Die Grenzboten. Jg. 61, 1902, Zweites Vierteljahr.Weltentwicklung und Nleltschöpfung terrenis, daß die Ausbreitung unsers Wissens über ungeheure Räume und Schwatzet mir nicht soviel von Nebelflecken und Sonnen! Heute imponieren uns Milliarden Sterne, Jahre, Infusorien und andre Weltentwicklung und Nleltschöpfung terrenis, daß die Ausbreitung unsers Wissens über ungeheure Räume und Schwatzet mir nicht soviel von Nebelflecken und Sonnen! Heute imponieren uns Milliarden Sterne, Jahre, Infusorien und andre <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0580" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/237866"/> <fw type="header" place="top"> Weltentwicklung und Nleltschöpfung</fw><lb/> <p xml:id="ID_2955" prev="#ID_2954"> terrenis, daß die Ausbreitung unsers Wissens über ungeheure Räume und<lb/> in unerhörte Zeiten nicht hindern kann, daß wir uns von einem engern<lb/> Horizont umschlossen fühlen als unsre Vorväter, die nichts von Sternenweiten<lb/> und Milliarden Jahren der Erdgeschichte wußten. Mit aller Erweiterung des<lb/> Wissens ist das Gebiet des Unbekannten, Ungcwußten und nie zu Wissenden<lb/> in noch viel stärkeren Maße gewachsen als das kleine gelobte Land des<lb/> Wissens. Wenn es im neunzehnten Jahrhundert Zeiten gab, wo uns die Ergeb¬<lb/> nisse der Wissenschaft dazu führten, daß wir ganz vergaßen, was darüber hinaus<lb/> an Unwißbarem liegt, so ist uns nachgebornen der Sinn für diese ungesehenen<lb/> Weiten noch stärker gewachsen als der Blick in die sinnliche Welt. Tief¬<lb/> sehende Geister hatten das schon zu einer Zeit kommen sehen, als das An¬<lb/> staunen der Sternenräume uoch mit der größten Naivität als ein Blick in die<lb/> Ewigkeit geschätzt und mit Ernst die Frage erörtert wurde, ob das „wirkliche"<lb/> Alter der Erde 20 oder 200 Millionen Jahre sei. In diesem Sinne sprach<lb/> sich schon Hegel in der Logik aus, deren kritische Glossen zu dem Jndiekniesinken<lb/> vor den Sternenweiten zu den geistvollen und tiefen Randbemerkungen ge¬<lb/> hören, die dem gewöhnlichen Leser über die Dumpfheit manchen Kapitels weg¬<lb/> helfen. Allerdings war ihm darin Schiller vorangegangen mit seinen herrlichen<lb/> Versen:</p><lb/> <quote> Schwatzet mir nicht soviel von Nebelflecken und Sonnen!<lb/> Ist die Natur nur groß, weil sie zu zählen euch giebt?<lb/> Euer Gegenstand ist der erhabenste freilich im Raume,<lb/> Aber, Freunde, im Reinen wohnt das Erhabene nicht.</quote><lb/> <p xml:id="ID_2956" next="#ID_2957"> Heute imponieren uns Milliarden Sterne, Jahre, Infusorien und andre<lb/> große Zahlenausdrücke uoch viel weniger, denn wir haben uns gewöhnt,<lb/> immer noch einmal darüber hinauszuschauen, wo wir immer wieder größere<lb/> Reihen und Mengen finden, und so in inümwru. Und wenn wir uus nun satt<lb/> geschaut und müde gedacht haben, stehn wir auf demselben schmalen Ufer der<lb/> Zeit wie vorher, und der Ozean der Ewigkeit dehnt sich in die Weite hinaus,<lb/> wohin nie, nie unser Blick dringen wird. Und so ist all unser Mühen um¬<lb/> sonst, uns aus dem Ringe herauszudenken, den die Schranken unsrer Natur<lb/> um uns ziehn. Daran ändern die größten Teleskope, die feinsten Mikroskope<lb/> und die kühnsten Hypothesen nichts. Wir können die Dinge außer uns<lb/> nicht einmal erkennen, wie sie sind, sondern nur wie sie uns erscheinen, und<lb/> wo wir uns hinwenden mögen, immer bleiben wir in unsrer Welt gefangen,<lb/> was wir dann allerdings mit einem Satze Kants tröstlich so ausdrücken können,<lb/> daß unser Verstand seine Gesetze nicht aus der Natur schöpft, sondern sie der<lb/> Natur vorschreibt. Das ist ungefähr so, wie wenn ein Kurzsichtiger sagt: Ich<lb/> schreibe der Natur vor, mir nur das Nächste zu zeigen, alle Fernen mir verhüllt<lb/> zu halten. Ich möchte statt dieses Satzes, der in Wirklichkeit keinen Trost<lb/> enthält, das Sichbescheiden gegenüber dem Unendlichen als den positiven<lb/> Gewinn dieser Blicke ins Leere und Dunkle bezeichnen. Es ist ja auch nur<lb/> ein Zurücktreten in die Grenzen meiner Zeitlichkeit, aber es bewahrt mich doch<lb/> davor, daß ich mein geistiges Leben in einem ewigen Kampf zwischen geistigem<lb/> Hoffen und Enttäuschtwcrden verbringe. Es liegt aber ein noch viel größerer</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0580]
Weltentwicklung und Nleltschöpfung
terrenis, daß die Ausbreitung unsers Wissens über ungeheure Räume und
in unerhörte Zeiten nicht hindern kann, daß wir uns von einem engern
Horizont umschlossen fühlen als unsre Vorväter, die nichts von Sternenweiten
und Milliarden Jahren der Erdgeschichte wußten. Mit aller Erweiterung des
Wissens ist das Gebiet des Unbekannten, Ungcwußten und nie zu Wissenden
in noch viel stärkeren Maße gewachsen als das kleine gelobte Land des
Wissens. Wenn es im neunzehnten Jahrhundert Zeiten gab, wo uns die Ergeb¬
nisse der Wissenschaft dazu führten, daß wir ganz vergaßen, was darüber hinaus
an Unwißbarem liegt, so ist uns nachgebornen der Sinn für diese ungesehenen
Weiten noch stärker gewachsen als der Blick in die sinnliche Welt. Tief¬
sehende Geister hatten das schon zu einer Zeit kommen sehen, als das An¬
staunen der Sternenräume uoch mit der größten Naivität als ein Blick in die
Ewigkeit geschätzt und mit Ernst die Frage erörtert wurde, ob das „wirkliche"
Alter der Erde 20 oder 200 Millionen Jahre sei. In diesem Sinne sprach
sich schon Hegel in der Logik aus, deren kritische Glossen zu dem Jndiekniesinken
vor den Sternenweiten zu den geistvollen und tiefen Randbemerkungen ge¬
hören, die dem gewöhnlichen Leser über die Dumpfheit manchen Kapitels weg¬
helfen. Allerdings war ihm darin Schiller vorangegangen mit seinen herrlichen
Versen:
Schwatzet mir nicht soviel von Nebelflecken und Sonnen!
Ist die Natur nur groß, weil sie zu zählen euch giebt?
Euer Gegenstand ist der erhabenste freilich im Raume,
Aber, Freunde, im Reinen wohnt das Erhabene nicht.
Heute imponieren uns Milliarden Sterne, Jahre, Infusorien und andre
große Zahlenausdrücke uoch viel weniger, denn wir haben uns gewöhnt,
immer noch einmal darüber hinauszuschauen, wo wir immer wieder größere
Reihen und Mengen finden, und so in inümwru. Und wenn wir uus nun satt
geschaut und müde gedacht haben, stehn wir auf demselben schmalen Ufer der
Zeit wie vorher, und der Ozean der Ewigkeit dehnt sich in die Weite hinaus,
wohin nie, nie unser Blick dringen wird. Und so ist all unser Mühen um¬
sonst, uns aus dem Ringe herauszudenken, den die Schranken unsrer Natur
um uns ziehn. Daran ändern die größten Teleskope, die feinsten Mikroskope
und die kühnsten Hypothesen nichts. Wir können die Dinge außer uns
nicht einmal erkennen, wie sie sind, sondern nur wie sie uns erscheinen, und
wo wir uns hinwenden mögen, immer bleiben wir in unsrer Welt gefangen,
was wir dann allerdings mit einem Satze Kants tröstlich so ausdrücken können,
daß unser Verstand seine Gesetze nicht aus der Natur schöpft, sondern sie der
Natur vorschreibt. Das ist ungefähr so, wie wenn ein Kurzsichtiger sagt: Ich
schreibe der Natur vor, mir nur das Nächste zu zeigen, alle Fernen mir verhüllt
zu halten. Ich möchte statt dieses Satzes, der in Wirklichkeit keinen Trost
enthält, das Sichbescheiden gegenüber dem Unendlichen als den positiven
Gewinn dieser Blicke ins Leere und Dunkle bezeichnen. Es ist ja auch nur
ein Zurücktreten in die Grenzen meiner Zeitlichkeit, aber es bewahrt mich doch
davor, daß ich mein geistiges Leben in einem ewigen Kampf zwischen geistigem
Hoffen und Enttäuschtwcrden verbringe. Es liegt aber ein noch viel größerer
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