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Die Grenzboten. Jg. 61, 1902, Zweites Vierteljahr.

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Ein sächsisches Gymnasium vor vierzig Jahren

des unverhofften Genusses eines schulfreien Nachmittags, den uns so manche Leichen¬
predigt verschaffte.

Enger mit dem Wesen der Schule verbunden, aber doch aus ihrer Umgebung,
nicht aus ihr selbst erwachsen waren die sechs sogenannten "Orationcu," Gedächt¬
nisreden auf verstorbne Wohlthäter des Gymnasiums. Diese meist aus dem sieb¬
zehnten und achtzehnten Jahrhundert herrührenden Stiftungen waren zugleich als
eine Art Benefizium für die ursprünglich so karg besoldeten obern Lehrer gedacht,
verpflichteten diese aber auch, einen wissenschaftlichen Gegenstand in einer Rede zu
behandeln und dazu durch eine kleine Schrift einzuladen, beides meist in lateinischer
Sprache. Die jüngste Stiftung von 1854 verband damit Geldprämien für zwei
Schüler der zwei obersten Klasse". Zu diesen "Orationen," die an einem Nach¬
mittage im Zimmer der Prima als dem L.uäitorinm maximum stattfanden, erschienen
außer den Lehrern einige Mitglieder des Stadtrats, der Geistlichkeit und königlicher
Behörden, dazu die Schüler der drei obern Klassen. Die Zumutung an die Arbeits¬
kraft der Redner war nicht gering, denn die Einnahmen, die ihnen dabei zuflössen,
reichten allmählich kaum hiu, auch nur die Druckkosten der Einladungsschristen zu
decken, und die wissenschaftliche Arbeitsleistung zersplitterte sich in lauter Einzelheiten,
die doch nur ein sehr kleines Publikum fanden. Aus allen diesen Gründen sind
diese Veranstaltungen längst wesentlich beschränkt worden.

An größern Festlichkeiten beging die Schule regelmäßig nur eine, den Geburts¬
tag des Königs (Johann) am 12. Dezember. Der Redenktus, bei dem auch ältere
Schüler regelmäßig mit Reden auftraten, fand in Ermanglung einer Anta im
großen Saale der "Sozietät," der ersten Gesellschaft, statt, dort am Abend auch der
Schulball, für uns der Höhepunkt des Winters, und auch für die junge Damen¬
welt der Stadt die am höchsten geschätzte Veranstaltung der Saison. Zuweilen
verband sich damit für die mittlern und die untern Klassen auch ein Maskenfest. Aber
statt eines feierlichen Soupers mit drei Gängen und vier Toasten gab es in der
Pause nur Thee und Kuchen, den am Nachmittag zuvor die Damen des Kollegiums
in der Rektorwohnung eigenhändig geschnitten hatten und am Abend selbst ans¬
tellten, und beim Kotillon gab es nur Orden und Sträußchen, aber anmutige
Touren, die bei unsern großstädtischen Massenbällen ganz unmöglich sind.

Einen deutsch-nationalen Festtag hatten wir nicht, denn wir waren noch keine
Nation, und nnr in dämmernder Ferne wagten damals kühne Gemüter einen Kaiser
und ein Reich zu sehen. Das erschien obendrein leicht als ein Mangel an sächsischem
Patriotismus. Und doch sehnten sich die Regsamern unter uns so schmerzlich nach
nationaler Einheit und Größe. Nicht umsonst war mein Vater 1849 Mitglied des
Frankfurter Parlaments und dann der zweiten sächsischen Kammer gewesen, derselben,
die das Ministerium Beust am 1. Juni 1850 auflöste, weil sie um engern Bündnis mit
Preußen, an der "Union," festhalten wollte, und seine gelegentlichen Erzählungen
davon machten tiefen Eindruck auf mich. Zeitungen habe ich auch später nicht gelesen;
aber beim Abendessen pflegte mein Vater in bewegten Zeiten über die Ereignisse
zu berichten, sodaß ich bei meinen Kameraden als Autorität darin galt. So folgten
wir den Zeitereignissen, soweit wir sie verstehn konnten, mit gespannter Teilnahme:
dem Krimkriege, bei dem wir uns, ohne recht zu wissen warum, als Russen und
Türken mit Fäusten und Schneebällen und Bleisoldaten bekämpften, und noch viel
mehr dem italienischen Kriege von 1859, bei dem wir die österreichischen Nieder¬
lagen als Niederlagen der nationalen Sache gegen Frankreich schmerzlich beklagten-
Denn in Frankreich sahen wir allerdings den "Erbfeind," nur daß mit dieser Auf¬
fassung der spezifisch sächsische Standpunkt zuweilen in Widerspruch geriet. Denn
wir waren doch schließlich gute Sachsen, und wir haben im September 1861 den
König Johann und sein Haus mit einem glänzenden Fackelzuge begrüßt und sind tage¬
lang den großen Manövern nachgelaufen, die uns lebendige Bilder einer Schlacht
entrollten. Es war wie eine Vorahnung der nächsten Zukunft; keine fünf Jahre
später zogen die endlosen Heersäulen der Preußen dieselben Straßen nach Böhmen.


Ein sächsisches Gymnasium vor vierzig Jahren

des unverhofften Genusses eines schulfreien Nachmittags, den uns so manche Leichen¬
predigt verschaffte.

Enger mit dem Wesen der Schule verbunden, aber doch aus ihrer Umgebung,
nicht aus ihr selbst erwachsen waren die sechs sogenannten „Orationcu," Gedächt¬
nisreden auf verstorbne Wohlthäter des Gymnasiums. Diese meist aus dem sieb¬
zehnten und achtzehnten Jahrhundert herrührenden Stiftungen waren zugleich als
eine Art Benefizium für die ursprünglich so karg besoldeten obern Lehrer gedacht,
verpflichteten diese aber auch, einen wissenschaftlichen Gegenstand in einer Rede zu
behandeln und dazu durch eine kleine Schrift einzuladen, beides meist in lateinischer
Sprache. Die jüngste Stiftung von 1854 verband damit Geldprämien für zwei
Schüler der zwei obersten Klasse«. Zu diesen „Orationen," die an einem Nach¬
mittage im Zimmer der Prima als dem L.uäitorinm maximum stattfanden, erschienen
außer den Lehrern einige Mitglieder des Stadtrats, der Geistlichkeit und königlicher
Behörden, dazu die Schüler der drei obern Klassen. Die Zumutung an die Arbeits¬
kraft der Redner war nicht gering, denn die Einnahmen, die ihnen dabei zuflössen,
reichten allmählich kaum hiu, auch nur die Druckkosten der Einladungsschristen zu
decken, und die wissenschaftliche Arbeitsleistung zersplitterte sich in lauter Einzelheiten,
die doch nur ein sehr kleines Publikum fanden. Aus allen diesen Gründen sind
diese Veranstaltungen längst wesentlich beschränkt worden.

An größern Festlichkeiten beging die Schule regelmäßig nur eine, den Geburts¬
tag des Königs (Johann) am 12. Dezember. Der Redenktus, bei dem auch ältere
Schüler regelmäßig mit Reden auftraten, fand in Ermanglung einer Anta im
großen Saale der „Sozietät," der ersten Gesellschaft, statt, dort am Abend auch der
Schulball, für uns der Höhepunkt des Winters, und auch für die junge Damen¬
welt der Stadt die am höchsten geschätzte Veranstaltung der Saison. Zuweilen
verband sich damit für die mittlern und die untern Klassen auch ein Maskenfest. Aber
statt eines feierlichen Soupers mit drei Gängen und vier Toasten gab es in der
Pause nur Thee und Kuchen, den am Nachmittag zuvor die Damen des Kollegiums
in der Rektorwohnung eigenhändig geschnitten hatten und am Abend selbst ans¬
tellten, und beim Kotillon gab es nur Orden und Sträußchen, aber anmutige
Touren, die bei unsern großstädtischen Massenbällen ganz unmöglich sind.

Einen deutsch-nationalen Festtag hatten wir nicht, denn wir waren noch keine
Nation, und nnr in dämmernder Ferne wagten damals kühne Gemüter einen Kaiser
und ein Reich zu sehen. Das erschien obendrein leicht als ein Mangel an sächsischem
Patriotismus. Und doch sehnten sich die Regsamern unter uns so schmerzlich nach
nationaler Einheit und Größe. Nicht umsonst war mein Vater 1849 Mitglied des
Frankfurter Parlaments und dann der zweiten sächsischen Kammer gewesen, derselben,
die das Ministerium Beust am 1. Juni 1850 auflöste, weil sie um engern Bündnis mit
Preußen, an der „Union," festhalten wollte, und seine gelegentlichen Erzählungen
davon machten tiefen Eindruck auf mich. Zeitungen habe ich auch später nicht gelesen;
aber beim Abendessen pflegte mein Vater in bewegten Zeiten über die Ereignisse
zu berichten, sodaß ich bei meinen Kameraden als Autorität darin galt. So folgten
wir den Zeitereignissen, soweit wir sie verstehn konnten, mit gespannter Teilnahme:
dem Krimkriege, bei dem wir uns, ohne recht zu wissen warum, als Russen und
Türken mit Fäusten und Schneebällen und Bleisoldaten bekämpften, und noch viel
mehr dem italienischen Kriege von 1859, bei dem wir die österreichischen Nieder¬
lagen als Niederlagen der nationalen Sache gegen Frankreich schmerzlich beklagten-
Denn in Frankreich sahen wir allerdings den „Erbfeind," nur daß mit dieser Auf¬
fassung der spezifisch sächsische Standpunkt zuweilen in Widerspruch geriet. Denn
wir waren doch schließlich gute Sachsen, und wir haben im September 1861 den
König Johann und sein Haus mit einem glänzenden Fackelzuge begrüßt und sind tage¬
lang den großen Manövern nachgelaufen, die uns lebendige Bilder einer Schlacht
entrollten. Es war wie eine Vorahnung der nächsten Zukunft; keine fünf Jahre
später zogen die endlosen Heersäulen der Preußen dieselben Straßen nach Böhmen.


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[0672] Ein sächsisches Gymnasium vor vierzig Jahren des unverhofften Genusses eines schulfreien Nachmittags, den uns so manche Leichen¬ predigt verschaffte. Enger mit dem Wesen der Schule verbunden, aber doch aus ihrer Umgebung, nicht aus ihr selbst erwachsen waren die sechs sogenannten „Orationcu," Gedächt¬ nisreden auf verstorbne Wohlthäter des Gymnasiums. Diese meist aus dem sieb¬ zehnten und achtzehnten Jahrhundert herrührenden Stiftungen waren zugleich als eine Art Benefizium für die ursprünglich so karg besoldeten obern Lehrer gedacht, verpflichteten diese aber auch, einen wissenschaftlichen Gegenstand in einer Rede zu behandeln und dazu durch eine kleine Schrift einzuladen, beides meist in lateinischer Sprache. Die jüngste Stiftung von 1854 verband damit Geldprämien für zwei Schüler der zwei obersten Klasse«. Zu diesen „Orationen," die an einem Nach¬ mittage im Zimmer der Prima als dem L.uäitorinm maximum stattfanden, erschienen außer den Lehrern einige Mitglieder des Stadtrats, der Geistlichkeit und königlicher Behörden, dazu die Schüler der drei obern Klassen. Die Zumutung an die Arbeits¬ kraft der Redner war nicht gering, denn die Einnahmen, die ihnen dabei zuflössen, reichten allmählich kaum hiu, auch nur die Druckkosten der Einladungsschristen zu decken, und die wissenschaftliche Arbeitsleistung zersplitterte sich in lauter Einzelheiten, die doch nur ein sehr kleines Publikum fanden. Aus allen diesen Gründen sind diese Veranstaltungen längst wesentlich beschränkt worden. An größern Festlichkeiten beging die Schule regelmäßig nur eine, den Geburts¬ tag des Königs (Johann) am 12. Dezember. Der Redenktus, bei dem auch ältere Schüler regelmäßig mit Reden auftraten, fand in Ermanglung einer Anta im großen Saale der „Sozietät," der ersten Gesellschaft, statt, dort am Abend auch der Schulball, für uns der Höhepunkt des Winters, und auch für die junge Damen¬ welt der Stadt die am höchsten geschätzte Veranstaltung der Saison. Zuweilen verband sich damit für die mittlern und die untern Klassen auch ein Maskenfest. Aber statt eines feierlichen Soupers mit drei Gängen und vier Toasten gab es in der Pause nur Thee und Kuchen, den am Nachmittag zuvor die Damen des Kollegiums in der Rektorwohnung eigenhändig geschnitten hatten und am Abend selbst ans¬ tellten, und beim Kotillon gab es nur Orden und Sträußchen, aber anmutige Touren, die bei unsern großstädtischen Massenbällen ganz unmöglich sind. Einen deutsch-nationalen Festtag hatten wir nicht, denn wir waren noch keine Nation, und nnr in dämmernder Ferne wagten damals kühne Gemüter einen Kaiser und ein Reich zu sehen. Das erschien obendrein leicht als ein Mangel an sächsischem Patriotismus. Und doch sehnten sich die Regsamern unter uns so schmerzlich nach nationaler Einheit und Größe. Nicht umsonst war mein Vater 1849 Mitglied des Frankfurter Parlaments und dann der zweiten sächsischen Kammer gewesen, derselben, die das Ministerium Beust am 1. Juni 1850 auflöste, weil sie um engern Bündnis mit Preußen, an der „Union," festhalten wollte, und seine gelegentlichen Erzählungen davon machten tiefen Eindruck auf mich. Zeitungen habe ich auch später nicht gelesen; aber beim Abendessen pflegte mein Vater in bewegten Zeiten über die Ereignisse zu berichten, sodaß ich bei meinen Kameraden als Autorität darin galt. So folgten wir den Zeitereignissen, soweit wir sie verstehn konnten, mit gespannter Teilnahme: dem Krimkriege, bei dem wir uns, ohne recht zu wissen warum, als Russen und Türken mit Fäusten und Schneebällen und Bleisoldaten bekämpften, und noch viel mehr dem italienischen Kriege von 1859, bei dem wir die österreichischen Nieder¬ lagen als Niederlagen der nationalen Sache gegen Frankreich schmerzlich beklagten- Denn in Frankreich sahen wir allerdings den „Erbfeind," nur daß mit dieser Auf¬ fassung der spezifisch sächsische Standpunkt zuweilen in Widerspruch geriet. Denn wir waren doch schließlich gute Sachsen, und wir haben im September 1861 den König Johann und sein Haus mit einem glänzenden Fackelzuge begrüßt und sind tage¬ lang den großen Manövern nachgelaufen, die uns lebendige Bilder einer Schlacht entrollten. Es war wie eine Vorahnung der nächsten Zukunft; keine fünf Jahre später zogen die endlosen Heersäulen der Preußen dieselben Straßen nach Böhmen.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 61, 1902, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341875_237285/672>, abgerufen am 26.06.2024.