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Die Grenzboten. Jg. 61, 1902, Zweites Vierteljahr.

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Individualismus

großen drei Tragiker ein erschütterndes Zeugnis. Anders steht es mit den
Römern, die als Persönlichkeiten über die große Menge hervorragen. Bei
ihnen lebt allerdings auch immer die feste und entschlossen in That um¬
gesetzte Absicht, uach ihrem Willen die Masse zu meistern. Dabei entzieh"
sie sich jedoch ideell in keiner Weise den allgemeinen Vorstellungskrcisen der
römischen Gesellschaft; denen schmiegen sie sich vielmehr in ihren Gedanken¬
gängen vollständig an. Sie fühlen und geben sich nicht als von der Masse
und ihrer Weise gesonderte Einzelne, sondern nur als besonders ausgezeichnete
typische Vertreter vou Massenmcnschen, die in ihrer Gesamtheit Rom aus¬
machen. Während der heroische Jndividualhellene zuerst er selbst ist und dann
erst Athener oder Perser oder sonst was, zuvörderst Achilles und dann erst
Achäer, ist der einzeln in den Vordergrund tretende Römer immer und be¬
dingungslos vor allem civis Roimarus und dann erst ein Claudius oder ein
Scipio oder sonst wer. Auch mit den gewaltigen Männern, die Rom in
seiner wildesten Zeit die Richtung gegeben haben, mit den Gracchen, Marius,
Sulla, Cäsar verhält es sich uicht anders.

Die Staatsidee ist in jedem Römer das Treibende, und die Staatsidee
wieder ist ihm die Auffassung des Staats als des Inbegriffs der Volksgesamtheit
und ihrer unbedingten Gewalt, ihrer grundsätzlichen Machtvollkommenheit
über alles, was politisch zu Rom gehört. Gerade der, der dem Machtgefüge
"Rom" die abschließende Fassung gegeben und der das vermocht hat, weil er
durch und dnrch römischer Art war, gerade Augustus ist das beste Beispiel
dafür, daß auch der um höchsten die Masse des Volks überragende Römer
von solcher Massenttberzcngnng seines Volks erfüllt gewesen ist. Von einem
auch nur annähernd ähnlichen Aufgehen in gesellschaftlichen Grundüberzeu¬
gungen, von einer das Volk in seiner Gesamtheit unwandelbar haltenden
und alle seine Glieder unverbrüchlich beherrschenden Gesellschaftsordnung kann
bei den Hellenen nicht gesprochen werden. Genug allerdings wird bei ihnen,
insbesondre den Athenern, vou Volksversammlungen berichtet. Das sind
jedoch nur Zusammenkünfte hellenischer Menschen gewesen, die, wechselnd
wie Wind und Welle, nach persönlichen Angenblickseingebnngen hente so und
Morgen anders schillernd, eines volkstümlichen, urwüchsig und unveränderlich in
ihnen mächtigen politischen Grundtriebs bar waren, und die deshalb uicht
vermocht haben, eine Gesellschaftsbildung von dauerndem Stand und Wesen
M schaffen. Während Rom noch Jahrhunderte kräftig gelebt hat, auch nach¬
dem ihm längst nicht mehr leitende Geister erstanden, allein vermöge der Kultur¬
gewalt der seinem Gemeinwesen eignen Staatsidee, ist Griechenland sofort
und unrettbar politisch zusammengebrochen, als die Zeit seiner großen Staats¬
männer zur Rüste gegangen war. Seine politische Geschichte schließt mit Epa-
minondas. Höchst bezeichnend und in diesem Munde ein Urteil von über¬
zeugenden Gehalt ist dessen letztes Wort; nachdem er erfahren hatte, daß
mit ihm auch die Feldherren Daiphantos und Jolaidas zu Tode getroffen
waren, sagte er, man solle in Theben von allem weitern politischen Vorgehn
abstehn. Es ist der Verdammungsspruch des klarsten griechischen Staats¬
manns über das hellenische Staatswesen.


Individualismus

großen drei Tragiker ein erschütterndes Zeugnis. Anders steht es mit den
Römern, die als Persönlichkeiten über die große Menge hervorragen. Bei
ihnen lebt allerdings auch immer die feste und entschlossen in That um¬
gesetzte Absicht, uach ihrem Willen die Masse zu meistern. Dabei entzieh»
sie sich jedoch ideell in keiner Weise den allgemeinen Vorstellungskrcisen der
römischen Gesellschaft; denen schmiegen sie sich vielmehr in ihren Gedanken¬
gängen vollständig an. Sie fühlen und geben sich nicht als von der Masse
und ihrer Weise gesonderte Einzelne, sondern nur als besonders ausgezeichnete
typische Vertreter vou Massenmcnschen, die in ihrer Gesamtheit Rom aus¬
machen. Während der heroische Jndividualhellene zuerst er selbst ist und dann
erst Athener oder Perser oder sonst was, zuvörderst Achilles und dann erst
Achäer, ist der einzeln in den Vordergrund tretende Römer immer und be¬
dingungslos vor allem civis Roimarus und dann erst ein Claudius oder ein
Scipio oder sonst wer. Auch mit den gewaltigen Männern, die Rom in
seiner wildesten Zeit die Richtung gegeben haben, mit den Gracchen, Marius,
Sulla, Cäsar verhält es sich uicht anders.

Die Staatsidee ist in jedem Römer das Treibende, und die Staatsidee
wieder ist ihm die Auffassung des Staats als des Inbegriffs der Volksgesamtheit
und ihrer unbedingten Gewalt, ihrer grundsätzlichen Machtvollkommenheit
über alles, was politisch zu Rom gehört. Gerade der, der dem Machtgefüge
„Rom" die abschließende Fassung gegeben und der das vermocht hat, weil er
durch und dnrch römischer Art war, gerade Augustus ist das beste Beispiel
dafür, daß auch der um höchsten die Masse des Volks überragende Römer
von solcher Massenttberzcngnng seines Volks erfüllt gewesen ist. Von einem
auch nur annähernd ähnlichen Aufgehen in gesellschaftlichen Grundüberzeu¬
gungen, von einer das Volk in seiner Gesamtheit unwandelbar haltenden
und alle seine Glieder unverbrüchlich beherrschenden Gesellschaftsordnung kann
bei den Hellenen nicht gesprochen werden. Genug allerdings wird bei ihnen,
insbesondre den Athenern, vou Volksversammlungen berichtet. Das sind
jedoch nur Zusammenkünfte hellenischer Menschen gewesen, die, wechselnd
wie Wind und Welle, nach persönlichen Angenblickseingebnngen hente so und
Morgen anders schillernd, eines volkstümlichen, urwüchsig und unveränderlich in
ihnen mächtigen politischen Grundtriebs bar waren, und die deshalb uicht
vermocht haben, eine Gesellschaftsbildung von dauerndem Stand und Wesen
M schaffen. Während Rom noch Jahrhunderte kräftig gelebt hat, auch nach¬
dem ihm längst nicht mehr leitende Geister erstanden, allein vermöge der Kultur¬
gewalt der seinem Gemeinwesen eignen Staatsidee, ist Griechenland sofort
und unrettbar politisch zusammengebrochen, als die Zeit seiner großen Staats¬
männer zur Rüste gegangen war. Seine politische Geschichte schließt mit Epa-
minondas. Höchst bezeichnend und in diesem Munde ein Urteil von über¬
zeugenden Gehalt ist dessen letztes Wort; nachdem er erfahren hatte, daß
mit ihm auch die Feldherren Daiphantos und Jolaidas zu Tode getroffen
waren, sagte er, man solle in Theben von allem weitern politischen Vorgehn
abstehn. Es ist der Verdammungsspruch des klarsten griechischen Staats¬
manns über das hellenische Staatswesen.


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[0605] Individualismus großen drei Tragiker ein erschütterndes Zeugnis. Anders steht es mit den Römern, die als Persönlichkeiten über die große Menge hervorragen. Bei ihnen lebt allerdings auch immer die feste und entschlossen in That um¬ gesetzte Absicht, uach ihrem Willen die Masse zu meistern. Dabei entzieh» sie sich jedoch ideell in keiner Weise den allgemeinen Vorstellungskrcisen der römischen Gesellschaft; denen schmiegen sie sich vielmehr in ihren Gedanken¬ gängen vollständig an. Sie fühlen und geben sich nicht als von der Masse und ihrer Weise gesonderte Einzelne, sondern nur als besonders ausgezeichnete typische Vertreter vou Massenmcnschen, die in ihrer Gesamtheit Rom aus¬ machen. Während der heroische Jndividualhellene zuerst er selbst ist und dann erst Athener oder Perser oder sonst was, zuvörderst Achilles und dann erst Achäer, ist der einzeln in den Vordergrund tretende Römer immer und be¬ dingungslos vor allem civis Roimarus und dann erst ein Claudius oder ein Scipio oder sonst wer. Auch mit den gewaltigen Männern, die Rom in seiner wildesten Zeit die Richtung gegeben haben, mit den Gracchen, Marius, Sulla, Cäsar verhält es sich uicht anders. Die Staatsidee ist in jedem Römer das Treibende, und die Staatsidee wieder ist ihm die Auffassung des Staats als des Inbegriffs der Volksgesamtheit und ihrer unbedingten Gewalt, ihrer grundsätzlichen Machtvollkommenheit über alles, was politisch zu Rom gehört. Gerade der, der dem Machtgefüge „Rom" die abschließende Fassung gegeben und der das vermocht hat, weil er durch und dnrch römischer Art war, gerade Augustus ist das beste Beispiel dafür, daß auch der um höchsten die Masse des Volks überragende Römer von solcher Massenttberzcngnng seines Volks erfüllt gewesen ist. Von einem auch nur annähernd ähnlichen Aufgehen in gesellschaftlichen Grundüberzeu¬ gungen, von einer das Volk in seiner Gesamtheit unwandelbar haltenden und alle seine Glieder unverbrüchlich beherrschenden Gesellschaftsordnung kann bei den Hellenen nicht gesprochen werden. Genug allerdings wird bei ihnen, insbesondre den Athenern, vou Volksversammlungen berichtet. Das sind jedoch nur Zusammenkünfte hellenischer Menschen gewesen, die, wechselnd wie Wind und Welle, nach persönlichen Angenblickseingebnngen hente so und Morgen anders schillernd, eines volkstümlichen, urwüchsig und unveränderlich in ihnen mächtigen politischen Grundtriebs bar waren, und die deshalb uicht vermocht haben, eine Gesellschaftsbildung von dauerndem Stand und Wesen M schaffen. Während Rom noch Jahrhunderte kräftig gelebt hat, auch nach¬ dem ihm längst nicht mehr leitende Geister erstanden, allein vermöge der Kultur¬ gewalt der seinem Gemeinwesen eignen Staatsidee, ist Griechenland sofort und unrettbar politisch zusammengebrochen, als die Zeit seiner großen Staats¬ männer zur Rüste gegangen war. Seine politische Geschichte schließt mit Epa- minondas. Höchst bezeichnend und in diesem Munde ein Urteil von über¬ zeugenden Gehalt ist dessen letztes Wort; nachdem er erfahren hatte, daß mit ihm auch die Feldherren Daiphantos und Jolaidas zu Tode getroffen waren, sagte er, man solle in Theben von allem weitern politischen Vorgehn abstehn. Es ist der Verdammungsspruch des klarsten griechischen Staats¬ manns über das hellenische Staatswesen.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 61, 1902, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341875_237285/605>, abgerufen am 26.06.2024.