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Die Grenzboten. Jg. 61, 1902, Zweites Vierteljahr.

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Lin sächsisches Gymnasium vor vierzig Jahren

schon in Quinta, statt wie seit 1882 in Quarta, das Griechische in Quarta statt
in Untertertia, und das Englische fehlte im Gymnasium auch als wahlfreies Fach ganz.
Auch in der Lektüre war bei den klassischen Sprachen der Unterschied im Vergleich
mit der Gegenwart nicht groß. Im Lateinischen war z. B. neben dem Cornelius
Nepos in Quarta die Ciceronische Chrestomathie von Friedemann im Gebrauch, die
nach meiner Erinnerung für die Schüler zu schwer war und ihnen deshalb wenig
Freude machte, für das Griechische in der zweiten Abteilung der Tertia das treff¬
liche Lesebuch von Jacobs; später wurde in Sekunda Plutnrch gelesen, der jetzt aus
der regelmäßigen Klnssenlektüre leider ganz verschwunden ist, während ich mich nicht
entsinnen kann, mich jemals mit Lysicis beschäftigt zu haben. Daß die Erklärung
im ganzen hinter der heutigen wesentlich zurückstand, ist nicht zu leugnen, begründet
aber für die damalige Generation, keinen Vorwurf, denn seit vierzig Jahren hat
eben die philologische Wissenschaft und mit ihr die philologische Vorbildung der
Lehrer die größten Fortschritte gemacht. Damals wurde in Sachsen die Interpre¬
tation von der kritisch-grammatischen Schule G. Hermanns beherrscht, und die ver¬
gleichende Sprachwissenschaft stand noch in den Anfängen und war für die Gram¬
matiker, also auch für die Schulen, noch gar nicht vorhanden; die lange Reihe der
Weidmannschen Handbücher für die klassische Altertumskunde begann eben erst zu
erscheinen, weder Olympia noch Delphi noch Mykenä oder Troja waren aufgedeckt,
nicht einmal das Forum romanum, die Kenntnis der Stätten antiken Lebens und
des antiken Lebens selbst also unvergleichlich geringer als heute, und von den reichen
Anschauungsmitteln, die uns heute zur Verfügung stehn, war gar nichts vorhanden.
Wenn nicht der Lehrer einmal selbst kleine Abbildungen mitbrachte, die in der Klasse
zirkulieren konnten, was immer viel Zeit wegnahm, so erhielten wir von alledem,
was heute mühelos geboten wird, keinerlei Anschauung, und keiner von unsern Lehrern
hatte jemals Griechenland oder Italien mit eignen Augen gesehen. Wie wäre das
damals auch bei der mangelhaften Ausbildung der Verkehrsmittel -- Italien hatte
damals außerhalb des Potieflandes noch fast keine Eisenbahnen -- überhaupt nur
möglich gewesen!

!^ Andres hing natürlich damals wie heute von der Individualität des Lehrers
ub und hatte mit der Stufe der Wissenschaft an sich nichts zu thun. So wenn
uns unglücklichen Tertianern zugemutet wurde, den Anfang des elften Buchs der
Odyssee zu Präparieren ohne eine Spur von Anleitung und mit dem großen Passow!
Ich habe damals über den ersten fünf Versen einen ganzen Nachmittag gesessen,
weil ich fast jedes Wort und jede Form nachschlagen mußte, und dem alten Homer
von Herzen geflucht. Oder wenn uns derselbe Lehrer in Prima langatmige lateinische
Anmerkungen zu den Oden und Episteln des Horaz aus einem vergilbten Heft in
die Feder diktierte. Und das war wirklich ein klassischer Philolog, kein Theolog!
Dem Horaz habe ich damals so wenig Geschmack abgewonnen wie dem Sophokles
in Prima, da dieser Lehrer wiederum die Schönheiten des Dichters zwar selbst tief
empfand, aber sie uns nicht zu zeigen wußte. Dagegen habe ich zu derselben Zeit
für Tacitus und Demosthenes ein warmes Interesse gewonnen, und dieser Lehrer
war einer von den philologisch gebildeten Theologen. Denn im ganzen wird man
diesen, wenn sie tüchtig waren, nachrühmen dürfen, daß sie ihr Latein und Griechisch
sehr wohl verstanden, wenn sie auch auf grammatische und stilistische Feinheiten wenig
Gewicht legten, und daß ihr geistiger Horizont, eben weil sie auch Theologen waren,
über das Fachinteresse weit hinausging. Mein eigner Vater -- das darf ich ohne
Überhebung sagen -- ist mir darin immer als Muster erschienen; er vertrat in den
obersten Klassen Lateinisch, Griechisch, Deutsch, Geschichte und Religion, und seine
Stunden habe ich immer als die anregendsten empfunden, die mir das Gymnasium
geboten hat. Ich glaube, meine Mitschüler haben nicht anders geurteilt. Er leitete
uns auch zu selbständiger Privatlektüre in der Weise an, daß er uns die Wahl des
Schriftstellers freiließ und dann seine Schüler einzeln oder gruppenweise auf seinem
Zimmer kontrollierte. So habe ich damals den größten Teil von Xenophons Ana-


Lin sächsisches Gymnasium vor vierzig Jahren

schon in Quinta, statt wie seit 1882 in Quarta, das Griechische in Quarta statt
in Untertertia, und das Englische fehlte im Gymnasium auch als wahlfreies Fach ganz.
Auch in der Lektüre war bei den klassischen Sprachen der Unterschied im Vergleich
mit der Gegenwart nicht groß. Im Lateinischen war z. B. neben dem Cornelius
Nepos in Quarta die Ciceronische Chrestomathie von Friedemann im Gebrauch, die
nach meiner Erinnerung für die Schüler zu schwer war und ihnen deshalb wenig
Freude machte, für das Griechische in der zweiten Abteilung der Tertia das treff¬
liche Lesebuch von Jacobs; später wurde in Sekunda Plutnrch gelesen, der jetzt aus
der regelmäßigen Klnssenlektüre leider ganz verschwunden ist, während ich mich nicht
entsinnen kann, mich jemals mit Lysicis beschäftigt zu haben. Daß die Erklärung
im ganzen hinter der heutigen wesentlich zurückstand, ist nicht zu leugnen, begründet
aber für die damalige Generation, keinen Vorwurf, denn seit vierzig Jahren hat
eben die philologische Wissenschaft und mit ihr die philologische Vorbildung der
Lehrer die größten Fortschritte gemacht. Damals wurde in Sachsen die Interpre¬
tation von der kritisch-grammatischen Schule G. Hermanns beherrscht, und die ver¬
gleichende Sprachwissenschaft stand noch in den Anfängen und war für die Gram¬
matiker, also auch für die Schulen, noch gar nicht vorhanden; die lange Reihe der
Weidmannschen Handbücher für die klassische Altertumskunde begann eben erst zu
erscheinen, weder Olympia noch Delphi noch Mykenä oder Troja waren aufgedeckt,
nicht einmal das Forum romanum, die Kenntnis der Stätten antiken Lebens und
des antiken Lebens selbst also unvergleichlich geringer als heute, und von den reichen
Anschauungsmitteln, die uns heute zur Verfügung stehn, war gar nichts vorhanden.
Wenn nicht der Lehrer einmal selbst kleine Abbildungen mitbrachte, die in der Klasse
zirkulieren konnten, was immer viel Zeit wegnahm, so erhielten wir von alledem,
was heute mühelos geboten wird, keinerlei Anschauung, und keiner von unsern Lehrern
hatte jemals Griechenland oder Italien mit eignen Augen gesehen. Wie wäre das
damals auch bei der mangelhaften Ausbildung der Verkehrsmittel — Italien hatte
damals außerhalb des Potieflandes noch fast keine Eisenbahnen — überhaupt nur
möglich gewesen!

!^ Andres hing natürlich damals wie heute von der Individualität des Lehrers
ub und hatte mit der Stufe der Wissenschaft an sich nichts zu thun. So wenn
uns unglücklichen Tertianern zugemutet wurde, den Anfang des elften Buchs der
Odyssee zu Präparieren ohne eine Spur von Anleitung und mit dem großen Passow!
Ich habe damals über den ersten fünf Versen einen ganzen Nachmittag gesessen,
weil ich fast jedes Wort und jede Form nachschlagen mußte, und dem alten Homer
von Herzen geflucht. Oder wenn uns derselbe Lehrer in Prima langatmige lateinische
Anmerkungen zu den Oden und Episteln des Horaz aus einem vergilbten Heft in
die Feder diktierte. Und das war wirklich ein klassischer Philolog, kein Theolog!
Dem Horaz habe ich damals so wenig Geschmack abgewonnen wie dem Sophokles
in Prima, da dieser Lehrer wiederum die Schönheiten des Dichters zwar selbst tief
empfand, aber sie uns nicht zu zeigen wußte. Dagegen habe ich zu derselben Zeit
für Tacitus und Demosthenes ein warmes Interesse gewonnen, und dieser Lehrer
war einer von den philologisch gebildeten Theologen. Denn im ganzen wird man
diesen, wenn sie tüchtig waren, nachrühmen dürfen, daß sie ihr Latein und Griechisch
sehr wohl verstanden, wenn sie auch auf grammatische und stilistische Feinheiten wenig
Gewicht legten, und daß ihr geistiger Horizont, eben weil sie auch Theologen waren,
über das Fachinteresse weit hinausging. Mein eigner Vater — das darf ich ohne
Überhebung sagen — ist mir darin immer als Muster erschienen; er vertrat in den
obersten Klassen Lateinisch, Griechisch, Deutsch, Geschichte und Religion, und seine
Stunden habe ich immer als die anregendsten empfunden, die mir das Gymnasium
geboten hat. Ich glaube, meine Mitschüler haben nicht anders geurteilt. Er leitete
uns auch zu selbständiger Privatlektüre in der Weise an, daß er uns die Wahl des
Schriftstellers freiließ und dann seine Schüler einzeln oder gruppenweise auf seinem
Zimmer kontrollierte. So habe ich damals den größten Teil von Xenophons Ana-


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[0667] Lin sächsisches Gymnasium vor vierzig Jahren schon in Quinta, statt wie seit 1882 in Quarta, das Griechische in Quarta statt in Untertertia, und das Englische fehlte im Gymnasium auch als wahlfreies Fach ganz. Auch in der Lektüre war bei den klassischen Sprachen der Unterschied im Vergleich mit der Gegenwart nicht groß. Im Lateinischen war z. B. neben dem Cornelius Nepos in Quarta die Ciceronische Chrestomathie von Friedemann im Gebrauch, die nach meiner Erinnerung für die Schüler zu schwer war und ihnen deshalb wenig Freude machte, für das Griechische in der zweiten Abteilung der Tertia das treff¬ liche Lesebuch von Jacobs; später wurde in Sekunda Plutnrch gelesen, der jetzt aus der regelmäßigen Klnssenlektüre leider ganz verschwunden ist, während ich mich nicht entsinnen kann, mich jemals mit Lysicis beschäftigt zu haben. Daß die Erklärung im ganzen hinter der heutigen wesentlich zurückstand, ist nicht zu leugnen, begründet aber für die damalige Generation, keinen Vorwurf, denn seit vierzig Jahren hat eben die philologische Wissenschaft und mit ihr die philologische Vorbildung der Lehrer die größten Fortschritte gemacht. Damals wurde in Sachsen die Interpre¬ tation von der kritisch-grammatischen Schule G. Hermanns beherrscht, und die ver¬ gleichende Sprachwissenschaft stand noch in den Anfängen und war für die Gram¬ matiker, also auch für die Schulen, noch gar nicht vorhanden; die lange Reihe der Weidmannschen Handbücher für die klassische Altertumskunde begann eben erst zu erscheinen, weder Olympia noch Delphi noch Mykenä oder Troja waren aufgedeckt, nicht einmal das Forum romanum, die Kenntnis der Stätten antiken Lebens und des antiken Lebens selbst also unvergleichlich geringer als heute, und von den reichen Anschauungsmitteln, die uns heute zur Verfügung stehn, war gar nichts vorhanden. Wenn nicht der Lehrer einmal selbst kleine Abbildungen mitbrachte, die in der Klasse zirkulieren konnten, was immer viel Zeit wegnahm, so erhielten wir von alledem, was heute mühelos geboten wird, keinerlei Anschauung, und keiner von unsern Lehrern hatte jemals Griechenland oder Italien mit eignen Augen gesehen. Wie wäre das damals auch bei der mangelhaften Ausbildung der Verkehrsmittel — Italien hatte damals außerhalb des Potieflandes noch fast keine Eisenbahnen — überhaupt nur möglich gewesen! !^ Andres hing natürlich damals wie heute von der Individualität des Lehrers ub und hatte mit der Stufe der Wissenschaft an sich nichts zu thun. So wenn uns unglücklichen Tertianern zugemutet wurde, den Anfang des elften Buchs der Odyssee zu Präparieren ohne eine Spur von Anleitung und mit dem großen Passow! Ich habe damals über den ersten fünf Versen einen ganzen Nachmittag gesessen, weil ich fast jedes Wort und jede Form nachschlagen mußte, und dem alten Homer von Herzen geflucht. Oder wenn uns derselbe Lehrer in Prima langatmige lateinische Anmerkungen zu den Oden und Episteln des Horaz aus einem vergilbten Heft in die Feder diktierte. Und das war wirklich ein klassischer Philolog, kein Theolog! Dem Horaz habe ich damals so wenig Geschmack abgewonnen wie dem Sophokles in Prima, da dieser Lehrer wiederum die Schönheiten des Dichters zwar selbst tief empfand, aber sie uns nicht zu zeigen wußte. Dagegen habe ich zu derselben Zeit für Tacitus und Demosthenes ein warmes Interesse gewonnen, und dieser Lehrer war einer von den philologisch gebildeten Theologen. Denn im ganzen wird man diesen, wenn sie tüchtig waren, nachrühmen dürfen, daß sie ihr Latein und Griechisch sehr wohl verstanden, wenn sie auch auf grammatische und stilistische Feinheiten wenig Gewicht legten, und daß ihr geistiger Horizont, eben weil sie auch Theologen waren, über das Fachinteresse weit hinausging. Mein eigner Vater — das darf ich ohne Überhebung sagen — ist mir darin immer als Muster erschienen; er vertrat in den obersten Klassen Lateinisch, Griechisch, Deutsch, Geschichte und Religion, und seine Stunden habe ich immer als die anregendsten empfunden, die mir das Gymnasium geboten hat. Ich glaube, meine Mitschüler haben nicht anders geurteilt. Er leitete uns auch zu selbständiger Privatlektüre in der Weise an, daß er uns die Wahl des Schriftstellers freiließ und dann seine Schüler einzeln oder gruppenweise auf seinem Zimmer kontrollierte. So habe ich damals den größten Teil von Xenophons Ana-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 61, 1902, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341875_237285/667>, abgerufen am 26.06.2024.