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Die Grenzboten. Jg. 61, 1902, Zweites Vierteljahr.

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Individualismus

dualistische Regungen -- wenigstens Regungen solcher Art, wie sie Breysig unter
diesen Bezeichnungen versteht -- dein politischen Leben die Form gegeben haben.
Trotzdem erscheint es bedenklich, die Einteilung Breysigs, seine von der Ober¬
flüche der Erscheinungen her genommene Einschnchtelung seelisch unendlich tief
liegender Grundtriebe der Menschen in zwei trockne Schulbcgriffe und ihre gewisser¬
maßen maschinenmäßige Anwendung auf alle Völker schlechtweg hinzunehmen.

Was da zu Bedenken Anlaß giebt, mag in einigen Worten kurz gestreift
werden.

Eigenwillige Triebe nach Breysigscher Einteilung sind bei den Griechen
wie bei den Römern mächtig gewesen. Es erscheint jedoch nicht gut angängig,
die Art und Weise des hellenischen Selbstbewußtseins dem quiritischer Herkunft
gleichzusetzen. Dem Auftreten eines Pausanias und eines Alkibiades läßt sich
höchstens das von Coriolan und von Mnnlius an die Seite setzen. Nun, die
Handlungen der beiden ersten und ihr sich darin ausdrückendes eigenes Wesen
wird niemand dem der beiden andern gleichstellen können. Ebensowenig möchte
es angebracht sein, die Kundgebungen der Gemeinden auf der Pnyx und auf dein
Forum als wesensgleich anzusehen. Sowohl bei den Einzelnen hier und dort
wie bei den Massen hüben und drüben liegen in Empfindung und Äußerung
charakteristische Unterschiede vor. Diese erscheinen seelisch so bedeutsam, daß
sofort Bedenken dagegen erhoben werden können, bedingungslos von einer
auf beiden Seiten wenigstens ihrer allgemeinen Art uach gleichen assoziativem
oder individualistischen Richtung zu sprechen. Der entscheidende, gewisser¬
maßen dämonische Grundzug im Wesen der hervorragenden Griechen ist der
wie eine Naturnotwendigkeit in ihnen wirkende Drang, ihre Persönlichkeit
als solche, sich der Außenwelt gegenüber als um ihrer selbst willen wert¬
volle, als eigenartige Großen, als Herren ihrer selbst und ihrer Geschicke,
als volle und wahre Menschen zur Geltung zu bringen. Nicht, daß sie bestrebt
gewesen wären, alles auf sich und ein in ihnen übermächtiges, tiefinner¬
liches Empfinden zurückzuführen, ihr eignes Seelenleben zum archimedischen
Punkte für ihre Auffassung der Welt zu machen. Davon, von einem
rein im Innenleben wurzelnden und allein von ihm aus an die Außenwelt
herantretenden Individualismus wußten sie nichts. Betrachtet man, unbe¬
einflußt von der heutigen Auffassung des Individualismus und unbeeinflußt
auch insbesondre von der heutigen Auslegung mancher unter ihrer Voraus¬
setzung gelesenen Stellen der griechischen Philosophen, lediglich unter Wür¬
digung der damalige-: Verhältnisse die hellenische Hochhaltung der Persönlichkeit,
so stellt sie sich dar als das weltgeschichtliche Gegenspiel zu dem vor Hellas
Thoren in breiter Masse geltenden und bis zum Auftreten der griechischen
Kultur herrschenden Horden- und Herdenregiment des Orients. Wie sehr
die Hochhaltung der Persönlichkeit, wobei der Begriff der Persönlichkeit ganz
naiv nach dem, was den schlicht urwüchsigen Menschen vor Augen war, rein
äußerlich gefaßt wurde, wie sehr das Eintreten für das so verstcmdne Indivi¬
duelle im Gegensatze zum ewig unveränderlichen, in göttlicher Vollkommenheit
unbewegbar thronenden, individueller Sonderregung feindlichen Universum
das griechische Fühlen und Denken beherrscht, dafür geben die Dramen der


Individualismus

dualistische Regungen — wenigstens Regungen solcher Art, wie sie Breysig unter
diesen Bezeichnungen versteht — dein politischen Leben die Form gegeben haben.
Trotzdem erscheint es bedenklich, die Einteilung Breysigs, seine von der Ober¬
flüche der Erscheinungen her genommene Einschnchtelung seelisch unendlich tief
liegender Grundtriebe der Menschen in zwei trockne Schulbcgriffe und ihre gewisser¬
maßen maschinenmäßige Anwendung auf alle Völker schlechtweg hinzunehmen.

Was da zu Bedenken Anlaß giebt, mag in einigen Worten kurz gestreift
werden.

Eigenwillige Triebe nach Breysigscher Einteilung sind bei den Griechen
wie bei den Römern mächtig gewesen. Es erscheint jedoch nicht gut angängig,
die Art und Weise des hellenischen Selbstbewußtseins dem quiritischer Herkunft
gleichzusetzen. Dem Auftreten eines Pausanias und eines Alkibiades läßt sich
höchstens das von Coriolan und von Mnnlius an die Seite setzen. Nun, die
Handlungen der beiden ersten und ihr sich darin ausdrückendes eigenes Wesen
wird niemand dem der beiden andern gleichstellen können. Ebensowenig möchte
es angebracht sein, die Kundgebungen der Gemeinden auf der Pnyx und auf dein
Forum als wesensgleich anzusehen. Sowohl bei den Einzelnen hier und dort
wie bei den Massen hüben und drüben liegen in Empfindung und Äußerung
charakteristische Unterschiede vor. Diese erscheinen seelisch so bedeutsam, daß
sofort Bedenken dagegen erhoben werden können, bedingungslos von einer
auf beiden Seiten wenigstens ihrer allgemeinen Art uach gleichen assoziativem
oder individualistischen Richtung zu sprechen. Der entscheidende, gewisser¬
maßen dämonische Grundzug im Wesen der hervorragenden Griechen ist der
wie eine Naturnotwendigkeit in ihnen wirkende Drang, ihre Persönlichkeit
als solche, sich der Außenwelt gegenüber als um ihrer selbst willen wert¬
volle, als eigenartige Großen, als Herren ihrer selbst und ihrer Geschicke,
als volle und wahre Menschen zur Geltung zu bringen. Nicht, daß sie bestrebt
gewesen wären, alles auf sich und ein in ihnen übermächtiges, tiefinner¬
liches Empfinden zurückzuführen, ihr eignes Seelenleben zum archimedischen
Punkte für ihre Auffassung der Welt zu machen. Davon, von einem
rein im Innenleben wurzelnden und allein von ihm aus an die Außenwelt
herantretenden Individualismus wußten sie nichts. Betrachtet man, unbe¬
einflußt von der heutigen Auffassung des Individualismus und unbeeinflußt
auch insbesondre von der heutigen Auslegung mancher unter ihrer Voraus¬
setzung gelesenen Stellen der griechischen Philosophen, lediglich unter Wür¬
digung der damalige-: Verhältnisse die hellenische Hochhaltung der Persönlichkeit,
so stellt sie sich dar als das weltgeschichtliche Gegenspiel zu dem vor Hellas
Thoren in breiter Masse geltenden und bis zum Auftreten der griechischen
Kultur herrschenden Horden- und Herdenregiment des Orients. Wie sehr
die Hochhaltung der Persönlichkeit, wobei der Begriff der Persönlichkeit ganz
naiv nach dem, was den schlicht urwüchsigen Menschen vor Augen war, rein
äußerlich gefaßt wurde, wie sehr das Eintreten für das so verstcmdne Indivi¬
duelle im Gegensatze zum ewig unveränderlichen, in göttlicher Vollkommenheit
unbewegbar thronenden, individueller Sonderregung feindlichen Universum
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[0604] Individualismus dualistische Regungen — wenigstens Regungen solcher Art, wie sie Breysig unter diesen Bezeichnungen versteht — dein politischen Leben die Form gegeben haben. Trotzdem erscheint es bedenklich, die Einteilung Breysigs, seine von der Ober¬ flüche der Erscheinungen her genommene Einschnchtelung seelisch unendlich tief liegender Grundtriebe der Menschen in zwei trockne Schulbcgriffe und ihre gewisser¬ maßen maschinenmäßige Anwendung auf alle Völker schlechtweg hinzunehmen. Was da zu Bedenken Anlaß giebt, mag in einigen Worten kurz gestreift werden. Eigenwillige Triebe nach Breysigscher Einteilung sind bei den Griechen wie bei den Römern mächtig gewesen. Es erscheint jedoch nicht gut angängig, die Art und Weise des hellenischen Selbstbewußtseins dem quiritischer Herkunft gleichzusetzen. Dem Auftreten eines Pausanias und eines Alkibiades läßt sich höchstens das von Coriolan und von Mnnlius an die Seite setzen. Nun, die Handlungen der beiden ersten und ihr sich darin ausdrückendes eigenes Wesen wird niemand dem der beiden andern gleichstellen können. Ebensowenig möchte es angebracht sein, die Kundgebungen der Gemeinden auf der Pnyx und auf dein Forum als wesensgleich anzusehen. Sowohl bei den Einzelnen hier und dort wie bei den Massen hüben und drüben liegen in Empfindung und Äußerung charakteristische Unterschiede vor. Diese erscheinen seelisch so bedeutsam, daß sofort Bedenken dagegen erhoben werden können, bedingungslos von einer auf beiden Seiten wenigstens ihrer allgemeinen Art uach gleichen assoziativem oder individualistischen Richtung zu sprechen. Der entscheidende, gewisser¬ maßen dämonische Grundzug im Wesen der hervorragenden Griechen ist der wie eine Naturnotwendigkeit in ihnen wirkende Drang, ihre Persönlichkeit als solche, sich der Außenwelt gegenüber als um ihrer selbst willen wert¬ volle, als eigenartige Großen, als Herren ihrer selbst und ihrer Geschicke, als volle und wahre Menschen zur Geltung zu bringen. Nicht, daß sie bestrebt gewesen wären, alles auf sich und ein in ihnen übermächtiges, tiefinner¬ liches Empfinden zurückzuführen, ihr eignes Seelenleben zum archimedischen Punkte für ihre Auffassung der Welt zu machen. Davon, von einem rein im Innenleben wurzelnden und allein von ihm aus an die Außenwelt herantretenden Individualismus wußten sie nichts. Betrachtet man, unbe¬ einflußt von der heutigen Auffassung des Individualismus und unbeeinflußt auch insbesondre von der heutigen Auslegung mancher unter ihrer Voraus¬ setzung gelesenen Stellen der griechischen Philosophen, lediglich unter Wür¬ digung der damalige-: Verhältnisse die hellenische Hochhaltung der Persönlichkeit, so stellt sie sich dar als das weltgeschichtliche Gegenspiel zu dem vor Hellas Thoren in breiter Masse geltenden und bis zum Auftreten der griechischen Kultur herrschenden Horden- und Herdenregiment des Orients. Wie sehr die Hochhaltung der Persönlichkeit, wobei der Begriff der Persönlichkeit ganz naiv nach dem, was den schlicht urwüchsigen Menschen vor Augen war, rein äußerlich gefaßt wurde, wie sehr das Eintreten für das so verstcmdne Indivi¬ duelle im Gegensatze zum ewig unveränderlichen, in göttlicher Vollkommenheit unbewegbar thronenden, individueller Sonderregung feindlichen Universum das griechische Fühlen und Denken beherrscht, dafür geben die Dramen der

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 61, 1902, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341875_237285/604>, abgerufen am 26.06.2024.