Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 61, 1902, Zweites Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Weltentwicklung und Iveltschöpfung

Ich vermute, daß er zuerst mit der Philosophie sprechen wird, und. da deren
Antworten ihm nicht genügen werden, wird er sich auch mit der Religion
unterhalten. Das ist so und wird immer so bleiben. Die Rückkehr zur
Philosophie hat schon in jeder Einzelwissenschaft ihre Vertreter, in der Physio¬
logie und in der Chemie, in der Zoologie und in der Geographie, sie hat
sogar schon ihre besondern Zeitschriften. Die Rückkehr zur Religion hat einst¬
weilen nur ihre weitverbreiteten Zweifel an den materialistischen Dogmen,
und in viel größerer Zahl als Außenstehende denken, ihre privaten Umkehren
und ihre Fragen und Bekenntnisse unter vier Augen. Kein Leben ist praktisch
durchzuführen mit der Zweiteilung von Glauben und Wissenschaft, vor allem
werdeu nie die beiden Hälften, die man auseinanderhalten will, getrennt die
Fahrt auf das Meer der Ewigkeit antreten. Aber auch im wissenschaftlichen
Denken leistet die doppelte Buchführung nichts; sie kann Geister, die zu
unvorsichtigen Abschweifungen neigen, zeitweilig in Schranken halten; aber
der Mensch will und muß doch endlich seine Weltanschauung haben, die selbst¬
verständlich nur Eine sein kann. Der Materialismus hat das ja frühe ein¬
gesehen und wollte den Glauben loswerden, um zur Einheit zu kommen, er
hat aber, wie vorauszusehen war, das nicht fertig gebracht und erwies sich
außerdem als wissenschaftlich so schlecht begründet, daß er nun auf allen
Seiten abgelehnt ist. Es ist ganz ebenso mit dem Positivismus und dem
Monismus, die uns weder als Grundlage unsrer Lebensanschauung noch als
wissenschaftliche Ausbrüten genügen. Meinen denn die Vertreter dieser Lehren,
wir forderten eine Weltanschauung nur zur ästhetischen Ausfüllung einer Lücke
unsers Daseins? Es scheint, daß sie keine Ahnung von der dringenden Not¬
wendigkeit einer Überzeugung haben. Pascal hat die Überzeugung die Be¬
herrscherin der Welt genannt, und in der That, solange es eine Geschichte
giebt, haben immer die Recht behalten, die eine festbegründete Überzeugung
vertraten. Die Überzeugung, das ist die lebendig und praktisch wirksam ge-
wordne Weltanschauung. Daher eben das Streben nach einer alle Forde¬
rungen erfüllenden Weltanschauung. Auf wissenschaftliche Meinungen allein läßt
sich keine Überzeugung gründen. Auch der Glaube allein ist nicht Überzeugung,
dazu fehlt ihm zu oft die Leuchte der Vernunft; er bleibt dann ein passives
Fürwahrhalten mit einer Neigung zum Fanatismus. Die Überzeugung ist
dagegen ein vernünftiges Fürwahrhalten, freiwillig, klar und frei; so wie
sie den ganzen Menschen erfüllt, erfaßt sie ihn auch ganz und setzt ihn mit
all seinem Wollen und Können ein.




Das Wort Entwicklung ist zu einem der inhaltreichsten unsrer Sprache
Herangewachsen. Es ist mehr als das Werden der griechischen Naturphilo¬
sophen, als die Emanation der Neuplatoniker, als die Entfaltung der deutschen
Jdealphilosophen. Die Naturforschung hat in den schattenhaften Begriff einen
Strom? von Erkenntnissen thatsächlicher Zustände und Verändrungen hinein¬
geleitet, die uns in der Entwicklung das Hervorwachsen eines Dinges aus dem
andern, zusammengesetzter aus einfache", höher organisierter aus niedrigern


Weltentwicklung und Iveltschöpfung

Ich vermute, daß er zuerst mit der Philosophie sprechen wird, und. da deren
Antworten ihm nicht genügen werden, wird er sich auch mit der Religion
unterhalten. Das ist so und wird immer so bleiben. Die Rückkehr zur
Philosophie hat schon in jeder Einzelwissenschaft ihre Vertreter, in der Physio¬
logie und in der Chemie, in der Zoologie und in der Geographie, sie hat
sogar schon ihre besondern Zeitschriften. Die Rückkehr zur Religion hat einst¬
weilen nur ihre weitverbreiteten Zweifel an den materialistischen Dogmen,
und in viel größerer Zahl als Außenstehende denken, ihre privaten Umkehren
und ihre Fragen und Bekenntnisse unter vier Augen. Kein Leben ist praktisch
durchzuführen mit der Zweiteilung von Glauben und Wissenschaft, vor allem
werdeu nie die beiden Hälften, die man auseinanderhalten will, getrennt die
Fahrt auf das Meer der Ewigkeit antreten. Aber auch im wissenschaftlichen
Denken leistet die doppelte Buchführung nichts; sie kann Geister, die zu
unvorsichtigen Abschweifungen neigen, zeitweilig in Schranken halten; aber
der Mensch will und muß doch endlich seine Weltanschauung haben, die selbst¬
verständlich nur Eine sein kann. Der Materialismus hat das ja frühe ein¬
gesehen und wollte den Glauben loswerden, um zur Einheit zu kommen, er
hat aber, wie vorauszusehen war, das nicht fertig gebracht und erwies sich
außerdem als wissenschaftlich so schlecht begründet, daß er nun auf allen
Seiten abgelehnt ist. Es ist ganz ebenso mit dem Positivismus und dem
Monismus, die uns weder als Grundlage unsrer Lebensanschauung noch als
wissenschaftliche Ausbrüten genügen. Meinen denn die Vertreter dieser Lehren,
wir forderten eine Weltanschauung nur zur ästhetischen Ausfüllung einer Lücke
unsers Daseins? Es scheint, daß sie keine Ahnung von der dringenden Not¬
wendigkeit einer Überzeugung haben. Pascal hat die Überzeugung die Be¬
herrscherin der Welt genannt, und in der That, solange es eine Geschichte
giebt, haben immer die Recht behalten, die eine festbegründete Überzeugung
vertraten. Die Überzeugung, das ist die lebendig und praktisch wirksam ge-
wordne Weltanschauung. Daher eben das Streben nach einer alle Forde¬
rungen erfüllenden Weltanschauung. Auf wissenschaftliche Meinungen allein läßt
sich keine Überzeugung gründen. Auch der Glaube allein ist nicht Überzeugung,
dazu fehlt ihm zu oft die Leuchte der Vernunft; er bleibt dann ein passives
Fürwahrhalten mit einer Neigung zum Fanatismus. Die Überzeugung ist
dagegen ein vernünftiges Fürwahrhalten, freiwillig, klar und frei; so wie
sie den ganzen Menschen erfüllt, erfaßt sie ihn auch ganz und setzt ihn mit
all seinem Wollen und Können ein.




Das Wort Entwicklung ist zu einem der inhaltreichsten unsrer Sprache
Herangewachsen. Es ist mehr als das Werden der griechischen Naturphilo¬
sophen, als die Emanation der Neuplatoniker, als die Entfaltung der deutschen
Jdealphilosophen. Die Naturforschung hat in den schattenhaften Begriff einen
Strom? von Erkenntnissen thatsächlicher Zustände und Verändrungen hinein¬
geleitet, die uns in der Entwicklung das Hervorwachsen eines Dinges aus dem
andern, zusammengesetzter aus einfache», höher organisierter aus niedrigern


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0586" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/237872"/>
          <fw type="header" place="top"> Weltentwicklung und Iveltschöpfung</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_2974" prev="#ID_2973"> Ich vermute, daß er zuerst mit der Philosophie sprechen wird, und. da deren<lb/>
Antworten ihm nicht genügen werden, wird er sich auch mit der Religion<lb/>
unterhalten. Das ist so und wird immer so bleiben. Die Rückkehr zur<lb/>
Philosophie hat schon in jeder Einzelwissenschaft ihre Vertreter, in der Physio¬<lb/>
logie und in der Chemie, in der Zoologie und in der Geographie, sie hat<lb/>
sogar schon ihre besondern Zeitschriften. Die Rückkehr zur Religion hat einst¬<lb/>
weilen nur ihre weitverbreiteten Zweifel an den materialistischen Dogmen,<lb/>
und in viel größerer Zahl als Außenstehende denken, ihre privaten Umkehren<lb/>
und ihre Fragen und Bekenntnisse unter vier Augen. Kein Leben ist praktisch<lb/>
durchzuführen mit der Zweiteilung von Glauben und Wissenschaft, vor allem<lb/>
werdeu nie die beiden Hälften, die man auseinanderhalten will, getrennt die<lb/>
Fahrt auf das Meer der Ewigkeit antreten. Aber auch im wissenschaftlichen<lb/>
Denken leistet die doppelte Buchführung nichts; sie kann Geister, die zu<lb/>
unvorsichtigen Abschweifungen neigen, zeitweilig in Schranken halten; aber<lb/>
der Mensch will und muß doch endlich seine Weltanschauung haben, die selbst¬<lb/>
verständlich nur Eine sein kann. Der Materialismus hat das ja frühe ein¬<lb/>
gesehen und wollte den Glauben loswerden, um zur Einheit zu kommen, er<lb/>
hat aber, wie vorauszusehen war, das nicht fertig gebracht und erwies sich<lb/>
außerdem als wissenschaftlich so schlecht begründet, daß er nun auf allen<lb/>
Seiten abgelehnt ist. Es ist ganz ebenso mit dem Positivismus und dem<lb/>
Monismus, die uns weder als Grundlage unsrer Lebensanschauung noch als<lb/>
wissenschaftliche Ausbrüten genügen. Meinen denn die Vertreter dieser Lehren,<lb/>
wir forderten eine Weltanschauung nur zur ästhetischen Ausfüllung einer Lücke<lb/>
unsers Daseins? Es scheint, daß sie keine Ahnung von der dringenden Not¬<lb/>
wendigkeit einer Überzeugung haben. Pascal hat die Überzeugung die Be¬<lb/>
herrscherin der Welt genannt, und in der That, solange es eine Geschichte<lb/>
giebt, haben immer die Recht behalten, die eine festbegründete Überzeugung<lb/>
vertraten. Die Überzeugung, das ist die lebendig und praktisch wirksam ge-<lb/>
wordne Weltanschauung. Daher eben das Streben nach einer alle Forde¬<lb/>
rungen erfüllenden Weltanschauung. Auf wissenschaftliche Meinungen allein läßt<lb/>
sich keine Überzeugung gründen. Auch der Glaube allein ist nicht Überzeugung,<lb/>
dazu fehlt ihm zu oft die Leuchte der Vernunft; er bleibt dann ein passives<lb/>
Fürwahrhalten mit einer Neigung zum Fanatismus. Die Überzeugung ist<lb/>
dagegen ein vernünftiges Fürwahrhalten, freiwillig, klar und frei; so wie<lb/>
sie den ganzen Menschen erfüllt, erfaßt sie ihn auch ganz und setzt ihn mit<lb/>
all seinem Wollen und Können ein.</p><lb/>
          <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
          <p xml:id="ID_2975" next="#ID_2976"> Das Wort Entwicklung ist zu einem der inhaltreichsten unsrer Sprache<lb/>
Herangewachsen. Es ist mehr als das Werden der griechischen Naturphilo¬<lb/>
sophen, als die Emanation der Neuplatoniker, als die Entfaltung der deutschen<lb/>
Jdealphilosophen. Die Naturforschung hat in den schattenhaften Begriff einen<lb/>
Strom? von Erkenntnissen thatsächlicher Zustände und Verändrungen hinein¬<lb/>
geleitet, die uns in der Entwicklung das Hervorwachsen eines Dinges aus dem<lb/>
andern, zusammengesetzter aus einfache», höher organisierter aus niedrigern</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0586] Weltentwicklung und Iveltschöpfung Ich vermute, daß er zuerst mit der Philosophie sprechen wird, und. da deren Antworten ihm nicht genügen werden, wird er sich auch mit der Religion unterhalten. Das ist so und wird immer so bleiben. Die Rückkehr zur Philosophie hat schon in jeder Einzelwissenschaft ihre Vertreter, in der Physio¬ logie und in der Chemie, in der Zoologie und in der Geographie, sie hat sogar schon ihre besondern Zeitschriften. Die Rückkehr zur Religion hat einst¬ weilen nur ihre weitverbreiteten Zweifel an den materialistischen Dogmen, und in viel größerer Zahl als Außenstehende denken, ihre privaten Umkehren und ihre Fragen und Bekenntnisse unter vier Augen. Kein Leben ist praktisch durchzuführen mit der Zweiteilung von Glauben und Wissenschaft, vor allem werdeu nie die beiden Hälften, die man auseinanderhalten will, getrennt die Fahrt auf das Meer der Ewigkeit antreten. Aber auch im wissenschaftlichen Denken leistet die doppelte Buchführung nichts; sie kann Geister, die zu unvorsichtigen Abschweifungen neigen, zeitweilig in Schranken halten; aber der Mensch will und muß doch endlich seine Weltanschauung haben, die selbst¬ verständlich nur Eine sein kann. Der Materialismus hat das ja frühe ein¬ gesehen und wollte den Glauben loswerden, um zur Einheit zu kommen, er hat aber, wie vorauszusehen war, das nicht fertig gebracht und erwies sich außerdem als wissenschaftlich so schlecht begründet, daß er nun auf allen Seiten abgelehnt ist. Es ist ganz ebenso mit dem Positivismus und dem Monismus, die uns weder als Grundlage unsrer Lebensanschauung noch als wissenschaftliche Ausbrüten genügen. Meinen denn die Vertreter dieser Lehren, wir forderten eine Weltanschauung nur zur ästhetischen Ausfüllung einer Lücke unsers Daseins? Es scheint, daß sie keine Ahnung von der dringenden Not¬ wendigkeit einer Überzeugung haben. Pascal hat die Überzeugung die Be¬ herrscherin der Welt genannt, und in der That, solange es eine Geschichte giebt, haben immer die Recht behalten, die eine festbegründete Überzeugung vertraten. Die Überzeugung, das ist die lebendig und praktisch wirksam ge- wordne Weltanschauung. Daher eben das Streben nach einer alle Forde¬ rungen erfüllenden Weltanschauung. Auf wissenschaftliche Meinungen allein läßt sich keine Überzeugung gründen. Auch der Glaube allein ist nicht Überzeugung, dazu fehlt ihm zu oft die Leuchte der Vernunft; er bleibt dann ein passives Fürwahrhalten mit einer Neigung zum Fanatismus. Die Überzeugung ist dagegen ein vernünftiges Fürwahrhalten, freiwillig, klar und frei; so wie sie den ganzen Menschen erfüllt, erfaßt sie ihn auch ganz und setzt ihn mit all seinem Wollen und Können ein. Das Wort Entwicklung ist zu einem der inhaltreichsten unsrer Sprache Herangewachsen. Es ist mehr als das Werden der griechischen Naturphilo¬ sophen, als die Emanation der Neuplatoniker, als die Entfaltung der deutschen Jdealphilosophen. Die Naturforschung hat in den schattenhaften Begriff einen Strom? von Erkenntnissen thatsächlicher Zustände und Verändrungen hinein¬ geleitet, die uns in der Entwicklung das Hervorwachsen eines Dinges aus dem andern, zusammengesetzter aus einfache», höher organisierter aus niedrigern

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341875_237285
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341875_237285/586
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 61, 1902, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341875_237285/586>, abgerufen am 26.06.2024.