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Die Grenzboten. Jg. 61, 1902, Zweites Vierteljahr.

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Gin sächsisches Gymnasium vor vierzig Jahren

basis, die vier letzten Bücher Herodots, die Antigone und fast die ganze Odyssee,
die mich immer mehr angezogen hat als die Ilias, privatim gelesen. Was gedächt¬
nismäßig einzuprägen war, vor allem also die Formenlehre, das wurde damals nicht
weniger "gepaukt" als heute, in Sexta anfangs noch mit Hilfe des Rohrstocks; die
unerbittliche Strenge, mit der in Tertia unser Subrektor die unregelmäßigen grie¬
chischen Verba einübte, war musterhaft, und uoch heute rollt es bei mir, wenn ich
<5^cLc-), <5()c^ höre oder lese, unwillkürlich weiter: K<^"x", o?rc^?r", öl/)o^"t, e,'6ol^.

Was die schriftliche" Übungen betrifft, so ist ja das griechische Spezimen in
Prima erst 1890 gefallen; wir haben es also bis zur Reifeprüfung geübt, zuweilen
auch aus dem Lateinischen ins Griechische übersetzt. Sehr ausgedehnt waren die
lateinischen Schreib- und Sprechübungen. In Prima wurde meist lateinisch inter¬
pretiert, ob immer zum Vorteil des Verständnisses, bleibe dahingestellt, und der
lateinische Aufsatz war die Krone, die vornehmste Zielleistung des Gymnasiums.
Allerdings bewegten sich die Themen vernünftigerweise innerhalb des antiken Ge¬
dankenkreises, aber es wurde dabei doch zuweilen auch eine selbständigere sachliche
Beschäftigung mit einem bestimmten Stoffe verlangt, wie ich einmal, soviel ich mich
entsinne, ganz quellcumäßig, alö Moronis itinors ^ebaieo geschrieben habe. Den
Bessern unter uns fiel das gar nicht schwer, denn wir hörten und sprachen auch
immer viel Latein und hatten in Prima jeden Sonnabend eine Stunde lang eine
lateinische Disputation. Es war wie ein Bild aus alter Zeit. Am Freitag vorher
erhielt der Defensor vom Lehrer einen kurzen Satz; für diesen hatte er sofort
schriftlich die kurze Begründung mit Ober- und Untersatz auszuarbeiten und dann seinen
drei Opponenten zu übergeben. Am Sonnabend nahm er ans dem untern Katheder
Platz, auf dem obern thronte der Lehrer, leitend, einhelfend, schließlich urteilend.
Es gab unter uns natürlich auch schwerfällige Leute, die ihren Angriff immer wieder
mit vixisti und folgendem ^.co. o. int. eröffneten, und wenn sie in die Enge ge¬
trieben wurden, nichts Weiler mehr zu sagen wußten als voneocio, bis sie endlich
ganz verstummten. Aber es gab auch solche, denen das Latein wie Wasser vom
Munde floß, und die sich mit großer Gewandtheit jeder Schlinge zu entziehn und
solche zu legen verstanden. Dabei wurde die ganze Disputation auch noch lateinisch
protokolliert.

Das alles war natürlich nur deshalb möglich, weil wir allmählich durch Beobach¬
tung und Übung nicht uur Gewandtheit und ein gewisses Sprachgefühl erwarben,
sondern auch, weil wir ziemlich unbefangen drauflos sprachen und schrieben, ohne
uns drum zu kümmern, ob die oder jene Wendung "klassisch" war oder nicht, wenn
wir uns nur vor grammatischen Schnitzern hüteten. Denn wenn man die lateinische
Sprache nicht nach Humanistenweise sozusagen als eine lebende behandelt, kann man
sie auch nicht schreiben und sprechen. Uns gab das die Freude nicht nur des Wissens,
soudern auch des Könnens, von der heute so wenig mehr übrig ist wie von der
althumanistischen Unbefangenheit und Gewandtheit im praktischen Gebrauch der an¬
tiken Sprache. Wenig Frende hatten wir dagegen an den lateinischen Versübungen,
die nicht nur wie jetzt in Tertia, sondern bis Prima einstündig betrieben wurden,
obgleich der Lehrer selbst ein gewandter Versifex und ein tüchtiger Kenner der
Prosodie war. Diese Stunde lag zuweilen noch dazu nachmittags um ein Uhr -- im
Sommer ein schrecklicher Gedanke --, und ehrlich gestanden gaben sich nur wenig
von uns Mühe.

Alles in allem war also das alte Gymnasium meiner Jugendzeit in der
Heranbildung für den praktischen Gebrauch des Lateinischen dem heutigen überlegen,
das heutige in der grammatischen Durchbildung und in der Interpretation. Jenes
hatte noch viel von der Grundlage der alten Lateinschule und der Zeit des Neu¬
humanismus bewahrt, dieses behandelt die alten Sprachen vor allem als Mittel
zum Verständnis der Schriftsteller, das Lateinische daneben als Mittel zur allge¬
meinen grammatischen Schulung.

Von unserm Französisch ist nicht viel Rühmliches zu melden. Da es wirkliche


Gin sächsisches Gymnasium vor vierzig Jahren

basis, die vier letzten Bücher Herodots, die Antigone und fast die ganze Odyssee,
die mich immer mehr angezogen hat als die Ilias, privatim gelesen. Was gedächt¬
nismäßig einzuprägen war, vor allem also die Formenlehre, das wurde damals nicht
weniger „gepaukt" als heute, in Sexta anfangs noch mit Hilfe des Rohrstocks; die
unerbittliche Strenge, mit der in Tertia unser Subrektor die unregelmäßigen grie¬
chischen Verba einübte, war musterhaft, und uoch heute rollt es bei mir, wenn ich
<5^cLc-), <5()c^ höre oder lese, unwillkürlich weiter: K<^«x«, o?rc^?r«, öl/)o^«t, e,'6ol^.

Was die schriftliche» Übungen betrifft, so ist ja das griechische Spezimen in
Prima erst 1890 gefallen; wir haben es also bis zur Reifeprüfung geübt, zuweilen
auch aus dem Lateinischen ins Griechische übersetzt. Sehr ausgedehnt waren die
lateinischen Schreib- und Sprechübungen. In Prima wurde meist lateinisch inter¬
pretiert, ob immer zum Vorteil des Verständnisses, bleibe dahingestellt, und der
lateinische Aufsatz war die Krone, die vornehmste Zielleistung des Gymnasiums.
Allerdings bewegten sich die Themen vernünftigerweise innerhalb des antiken Ge¬
dankenkreises, aber es wurde dabei doch zuweilen auch eine selbständigere sachliche
Beschäftigung mit einem bestimmten Stoffe verlangt, wie ich einmal, soviel ich mich
entsinne, ganz quellcumäßig, alö Moronis itinors ^ebaieo geschrieben habe. Den
Bessern unter uns fiel das gar nicht schwer, denn wir hörten und sprachen auch
immer viel Latein und hatten in Prima jeden Sonnabend eine Stunde lang eine
lateinische Disputation. Es war wie ein Bild aus alter Zeit. Am Freitag vorher
erhielt der Defensor vom Lehrer einen kurzen Satz; für diesen hatte er sofort
schriftlich die kurze Begründung mit Ober- und Untersatz auszuarbeiten und dann seinen
drei Opponenten zu übergeben. Am Sonnabend nahm er ans dem untern Katheder
Platz, auf dem obern thronte der Lehrer, leitend, einhelfend, schließlich urteilend.
Es gab unter uns natürlich auch schwerfällige Leute, die ihren Angriff immer wieder
mit vixisti und folgendem ^.co. o. int. eröffneten, und wenn sie in die Enge ge¬
trieben wurden, nichts Weiler mehr zu sagen wußten als voneocio, bis sie endlich
ganz verstummten. Aber es gab auch solche, denen das Latein wie Wasser vom
Munde floß, und die sich mit großer Gewandtheit jeder Schlinge zu entziehn und
solche zu legen verstanden. Dabei wurde die ganze Disputation auch noch lateinisch
protokolliert.

Das alles war natürlich nur deshalb möglich, weil wir allmählich durch Beobach¬
tung und Übung nicht uur Gewandtheit und ein gewisses Sprachgefühl erwarben,
sondern auch, weil wir ziemlich unbefangen drauflos sprachen und schrieben, ohne
uns drum zu kümmern, ob die oder jene Wendung „klassisch" war oder nicht, wenn
wir uns nur vor grammatischen Schnitzern hüteten. Denn wenn man die lateinische
Sprache nicht nach Humanistenweise sozusagen als eine lebende behandelt, kann man
sie auch nicht schreiben und sprechen. Uns gab das die Freude nicht nur des Wissens,
soudern auch des Könnens, von der heute so wenig mehr übrig ist wie von der
althumanistischen Unbefangenheit und Gewandtheit im praktischen Gebrauch der an¬
tiken Sprache. Wenig Frende hatten wir dagegen an den lateinischen Versübungen,
die nicht nur wie jetzt in Tertia, sondern bis Prima einstündig betrieben wurden,
obgleich der Lehrer selbst ein gewandter Versifex und ein tüchtiger Kenner der
Prosodie war. Diese Stunde lag zuweilen noch dazu nachmittags um ein Uhr — im
Sommer ein schrecklicher Gedanke —, und ehrlich gestanden gaben sich nur wenig
von uns Mühe.

Alles in allem war also das alte Gymnasium meiner Jugendzeit in der
Heranbildung für den praktischen Gebrauch des Lateinischen dem heutigen überlegen,
das heutige in der grammatischen Durchbildung und in der Interpretation. Jenes
hatte noch viel von der Grundlage der alten Lateinschule und der Zeit des Neu¬
humanismus bewahrt, dieses behandelt die alten Sprachen vor allem als Mittel
zum Verständnis der Schriftsteller, das Lateinische daneben als Mittel zur allge¬
meinen grammatischen Schulung.

Von unserm Französisch ist nicht viel Rühmliches zu melden. Da es wirkliche


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[0668] Gin sächsisches Gymnasium vor vierzig Jahren basis, die vier letzten Bücher Herodots, die Antigone und fast die ganze Odyssee, die mich immer mehr angezogen hat als die Ilias, privatim gelesen. Was gedächt¬ nismäßig einzuprägen war, vor allem also die Formenlehre, das wurde damals nicht weniger „gepaukt" als heute, in Sexta anfangs noch mit Hilfe des Rohrstocks; die unerbittliche Strenge, mit der in Tertia unser Subrektor die unregelmäßigen grie¬ chischen Verba einübte, war musterhaft, und uoch heute rollt es bei mir, wenn ich <5^cLc-), <5()c^ höre oder lese, unwillkürlich weiter: K<^«x«, o?rc^?r«, öl/)o^«t, e,'6ol^. Was die schriftliche» Übungen betrifft, so ist ja das griechische Spezimen in Prima erst 1890 gefallen; wir haben es also bis zur Reifeprüfung geübt, zuweilen auch aus dem Lateinischen ins Griechische übersetzt. Sehr ausgedehnt waren die lateinischen Schreib- und Sprechübungen. In Prima wurde meist lateinisch inter¬ pretiert, ob immer zum Vorteil des Verständnisses, bleibe dahingestellt, und der lateinische Aufsatz war die Krone, die vornehmste Zielleistung des Gymnasiums. Allerdings bewegten sich die Themen vernünftigerweise innerhalb des antiken Ge¬ dankenkreises, aber es wurde dabei doch zuweilen auch eine selbständigere sachliche Beschäftigung mit einem bestimmten Stoffe verlangt, wie ich einmal, soviel ich mich entsinne, ganz quellcumäßig, alö Moronis itinors ^ebaieo geschrieben habe. Den Bessern unter uns fiel das gar nicht schwer, denn wir hörten und sprachen auch immer viel Latein und hatten in Prima jeden Sonnabend eine Stunde lang eine lateinische Disputation. Es war wie ein Bild aus alter Zeit. Am Freitag vorher erhielt der Defensor vom Lehrer einen kurzen Satz; für diesen hatte er sofort schriftlich die kurze Begründung mit Ober- und Untersatz auszuarbeiten und dann seinen drei Opponenten zu übergeben. Am Sonnabend nahm er ans dem untern Katheder Platz, auf dem obern thronte der Lehrer, leitend, einhelfend, schließlich urteilend. Es gab unter uns natürlich auch schwerfällige Leute, die ihren Angriff immer wieder mit vixisti und folgendem ^.co. o. int. eröffneten, und wenn sie in die Enge ge¬ trieben wurden, nichts Weiler mehr zu sagen wußten als voneocio, bis sie endlich ganz verstummten. Aber es gab auch solche, denen das Latein wie Wasser vom Munde floß, und die sich mit großer Gewandtheit jeder Schlinge zu entziehn und solche zu legen verstanden. Dabei wurde die ganze Disputation auch noch lateinisch protokolliert. Das alles war natürlich nur deshalb möglich, weil wir allmählich durch Beobach¬ tung und Übung nicht uur Gewandtheit und ein gewisses Sprachgefühl erwarben, sondern auch, weil wir ziemlich unbefangen drauflos sprachen und schrieben, ohne uns drum zu kümmern, ob die oder jene Wendung „klassisch" war oder nicht, wenn wir uns nur vor grammatischen Schnitzern hüteten. Denn wenn man die lateinische Sprache nicht nach Humanistenweise sozusagen als eine lebende behandelt, kann man sie auch nicht schreiben und sprechen. Uns gab das die Freude nicht nur des Wissens, soudern auch des Könnens, von der heute so wenig mehr übrig ist wie von der althumanistischen Unbefangenheit und Gewandtheit im praktischen Gebrauch der an¬ tiken Sprache. Wenig Frende hatten wir dagegen an den lateinischen Versübungen, die nicht nur wie jetzt in Tertia, sondern bis Prima einstündig betrieben wurden, obgleich der Lehrer selbst ein gewandter Versifex und ein tüchtiger Kenner der Prosodie war. Diese Stunde lag zuweilen noch dazu nachmittags um ein Uhr — im Sommer ein schrecklicher Gedanke —, und ehrlich gestanden gaben sich nur wenig von uns Mühe. Alles in allem war also das alte Gymnasium meiner Jugendzeit in der Heranbildung für den praktischen Gebrauch des Lateinischen dem heutigen überlegen, das heutige in der grammatischen Durchbildung und in der Interpretation. Jenes hatte noch viel von der Grundlage der alten Lateinschule und der Zeit des Neu¬ humanismus bewahrt, dieses behandelt die alten Sprachen vor allem als Mittel zum Verständnis der Schriftsteller, das Lateinische daneben als Mittel zur allge¬ meinen grammatischen Schulung. Von unserm Französisch ist nicht viel Rühmliches zu melden. Da es wirkliche

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 61, 1902, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341875_237285/668>, abgerufen am 26.06.2024.