Die Grenzboten. Jg. 61, 1902, Viertes Vierteljahr.Ästerreich Zeiten" geübt, es sind kurzsichtigere Anschauungen herrschend geworden, und die Solche erbitterte Kämpfe wirtschaftlicher und politischer Natur, die bei Ästerreich Zeiten" geübt, es sind kurzsichtigere Anschauungen herrschend geworden, und die Solche erbitterte Kämpfe wirtschaftlicher und politischer Natur, die bei <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0246" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/239034"/> <fw type="header" place="top"> Ästerreich</fw><lb/> <p xml:id="ID_1190" prev="#ID_1189"> Zeiten" geübt, es sind kurzsichtigere Anschauungen herrschend geworden, und die<lb/> Anzahl der Verträge und der Gesetze mit Bestimmungen über Verlängerungs¬<lb/> und Erneneruugsfristen auf Zeit hat sich gehäuft. Diese neue politische Technik<lb/> hat aber wenig ersprießlich gewirkt. Man braucht sich z. B. nur das gänzlich<lb/> unfruchtbare Gerede ins Gedächtnis zurückzurufen, das seit Jahr und Tag von<lb/> Freund und Feind an die im Frühling erfolgte Verlängerung des Dreibundes<lb/> geknüpft worden ist. Glücklicherweise betraf diese Angelegenheit nur Abmachungen<lb/> zwischen Diplomaten ohne berufsmäßige Einmischung der Parlamentarier und<lb/> ihrer Parteipresse. Um einen solchen Fall herauszugreifen, wollen wir auf<lb/> das unglückselige deutsche Sozialistengesetz hinweisen. Anstatt seinen Zweck, die<lb/> Sozialdemokratie einzudämmen, zu erfüllen, hat es gerade durch den Umstand,<lb/> daß aller zwei bis drei Jahre ein Kampf um seine Erneuerung geführt werden<lb/> mußte, der sozialdemokratischen Fraktion ans ihrer frühern mindern Geltung zur<lb/> parlamentarischen Gleichberechtigung verholfen, und man hat es schließlich ganz<lb/> und gar fallen lassen. Um der Bevölkerung größere Aufregungsperioden zu<lb/> ersparen, hat man in Preußen und in Deutschland die Wahlperioden ver¬<lb/> längert, den letzten Handelsvertrag auf zwölf Jahre abgeschlossen. Aber man<lb/> sehe jetzt, wie vor Ablauf des Vertrags alle politischen und wirtschaftlichen<lb/> Parteien erregt, alle reinen und unreinen Interessen entfesselt sind, Autorität<lb/> und gute Sitten gemindert werden — und dabei weiß doch jeder Einsichtige<lb/> im voraus, daß man sich schließlich im großen und ganzen ungefähr auf die<lb/> Regierungsvorlage einigen wird.</p><lb/> <p xml:id="ID_1191" next="#ID_1192"> Solche erbitterte Kämpfe wirtschaftlicher und politischer Natur, die bei<lb/> der modernen Entwicklung des Parteiwesens von Fall zu Fall ungestümer<lb/> verlaufen müssen, schreibt der Dualismus nun aller zehn Jahre verfassungs¬<lb/> mäßig vor, beschwört sie über ein Reich herauf, das bei seiner völkerschaft¬<lb/> lichen Zusammensetzung und der ungenügenden Entwicklung des Gesamtgefühls<lb/> mit verdoppelter Sorgfalt vor allen erschütternden Verfassungskämpfen bewahrt<lb/> werden müßte. Diese wirtschaftliche Kündigungsklausel für jedes Jahrzehnt<lb/> war politisch nicht klug und nicht einmal nötig. Die erste Erneuerung des<lb/> sogenannten Ausgleichs ist im Jahre 1877 fast ohne Sang und Klang er¬<lb/> folgt: ein Beweis dafür, daß im großen und ganzen das Nichtige getroffen<lb/> worden war. Erst 1887 begannen ernstliche Kämpfe, denn wenn man jemand<lb/> um seine Meinung befragt, pflegt er eine zu haben, sagt schon Herbart in<lb/> seinen kleinen Schriften. Diese Kämpfe entstanden durch die Begehrlichkeit<lb/> der Magyaren und wurden infolge der Zerrüttung und der parlamentarischen<lb/> Schwäche Österreichs zu ihren Gunsten entschieden; sie erneuerten sich 1897<lb/> in erhöhtem Maße und haben den ganzen heutigen Wirrwarr angerichtet. Er<lb/> wird diesesmal aus naheliegenden Gründen noch einen einigenden Abschluß<lb/> finden, und gerade die trockne Offenheit, mit der man einander von beiden<lb/> Seiten deutlich ins Gesicht gesagt hat, man werde sich im Falle der Trennung<lb/> des einheitlichen Zollgebietes auch ohne die andre Reichshülfte zu helfen wissen,<lb/> wird diesen Ausgang fördern. Es wird eine Einigung über Ausgleich und<lb/> Zolltarif erfolgen, denn man ist auf keiner Seite ernstlich bereit, den Sprung<lb/> ins Ungewisse zu thun. Das bedeutsamste aber bei der diesmaligen Ent-</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0246]
Ästerreich
Zeiten" geübt, es sind kurzsichtigere Anschauungen herrschend geworden, und die
Anzahl der Verträge und der Gesetze mit Bestimmungen über Verlängerungs¬
und Erneneruugsfristen auf Zeit hat sich gehäuft. Diese neue politische Technik
hat aber wenig ersprießlich gewirkt. Man braucht sich z. B. nur das gänzlich
unfruchtbare Gerede ins Gedächtnis zurückzurufen, das seit Jahr und Tag von
Freund und Feind an die im Frühling erfolgte Verlängerung des Dreibundes
geknüpft worden ist. Glücklicherweise betraf diese Angelegenheit nur Abmachungen
zwischen Diplomaten ohne berufsmäßige Einmischung der Parlamentarier und
ihrer Parteipresse. Um einen solchen Fall herauszugreifen, wollen wir auf
das unglückselige deutsche Sozialistengesetz hinweisen. Anstatt seinen Zweck, die
Sozialdemokratie einzudämmen, zu erfüllen, hat es gerade durch den Umstand,
daß aller zwei bis drei Jahre ein Kampf um seine Erneuerung geführt werden
mußte, der sozialdemokratischen Fraktion ans ihrer frühern mindern Geltung zur
parlamentarischen Gleichberechtigung verholfen, und man hat es schließlich ganz
und gar fallen lassen. Um der Bevölkerung größere Aufregungsperioden zu
ersparen, hat man in Preußen und in Deutschland die Wahlperioden ver¬
längert, den letzten Handelsvertrag auf zwölf Jahre abgeschlossen. Aber man
sehe jetzt, wie vor Ablauf des Vertrags alle politischen und wirtschaftlichen
Parteien erregt, alle reinen und unreinen Interessen entfesselt sind, Autorität
und gute Sitten gemindert werden — und dabei weiß doch jeder Einsichtige
im voraus, daß man sich schließlich im großen und ganzen ungefähr auf die
Regierungsvorlage einigen wird.
Solche erbitterte Kämpfe wirtschaftlicher und politischer Natur, die bei
der modernen Entwicklung des Parteiwesens von Fall zu Fall ungestümer
verlaufen müssen, schreibt der Dualismus nun aller zehn Jahre verfassungs¬
mäßig vor, beschwört sie über ein Reich herauf, das bei seiner völkerschaft¬
lichen Zusammensetzung und der ungenügenden Entwicklung des Gesamtgefühls
mit verdoppelter Sorgfalt vor allen erschütternden Verfassungskämpfen bewahrt
werden müßte. Diese wirtschaftliche Kündigungsklausel für jedes Jahrzehnt
war politisch nicht klug und nicht einmal nötig. Die erste Erneuerung des
sogenannten Ausgleichs ist im Jahre 1877 fast ohne Sang und Klang er¬
folgt: ein Beweis dafür, daß im großen und ganzen das Nichtige getroffen
worden war. Erst 1887 begannen ernstliche Kämpfe, denn wenn man jemand
um seine Meinung befragt, pflegt er eine zu haben, sagt schon Herbart in
seinen kleinen Schriften. Diese Kämpfe entstanden durch die Begehrlichkeit
der Magyaren und wurden infolge der Zerrüttung und der parlamentarischen
Schwäche Österreichs zu ihren Gunsten entschieden; sie erneuerten sich 1897
in erhöhtem Maße und haben den ganzen heutigen Wirrwarr angerichtet. Er
wird diesesmal aus naheliegenden Gründen noch einen einigenden Abschluß
finden, und gerade die trockne Offenheit, mit der man einander von beiden
Seiten deutlich ins Gesicht gesagt hat, man werde sich im Falle der Trennung
des einheitlichen Zollgebietes auch ohne die andre Reichshülfte zu helfen wissen,
wird diesen Ausgang fördern. Es wird eine Einigung über Ausgleich und
Zolltarif erfolgen, denn man ist auf keiner Seite ernstlich bereit, den Sprung
ins Ungewisse zu thun. Das bedeutsamste aber bei der diesmaligen Ent-
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