Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 61, 1902, Zweites Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Weltentwicklung und Weltschöpfung

sich vorbehaltend, Besseres an ihre Stelle zu setzen, wenn die Gelegenheit ge¬
kommen sein werde. Sogar die so oft wie eine letzte Erkenntnis hingestellte
Theorie der Entwicklung des Sonnensystems ans einem Urnebel, die fälschlich
unter Kants Namen geht, ist nur eine Meinung, die von manchen ernsten
Forschern nicht geteilt, wohl aber dem großen Publikum wie ein Dogma ver¬
kündigt wird. Nicht bloß Fechner hat gegen die "Nachtansicht" protestiert,
die Licht, Farbe und Ton und alles, was die Welt um uns reich und schön
macht, für Sinnestäuschung erklärt; es hat sogar alleu Anschein, als ob auf
die Herrschaft dieser Ansicht die Anerkennung der Wirklichkeit, wie sie vor
der naiven Menschenseele liegt, folgen werde. Und so sehen wir eine "all¬
gemein geteilte" Ansicht nach der andern hinabsinken und verlernen immer
mehr den Glauben an die Allgemein- und Ewiggiltigkcit angeblicher Natur¬
gesetze, die uus mit der Miene der Unfehlbarkeit vorgetragen, aber dann auch
unter Umständen ganz unbefangen wieder zurückgezogen werden. Die Natur¬
wissenschaften verdienen unser Vertrauen nur, wo sie uns Kunde geben auf
die Frage: Wie sind und verlaufen die Dinge? So lange sie beschreiben,
und zur Beschreibung gehört ja auch der Nachweis der Folge von Ursache
und Wirkung im Bereich unsrer Wahrnehmung, die wir Gesetz nennen, ver¬
dienen sie in der Regel Vertrauen, wiewohl es bekanntlich auch Leute giebt,
die nicht einmal genau berichten können, was sie gesehen oder gehört haben.
Niemand ist einstweilen gebunden, alles für wahr zu halten, was große
Astronomen auf dem Mars sehen! Wenn sie über die Grenzen der Beobachtung
hinausschweifen, wollen wir ihr Fürwahrhalten nur nach gründlicher philoso¬
phischer Prüfung hinnehmen oder -- ablehnen. Jedenfalls werden wir uns nicht
mehr einreden lassen, die Naturwissenschaften hätten die Philosophie überflüssig
gemacht, weil sie für sich allein zur Beantwortung aller Fragen ausreichten, die
der Mensch vernünftigerweise aufwerfen könne. Nachdem wir die naturwissen¬
schaftliche Weltanschauung als eine Decke kennen gelernt haben, die zu kurz ist
und außerdem noch einige große Löcher hat, haben wir uns notgedrungen zur
Philosophie zurückgewandt,'die uus von vornherein mindestens durch dre Er¬
fahrungen und Prüfungen eines tausendjährigen Alters eine Gewähr giebt,
daß sie nicht mit jugendlicher Unvorsichtigkeit Erkenntnisse verheißt, die sie selbst
nicht hat und auch nicht verschaffen kann. Philosophie muß doch wenigstens in
dreitausend Jahren gelernt haben, was der Mensch wissen kann und was nicht;
und gerade darüber hat uns ja die Naturwissenschaft im unklaren gelassen,
da sie immer mehr versprach, als sie erfüllen konnte. Le.na n'ac geschah es
Wohl, aber was hilft mir der gute Glaube, wenn ich in der Sackgasse stecke?
Ich muß heraus. Aber mein Leben ist kurz, und noch kürzer ist die Reihe
der Jahre, in denen ich mich fröhlich und eifrig dem Geschäft des Denkens
widme. Es ist ein Jammer um jeden Tag, den ich in eiteln Bemühen
verliere.




Frage ich die besten Kenner der Natur und unsers Wissens von der
Natur, so finde ich im Kern aller ehrlichen Antworten immer wieder die Er-


Weltentwicklung und Weltschöpfung

sich vorbehaltend, Besseres an ihre Stelle zu setzen, wenn die Gelegenheit ge¬
kommen sein werde. Sogar die so oft wie eine letzte Erkenntnis hingestellte
Theorie der Entwicklung des Sonnensystems ans einem Urnebel, die fälschlich
unter Kants Namen geht, ist nur eine Meinung, die von manchen ernsten
Forschern nicht geteilt, wohl aber dem großen Publikum wie ein Dogma ver¬
kündigt wird. Nicht bloß Fechner hat gegen die „Nachtansicht" protestiert,
die Licht, Farbe und Ton und alles, was die Welt um uns reich und schön
macht, für Sinnestäuschung erklärt; es hat sogar alleu Anschein, als ob auf
die Herrschaft dieser Ansicht die Anerkennung der Wirklichkeit, wie sie vor
der naiven Menschenseele liegt, folgen werde. Und so sehen wir eine „all¬
gemein geteilte" Ansicht nach der andern hinabsinken und verlernen immer
mehr den Glauben an die Allgemein- und Ewiggiltigkcit angeblicher Natur¬
gesetze, die uus mit der Miene der Unfehlbarkeit vorgetragen, aber dann auch
unter Umständen ganz unbefangen wieder zurückgezogen werden. Die Natur¬
wissenschaften verdienen unser Vertrauen nur, wo sie uns Kunde geben auf
die Frage: Wie sind und verlaufen die Dinge? So lange sie beschreiben,
und zur Beschreibung gehört ja auch der Nachweis der Folge von Ursache
und Wirkung im Bereich unsrer Wahrnehmung, die wir Gesetz nennen, ver¬
dienen sie in der Regel Vertrauen, wiewohl es bekanntlich auch Leute giebt,
die nicht einmal genau berichten können, was sie gesehen oder gehört haben.
Niemand ist einstweilen gebunden, alles für wahr zu halten, was große
Astronomen auf dem Mars sehen! Wenn sie über die Grenzen der Beobachtung
hinausschweifen, wollen wir ihr Fürwahrhalten nur nach gründlicher philoso¬
phischer Prüfung hinnehmen oder — ablehnen. Jedenfalls werden wir uns nicht
mehr einreden lassen, die Naturwissenschaften hätten die Philosophie überflüssig
gemacht, weil sie für sich allein zur Beantwortung aller Fragen ausreichten, die
der Mensch vernünftigerweise aufwerfen könne. Nachdem wir die naturwissen¬
schaftliche Weltanschauung als eine Decke kennen gelernt haben, die zu kurz ist
und außerdem noch einige große Löcher hat, haben wir uns notgedrungen zur
Philosophie zurückgewandt,'die uus von vornherein mindestens durch dre Er¬
fahrungen und Prüfungen eines tausendjährigen Alters eine Gewähr giebt,
daß sie nicht mit jugendlicher Unvorsichtigkeit Erkenntnisse verheißt, die sie selbst
nicht hat und auch nicht verschaffen kann. Philosophie muß doch wenigstens in
dreitausend Jahren gelernt haben, was der Mensch wissen kann und was nicht;
und gerade darüber hat uns ja die Naturwissenschaft im unklaren gelassen,
da sie immer mehr versprach, als sie erfüllen konnte. Le.na n'ac geschah es
Wohl, aber was hilft mir der gute Glaube, wenn ich in der Sackgasse stecke?
Ich muß heraus. Aber mein Leben ist kurz, und noch kürzer ist die Reihe
der Jahre, in denen ich mich fröhlich und eifrig dem Geschäft des Denkens
widme. Es ist ein Jammer um jeden Tag, den ich in eiteln Bemühen
verliere.




Frage ich die besten Kenner der Natur und unsers Wissens von der
Natur, so finde ich im Kern aller ehrlichen Antworten immer wieder die Er-


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0579" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/237865"/>
          <fw type="header" place="top"> Weltentwicklung und Weltschöpfung</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_2953" prev="#ID_2952"> sich vorbehaltend, Besseres an ihre Stelle zu setzen, wenn die Gelegenheit ge¬<lb/>
kommen sein werde.  Sogar die so oft wie eine letzte Erkenntnis hingestellte<lb/>
Theorie der Entwicklung des Sonnensystems ans einem Urnebel, die fälschlich<lb/>
unter Kants Namen geht, ist nur eine Meinung, die von manchen ernsten<lb/>
Forschern nicht geteilt, wohl aber dem großen Publikum wie ein Dogma ver¬<lb/>
kündigt wird.  Nicht bloß Fechner hat gegen die &#x201E;Nachtansicht" protestiert,<lb/>
die Licht, Farbe und Ton und alles, was die Welt um uns reich und schön<lb/>
macht, für Sinnestäuschung erklärt; es hat sogar alleu Anschein, als ob auf<lb/>
die Herrschaft dieser Ansicht die Anerkennung der Wirklichkeit, wie sie vor<lb/>
der naiven Menschenseele liegt, folgen werde.  Und so sehen wir eine &#x201E;all¬<lb/>
gemein geteilte" Ansicht nach der andern hinabsinken und verlernen immer<lb/>
mehr den Glauben an die Allgemein- und Ewiggiltigkcit angeblicher Natur¬<lb/>
gesetze, die uus mit der Miene der Unfehlbarkeit vorgetragen, aber dann auch<lb/>
unter Umständen ganz unbefangen wieder zurückgezogen werden. Die Natur¬<lb/>
wissenschaften verdienen unser Vertrauen nur, wo sie uns Kunde geben auf<lb/>
die Frage: Wie sind und verlaufen die Dinge? So lange sie beschreiben,<lb/>
und zur Beschreibung gehört ja auch der Nachweis der Folge von Ursache<lb/>
und Wirkung im Bereich unsrer Wahrnehmung, die wir Gesetz nennen, ver¬<lb/>
dienen sie in der Regel Vertrauen, wiewohl es bekanntlich auch Leute giebt,<lb/>
die nicht einmal genau berichten können, was sie gesehen oder gehört haben.<lb/>
Niemand ist einstweilen gebunden, alles für wahr zu halten, was große<lb/>
Astronomen auf dem Mars sehen! Wenn sie über die Grenzen der Beobachtung<lb/>
hinausschweifen, wollen wir ihr Fürwahrhalten nur nach gründlicher philoso¬<lb/>
phischer Prüfung hinnehmen oder &#x2014; ablehnen. Jedenfalls werden wir uns nicht<lb/>
mehr einreden lassen, die Naturwissenschaften hätten die Philosophie überflüssig<lb/>
gemacht, weil sie für sich allein zur Beantwortung aller Fragen ausreichten, die<lb/>
der Mensch vernünftigerweise aufwerfen könne. Nachdem wir die naturwissen¬<lb/>
schaftliche Weltanschauung als eine Decke kennen gelernt haben, die zu kurz ist<lb/>
und außerdem noch einige große Löcher hat, haben wir uns notgedrungen zur<lb/>
Philosophie zurückgewandt,'die uus von vornherein mindestens durch dre Er¬<lb/>
fahrungen und Prüfungen eines tausendjährigen Alters eine Gewähr giebt,<lb/>
daß sie nicht mit jugendlicher Unvorsichtigkeit Erkenntnisse verheißt, die sie selbst<lb/>
nicht hat und auch nicht verschaffen kann. Philosophie muß doch wenigstens in<lb/>
dreitausend Jahren gelernt haben, was der Mensch wissen kann und was nicht;<lb/>
und gerade darüber hat uns ja die Naturwissenschaft im unklaren gelassen,<lb/>
da sie immer mehr versprach, als sie erfüllen konnte.  Le.na n'ac geschah es<lb/>
Wohl, aber was hilft mir der gute Glaube, wenn ich in der Sackgasse stecke?<lb/>
Ich muß heraus.  Aber mein Leben ist kurz, und noch kürzer ist die Reihe<lb/>
der Jahre, in denen ich mich fröhlich und eifrig dem Geschäft des Denkens<lb/>
widme.  Es ist ein Jammer um jeden Tag, den ich in eiteln Bemühen<lb/>
verliere.</p><lb/>
          <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
          <p xml:id="ID_2954" next="#ID_2955"> Frage ich die besten Kenner der Natur und unsers Wissens von der<lb/>
Natur, so finde ich im Kern aller ehrlichen Antworten immer wieder die Er-</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0579] Weltentwicklung und Weltschöpfung sich vorbehaltend, Besseres an ihre Stelle zu setzen, wenn die Gelegenheit ge¬ kommen sein werde. Sogar die so oft wie eine letzte Erkenntnis hingestellte Theorie der Entwicklung des Sonnensystems ans einem Urnebel, die fälschlich unter Kants Namen geht, ist nur eine Meinung, die von manchen ernsten Forschern nicht geteilt, wohl aber dem großen Publikum wie ein Dogma ver¬ kündigt wird. Nicht bloß Fechner hat gegen die „Nachtansicht" protestiert, die Licht, Farbe und Ton und alles, was die Welt um uns reich und schön macht, für Sinnestäuschung erklärt; es hat sogar alleu Anschein, als ob auf die Herrschaft dieser Ansicht die Anerkennung der Wirklichkeit, wie sie vor der naiven Menschenseele liegt, folgen werde. Und so sehen wir eine „all¬ gemein geteilte" Ansicht nach der andern hinabsinken und verlernen immer mehr den Glauben an die Allgemein- und Ewiggiltigkcit angeblicher Natur¬ gesetze, die uus mit der Miene der Unfehlbarkeit vorgetragen, aber dann auch unter Umständen ganz unbefangen wieder zurückgezogen werden. Die Natur¬ wissenschaften verdienen unser Vertrauen nur, wo sie uns Kunde geben auf die Frage: Wie sind und verlaufen die Dinge? So lange sie beschreiben, und zur Beschreibung gehört ja auch der Nachweis der Folge von Ursache und Wirkung im Bereich unsrer Wahrnehmung, die wir Gesetz nennen, ver¬ dienen sie in der Regel Vertrauen, wiewohl es bekanntlich auch Leute giebt, die nicht einmal genau berichten können, was sie gesehen oder gehört haben. Niemand ist einstweilen gebunden, alles für wahr zu halten, was große Astronomen auf dem Mars sehen! Wenn sie über die Grenzen der Beobachtung hinausschweifen, wollen wir ihr Fürwahrhalten nur nach gründlicher philoso¬ phischer Prüfung hinnehmen oder — ablehnen. Jedenfalls werden wir uns nicht mehr einreden lassen, die Naturwissenschaften hätten die Philosophie überflüssig gemacht, weil sie für sich allein zur Beantwortung aller Fragen ausreichten, die der Mensch vernünftigerweise aufwerfen könne. Nachdem wir die naturwissen¬ schaftliche Weltanschauung als eine Decke kennen gelernt haben, die zu kurz ist und außerdem noch einige große Löcher hat, haben wir uns notgedrungen zur Philosophie zurückgewandt,'die uus von vornherein mindestens durch dre Er¬ fahrungen und Prüfungen eines tausendjährigen Alters eine Gewähr giebt, daß sie nicht mit jugendlicher Unvorsichtigkeit Erkenntnisse verheißt, die sie selbst nicht hat und auch nicht verschaffen kann. Philosophie muß doch wenigstens in dreitausend Jahren gelernt haben, was der Mensch wissen kann und was nicht; und gerade darüber hat uns ja die Naturwissenschaft im unklaren gelassen, da sie immer mehr versprach, als sie erfüllen konnte. Le.na n'ac geschah es Wohl, aber was hilft mir der gute Glaube, wenn ich in der Sackgasse stecke? Ich muß heraus. Aber mein Leben ist kurz, und noch kürzer ist die Reihe der Jahre, in denen ich mich fröhlich und eifrig dem Geschäft des Denkens widme. Es ist ein Jammer um jeden Tag, den ich in eiteln Bemühen verliere. Frage ich die besten Kenner der Natur und unsers Wissens von der Natur, so finde ich im Kern aller ehrlichen Antworten immer wieder die Er-

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341875_237285
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341875_237285/579
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 61, 1902, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341875_237285/579>, abgerufen am 23.07.2024.