiert hat, sondern die innern politischen Er¬
eignisse sich nach einer niemals klar heraus gearbeiteten parlamentarischen
Schablone, der man gelegentlich auch einmal recht wenig Rücksicht erwies, ab¬
spielen ließ. Eine klare Verfassungspraxis hat es nie gegeben, ja man darf
behaupten, daß die Mehrzahl der Politiker, sogar der Abgeordneten und der
Minister, die Verfassung nur oberflächlich kennt, vielleicht kaum gelesen hat.
Die ganze Zeit hat in Österreich die Auffassung der hauptstädtischen Presse
über die Verfassung geherrscht, nach der sie eine parlamentarische sei, das Ab¬
geordnetenhaus also durch seine Mehrheit über den Bestand des jeweiligen
Kabinetts zu entscheiden habe. Diese Anschauung ist freilich schon längst unter
dem Ministerium Taaffe sei absurclum geführt worden, denn so oft auch damals
die Wiener Blätter nach irgend einer parlamentarischen Niederlage der Welt
verkündeten, das Ministerium sei gefallen, blieb es doch im Amte, weil es
das Vertrauen der Krone weiter hatte. Trotzdem scheint die Ansicht über den


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[0247] Österreich Wicklung der Angelegenheit ist die erfreuliche Erscheinung, daß sich in beiden Reichshälften angesehene Stimmen dafür ausgesprochen haben, künftig müsse der wirtschaftliche Dualismus zwischen Österreich und Ungarn zu einem dauernden gemacht werden. Daß diese Änderung eine wirkliche „Staats¬ notwendigkeit" ist, glaube ich schon erwiesen zu haben, und es dürfte einer ge¬ schickten und energischen Regierung nicht schwer fallen, die bisher bei den Ausgleichsberatungen gesammelten ungünstigen Erfahrungen zu benutzen, um hüben wie drüben die auf einen dauernden Ausgleich gerichtete Strömung zu fördern. Hierbei würde sich die Initiative und das thätige Eingreifen der Krone empfehlen. Dieselbe Einwirkung erweist sich ans andern Gebieten des Staatslebens mindestens in ebenso nachdrücklicher Weise als dringend notwendig, wenngleich der Dualismus auf Zeit das in einer verfehlten politischen Absicht und in übereilter Weise eingeführte Hauptübel der österreichischen Monarchie ist. Aus ihm leiten ja anch die Tschechen die Begründung ihres sogenannten Staatsrechts her, indem sie sagen: Wenn durch die Revolution von 1848/49 das ungarische Staatsrecht nicht verloren gegangen ist, kann auch das Recht der Wenzelskronc durch die Schlacht am Weißen Berge nicht vernichtet worden sein. So hängt sich immer ein nationaler Anspruch an den andern, wird zu einem ständigen Streitpunkt in der Presse und einem gelegentlichen im Parlament, ohne jemals zu einer Klärung zu gelangen, denn nur in zwei Punkten versteht man in Wien keinen Spaß: wenn nämlich die Armee oder die Hoheit des Kniserhauses angetastet wird; dann wird auch die unerschöpfliche Langmut des Kaisers Franz Joseph zu Äußerungen und Entschlüssen veranlaßt, die an Entschiedenheit und Klarheit nichts zu wünschen übrig lassen. Die Tschechen und auch Herr von Szell konnten aus den letzten Jahren einiges Interessante hierüber erzählen. Das Durcheinanderlaufen nicht nnerkcmuter nationaler Ansprüche, schiefer Auffassungen des modernen Stnatslebens und gänzlich einseitiger Auslegung der übrigens kaum gekannten Verfassung sind die hauptsächlichen Merkmale des gegenwärtigen innerpolitischen Lebens in Österreich. Daß es so weit ge¬ kommen ist, war die notwendige Folge davon, daß man eben in Österreich vier Jahrzehnte lang gar nicht regiert hat, sondern die innern politischen Er¬ eignisse sich nach einer niemals klar heraus gearbeiteten parlamentarischen Schablone, der man gelegentlich auch einmal recht wenig Rücksicht erwies, ab¬ spielen ließ. Eine klare Verfassungspraxis hat es nie gegeben, ja man darf behaupten, daß die Mehrzahl der Politiker, sogar der Abgeordneten und der Minister, die Verfassung nur oberflächlich kennt, vielleicht kaum gelesen hat. Die ganze Zeit hat in Österreich die Auffassung der hauptstädtischen Presse über die Verfassung geherrscht, nach der sie eine parlamentarische sei, das Ab¬ geordnetenhaus also durch seine Mehrheit über den Bestand des jeweiligen Kabinetts zu entscheiden habe. Diese Anschauung ist freilich schon längst unter dem Ministerium Taaffe sei absurclum geführt worden, denn so oft auch damals die Wiener Blätter nach irgend einer parlamentarischen Niederlage der Welt verkündeten, das Ministerium sei gefallen, blieb es doch im Amte, weil es das Vertrauen der Krone weiter hatte. Trotzdem scheint die Ansicht über den

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 61, 1902, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341875_238787/247>, abgerufen am 01.09.2024.