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Die Grenzboten. Jg. 61, 1902, Zweites Vierteljahr.

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Die Lehren der Geschichte Hollands und Englands

rung Preußens hat Deutschland, solange es nach seiner nationalen Erhebung
für seine kontinentalen Interessen zu sorgen hatte, diesen Grundsatz mit einem
Erfolg in Anwendung gebracht, der es ans der letzten in die erste Stelle
nnter den europäischen Mächten gebracht hat. Seitdem ist es, dem Zuge
seiner großen Ströme folgend, mit seiner Handels- und Kriegsflotte mitten in
die Weltpolitik getreten, deren Kreise bis dahin nur von England und Frank¬
reich, von Rußland und Nordamerika gezogen wurden.

Während dies geschah, ist im deutschen Reichstage zwei Jahrzehnte lang
darüber hin und her geredet worden, daß das Reich infolge seiner kontinen¬
talen Lage und des Vorsprungs, den nun einmal die Weltmächte vor ihm
hätten, niemals daran denken dürfe, aus den Grenzen einer Seemacht zweiten
Ranges hinauszutreten. Als ob das ein Axiom gewesen wäre, und als ob
darüber nicht die Notwendigkeiten des realen Daseins entschieden, die den
Staat so gut anf die Wellen des Meeres begleiten, wie sie sein Handeln auf
dem festen Boden des Landes bestimmen. Glücklicherweise ist der Doktri¬
narismus, der ni der Erörterung solcher Theorien sein Behagen hat, in diesem
Falle überwunden, aber es wäre ein Wunder, wenn er, an dem einen Punkte
geschlagen, sich nicht an einer andern Stelle wieder festsetzte und seine graue
Redekraft entfaltete.

Ja, und hat er nicht in Wirklichkeit schon seine Vorbereitungen dazu ge¬
troffen? Als nach heißem Bemühen darum die Schlachtflotte endlich bewilligt
wurde, sind doch die Auslnndschiffe gestrichen worden. Ohne Abstreichen geht
es nun einmal in Deutschland nicht, und doch haben wir diese Schiffe nötig
wie der Reiter den Sattel, wenn er festsitzen soll. Für jeden unbefangen
denkenden Menschen find die Ereignisse des chinesischen Kriegs, um vou allem
andern zu schweigen, von einer Beweiskraft, wie sie schlagender nicht gebracht
werden kann. Angesichts dessen, was in der Welt geschieht, und was jeden
Augenblick eintreten kann, wäre nichts verständiger, als eine von allen natio¬
nalen Parteien des Reichstags unterstützte Jnterpellation an die Negierung,
ob sie nicht den Bau der Schlachtschiffe beschleunigen und den der für das
Ausland bestimmten nunmehr in Vorschlag bringen wolle.

Die Nachrichten ans den Ereignissen der Vergangenheit schallen an unser
Ohr, und die Not der Gegenwart sitzt uns im Nacken. Drohen nicht auch
aus der Zukunft die Gefahren, die von der Verschlampung unsers Magens
herrühren? Die bleichen Gesichter aller der holländischen Admiräle, die ihr
Herzblut umsonst fürs Vaterland strömen ließen, reden eine Sprache, die
unser tiefstes Innere aufstört. Die Niederländer besaßen, wie sie es jetzt noch
one haben, das Mündungsgebiet des Rheins, das mit seinen vielen großen
und kleinen Buchten der Ausgangspunkt einer Macht wurde, die ein Jahr¬
hundert lang zu Wasser und zu Lande nur von sich die Gesetze hernahm. Die
Grundlage zu einer gleichen Entwicklung bieten auch die Ausflüsse der Eins,
der Weser und der Elbe. Von jeher hat an ihnen ein Geschlecht gewohnt,
das dem Drange der Wogen zu gebieten, ihre Tragkraft zu benutzen verstand.
Von den zwischen ihnen liegenden Gestaden fuhren im Ausgang des Alter¬
tums die Angeln und die Sachsen aus und eroberten Britannien.


Die Lehren der Geschichte Hollands und Englands

rung Preußens hat Deutschland, solange es nach seiner nationalen Erhebung
für seine kontinentalen Interessen zu sorgen hatte, diesen Grundsatz mit einem
Erfolg in Anwendung gebracht, der es ans der letzten in die erste Stelle
nnter den europäischen Mächten gebracht hat. Seitdem ist es, dem Zuge
seiner großen Ströme folgend, mit seiner Handels- und Kriegsflotte mitten in
die Weltpolitik getreten, deren Kreise bis dahin nur von England und Frank¬
reich, von Rußland und Nordamerika gezogen wurden.

Während dies geschah, ist im deutschen Reichstage zwei Jahrzehnte lang
darüber hin und her geredet worden, daß das Reich infolge seiner kontinen¬
talen Lage und des Vorsprungs, den nun einmal die Weltmächte vor ihm
hätten, niemals daran denken dürfe, aus den Grenzen einer Seemacht zweiten
Ranges hinauszutreten. Als ob das ein Axiom gewesen wäre, und als ob
darüber nicht die Notwendigkeiten des realen Daseins entschieden, die den
Staat so gut anf die Wellen des Meeres begleiten, wie sie sein Handeln auf
dem festen Boden des Landes bestimmen. Glücklicherweise ist der Doktri¬
narismus, der ni der Erörterung solcher Theorien sein Behagen hat, in diesem
Falle überwunden, aber es wäre ein Wunder, wenn er, an dem einen Punkte
geschlagen, sich nicht an einer andern Stelle wieder festsetzte und seine graue
Redekraft entfaltete.

Ja, und hat er nicht in Wirklichkeit schon seine Vorbereitungen dazu ge¬
troffen? Als nach heißem Bemühen darum die Schlachtflotte endlich bewilligt
wurde, sind doch die Auslnndschiffe gestrichen worden. Ohne Abstreichen geht
es nun einmal in Deutschland nicht, und doch haben wir diese Schiffe nötig
wie der Reiter den Sattel, wenn er festsitzen soll. Für jeden unbefangen
denkenden Menschen find die Ereignisse des chinesischen Kriegs, um vou allem
andern zu schweigen, von einer Beweiskraft, wie sie schlagender nicht gebracht
werden kann. Angesichts dessen, was in der Welt geschieht, und was jeden
Augenblick eintreten kann, wäre nichts verständiger, als eine von allen natio¬
nalen Parteien des Reichstags unterstützte Jnterpellation an die Negierung,
ob sie nicht den Bau der Schlachtschiffe beschleunigen und den der für das
Ausland bestimmten nunmehr in Vorschlag bringen wolle.

Die Nachrichten ans den Ereignissen der Vergangenheit schallen an unser
Ohr, und die Not der Gegenwart sitzt uns im Nacken. Drohen nicht auch
aus der Zukunft die Gefahren, die von der Verschlampung unsers Magens
herrühren? Die bleichen Gesichter aller der holländischen Admiräle, die ihr
Herzblut umsonst fürs Vaterland strömen ließen, reden eine Sprache, die
unser tiefstes Innere aufstört. Die Niederländer besaßen, wie sie es jetzt noch
one haben, das Mündungsgebiet des Rheins, das mit seinen vielen großen
und kleinen Buchten der Ausgangspunkt einer Macht wurde, die ein Jahr¬
hundert lang zu Wasser und zu Lande nur von sich die Gesetze hernahm. Die
Grundlage zu einer gleichen Entwicklung bieten auch die Ausflüsse der Eins,
der Weser und der Elbe. Von jeher hat an ihnen ein Geschlecht gewohnt,
das dem Drange der Wogen zu gebieten, ihre Tragkraft zu benutzen verstand.
Von den zwischen ihnen liegenden Gestaden fuhren im Ausgang des Alter¬
tums die Angeln und die Sachsen aus und eroberten Britannien.


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[0485] Die Lehren der Geschichte Hollands und Englands rung Preußens hat Deutschland, solange es nach seiner nationalen Erhebung für seine kontinentalen Interessen zu sorgen hatte, diesen Grundsatz mit einem Erfolg in Anwendung gebracht, der es ans der letzten in die erste Stelle nnter den europäischen Mächten gebracht hat. Seitdem ist es, dem Zuge seiner großen Ströme folgend, mit seiner Handels- und Kriegsflotte mitten in die Weltpolitik getreten, deren Kreise bis dahin nur von England und Frank¬ reich, von Rußland und Nordamerika gezogen wurden. Während dies geschah, ist im deutschen Reichstage zwei Jahrzehnte lang darüber hin und her geredet worden, daß das Reich infolge seiner kontinen¬ talen Lage und des Vorsprungs, den nun einmal die Weltmächte vor ihm hätten, niemals daran denken dürfe, aus den Grenzen einer Seemacht zweiten Ranges hinauszutreten. Als ob das ein Axiom gewesen wäre, und als ob darüber nicht die Notwendigkeiten des realen Daseins entschieden, die den Staat so gut anf die Wellen des Meeres begleiten, wie sie sein Handeln auf dem festen Boden des Landes bestimmen. Glücklicherweise ist der Doktri¬ narismus, der ni der Erörterung solcher Theorien sein Behagen hat, in diesem Falle überwunden, aber es wäre ein Wunder, wenn er, an dem einen Punkte geschlagen, sich nicht an einer andern Stelle wieder festsetzte und seine graue Redekraft entfaltete. Ja, und hat er nicht in Wirklichkeit schon seine Vorbereitungen dazu ge¬ troffen? Als nach heißem Bemühen darum die Schlachtflotte endlich bewilligt wurde, sind doch die Auslnndschiffe gestrichen worden. Ohne Abstreichen geht es nun einmal in Deutschland nicht, und doch haben wir diese Schiffe nötig wie der Reiter den Sattel, wenn er festsitzen soll. Für jeden unbefangen denkenden Menschen find die Ereignisse des chinesischen Kriegs, um vou allem andern zu schweigen, von einer Beweiskraft, wie sie schlagender nicht gebracht werden kann. Angesichts dessen, was in der Welt geschieht, und was jeden Augenblick eintreten kann, wäre nichts verständiger, als eine von allen natio¬ nalen Parteien des Reichstags unterstützte Jnterpellation an die Negierung, ob sie nicht den Bau der Schlachtschiffe beschleunigen und den der für das Ausland bestimmten nunmehr in Vorschlag bringen wolle. Die Nachrichten ans den Ereignissen der Vergangenheit schallen an unser Ohr, und die Not der Gegenwart sitzt uns im Nacken. Drohen nicht auch aus der Zukunft die Gefahren, die von der Verschlampung unsers Magens herrühren? Die bleichen Gesichter aller der holländischen Admiräle, die ihr Herzblut umsonst fürs Vaterland strömen ließen, reden eine Sprache, die unser tiefstes Innere aufstört. Die Niederländer besaßen, wie sie es jetzt noch one haben, das Mündungsgebiet des Rheins, das mit seinen vielen großen und kleinen Buchten der Ausgangspunkt einer Macht wurde, die ein Jahr¬ hundert lang zu Wasser und zu Lande nur von sich die Gesetze hernahm. Die Grundlage zu einer gleichen Entwicklung bieten auch die Ausflüsse der Eins, der Weser und der Elbe. Von jeher hat an ihnen ein Geschlecht gewohnt, das dem Drange der Wogen zu gebieten, ihre Tragkraft zu benutzen verstand. Von den zwischen ihnen liegenden Gestaden fuhren im Ausgang des Alter¬ tums die Angeln und die Sachsen aus und eroberten Britannien.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 61, 1902, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341875_237285/485>, abgerufen am 29.06.2024.