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Die Grenzboten. Jg. 61, 1902, Zweites Vierteljahr.

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Die Lehren der Geschichte Hollands und Englands

Der Einzelne ließ sich diese Einheit, die er in sich lebendig fühlte, nicht zer¬
reißen, und wenn er im Leben noch so tief heruntergekommen war, und was
den Einzelnen hob, das beseelte das Ganze. Wie konnte wohl eine Provinz
daran denken, sich von ihrem Zentrum los zu machen, von dem Zentrum,
das ihr Leben gab, und zu dem sie Blut zurückführte? Die Fabel des Menenius
Agrippa von der Zusammengehörigkeit des Leibes und der Glieder, die aus
der ersten Zeit der Republik stammt, gilt erst recht von den letzten Tagen
des Kaisertums. Als Rom und Italien von den Barbaren unter die Füße
getreten war, hatte das Leben in der Provinz eine Zeit lang noch seinen
Fortgang.

Was hat England dieser von unten nach oben aufstrebenden staatlichen
Einheit entgegen zu stellen? Wenn man es bei Licht besieht, gerade das
Gegenteil. Was bei den Römern durch ein weises Jneincmdersein die Stärke
des Staates ausmachte, das fällt im englischen Gemeinwesen gleich auf seiner
ersten Stufe auseinander und hat seine Schwäche zur Folge. Der englische
Bürger ist kein Soldat, und der Soldat kein Bürger. Der Kolonist, der von
Großbritannien auszieht, kennt zwar mich den Gebrauch der Waffen, aber er
hat ihn nicht im Dienste eines gemeinsamen Vaterlands geübt. Vor der ser¬
vianischen Verfassung trugen die Plebejer die Lanze und das Schwert als
Hörige ihrer Schutzherren, aber der Urheber jener weisen Gesetzgebung stellte
die früher unterdrückten als gleichberechtigt neben die Vollbürger in die Reihen
der Legion ein und bahnte damit die Verschmelzung der bis dahin getrennten
Volksteile an, die zur Eroberung der Welt führte.

Dagegen haben die Engländer in der entscheidenden Zeit, wo das Mittel-
alter endgiltig Abschied nahm, aus Furcht vor ihren absolutistisch gesinnten
Fürsten in einem starken Volksheere nur das Mittel zur Unterdrückung ihrer
bürgerlichen Freiheiten und ihres selbstsüchtigen Wohlbehagens gesehen. Dazu
kam die Sicherheit ihrer insularen Lage, und so übersahen sie ganz, welchen
Wert der Dienst in einem starken Heere für die Erziehung zu nationaler Ge¬
sinnung im Volke hat. Zu einer nationalen Gesinnung, die nicht ihr Wesen
in unberechtigter Überhebung hat, sondern in besonnener Abschätzung der zu
Gebote stehenden Kräfte. Dieser Geist stolzen Selbstbewußtseins verteidigt
den heimatlichen Herd mit Festigkeit und trägt mit Mut sein heiliges Feuer
M ferne Lande.

Häufig ist der Nachteil, der auf die Schuld einer Unterlassung zurückzu¬
führen ist, von nachhaltigerm Gewicht, als der Vorteil, den eine Großthat
einbrachte. Denn die Folgen dieser müssen schwinden, wenn die Kraft nach¬
läßt, die sie ins Leben rief, während jene der Unterlassung immer größere
Kreise ziehn. Was den Engländern mit ihren nordamerikanischen Kolonien
widerfahren ist, können sie auch an Australien und Kanada erleben. Die Be¬
völkerung dieser Länder besteht mit Nichten aus Kolonisten im Sinne des
vivis Il.01ng.un8. Dazu fehlt ihr die hohe sittliche Weihe, die der Einzelne
damit erhält, daß er durch Gesetz gezwungen ist, mit seinem Blut und Leben
für das Bestehn des Ganzen einzutreten. Der Kapengländer und seine
Stammesgenossen in andern Kontinenten führen wohl ihren Besitz und ihre


Die Lehren der Geschichte Hollands und Englands

Der Einzelne ließ sich diese Einheit, die er in sich lebendig fühlte, nicht zer¬
reißen, und wenn er im Leben noch so tief heruntergekommen war, und was
den Einzelnen hob, das beseelte das Ganze. Wie konnte wohl eine Provinz
daran denken, sich von ihrem Zentrum los zu machen, von dem Zentrum,
das ihr Leben gab, und zu dem sie Blut zurückführte? Die Fabel des Menenius
Agrippa von der Zusammengehörigkeit des Leibes und der Glieder, die aus
der ersten Zeit der Republik stammt, gilt erst recht von den letzten Tagen
des Kaisertums. Als Rom und Italien von den Barbaren unter die Füße
getreten war, hatte das Leben in der Provinz eine Zeit lang noch seinen
Fortgang.

Was hat England dieser von unten nach oben aufstrebenden staatlichen
Einheit entgegen zu stellen? Wenn man es bei Licht besieht, gerade das
Gegenteil. Was bei den Römern durch ein weises Jneincmdersein die Stärke
des Staates ausmachte, das fällt im englischen Gemeinwesen gleich auf seiner
ersten Stufe auseinander und hat seine Schwäche zur Folge. Der englische
Bürger ist kein Soldat, und der Soldat kein Bürger. Der Kolonist, der von
Großbritannien auszieht, kennt zwar mich den Gebrauch der Waffen, aber er
hat ihn nicht im Dienste eines gemeinsamen Vaterlands geübt. Vor der ser¬
vianischen Verfassung trugen die Plebejer die Lanze und das Schwert als
Hörige ihrer Schutzherren, aber der Urheber jener weisen Gesetzgebung stellte
die früher unterdrückten als gleichberechtigt neben die Vollbürger in die Reihen
der Legion ein und bahnte damit die Verschmelzung der bis dahin getrennten
Volksteile an, die zur Eroberung der Welt führte.

Dagegen haben die Engländer in der entscheidenden Zeit, wo das Mittel-
alter endgiltig Abschied nahm, aus Furcht vor ihren absolutistisch gesinnten
Fürsten in einem starken Volksheere nur das Mittel zur Unterdrückung ihrer
bürgerlichen Freiheiten und ihres selbstsüchtigen Wohlbehagens gesehen. Dazu
kam die Sicherheit ihrer insularen Lage, und so übersahen sie ganz, welchen
Wert der Dienst in einem starken Heere für die Erziehung zu nationaler Ge¬
sinnung im Volke hat. Zu einer nationalen Gesinnung, die nicht ihr Wesen
in unberechtigter Überhebung hat, sondern in besonnener Abschätzung der zu
Gebote stehenden Kräfte. Dieser Geist stolzen Selbstbewußtseins verteidigt
den heimatlichen Herd mit Festigkeit und trägt mit Mut sein heiliges Feuer
M ferne Lande.

Häufig ist der Nachteil, der auf die Schuld einer Unterlassung zurückzu¬
führen ist, von nachhaltigerm Gewicht, als der Vorteil, den eine Großthat
einbrachte. Denn die Folgen dieser müssen schwinden, wenn die Kraft nach¬
läßt, die sie ins Leben rief, während jene der Unterlassung immer größere
Kreise ziehn. Was den Engländern mit ihren nordamerikanischen Kolonien
widerfahren ist, können sie auch an Australien und Kanada erleben. Die Be¬
völkerung dieser Länder besteht mit Nichten aus Kolonisten im Sinne des
vivis Il.01ng.un8. Dazu fehlt ihr die hohe sittliche Weihe, die der Einzelne
damit erhält, daß er durch Gesetz gezwungen ist, mit seinem Blut und Leben
für das Bestehn des Ganzen einzutreten. Der Kapengländer und seine
Stammesgenossen in andern Kontinenten führen wohl ihren Besitz und ihre


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[0483] Die Lehren der Geschichte Hollands und Englands Der Einzelne ließ sich diese Einheit, die er in sich lebendig fühlte, nicht zer¬ reißen, und wenn er im Leben noch so tief heruntergekommen war, und was den Einzelnen hob, das beseelte das Ganze. Wie konnte wohl eine Provinz daran denken, sich von ihrem Zentrum los zu machen, von dem Zentrum, das ihr Leben gab, und zu dem sie Blut zurückführte? Die Fabel des Menenius Agrippa von der Zusammengehörigkeit des Leibes und der Glieder, die aus der ersten Zeit der Republik stammt, gilt erst recht von den letzten Tagen des Kaisertums. Als Rom und Italien von den Barbaren unter die Füße getreten war, hatte das Leben in der Provinz eine Zeit lang noch seinen Fortgang. Was hat England dieser von unten nach oben aufstrebenden staatlichen Einheit entgegen zu stellen? Wenn man es bei Licht besieht, gerade das Gegenteil. Was bei den Römern durch ein weises Jneincmdersein die Stärke des Staates ausmachte, das fällt im englischen Gemeinwesen gleich auf seiner ersten Stufe auseinander und hat seine Schwäche zur Folge. Der englische Bürger ist kein Soldat, und der Soldat kein Bürger. Der Kolonist, der von Großbritannien auszieht, kennt zwar mich den Gebrauch der Waffen, aber er hat ihn nicht im Dienste eines gemeinsamen Vaterlands geübt. Vor der ser¬ vianischen Verfassung trugen die Plebejer die Lanze und das Schwert als Hörige ihrer Schutzherren, aber der Urheber jener weisen Gesetzgebung stellte die früher unterdrückten als gleichberechtigt neben die Vollbürger in die Reihen der Legion ein und bahnte damit die Verschmelzung der bis dahin getrennten Volksteile an, die zur Eroberung der Welt führte. Dagegen haben die Engländer in der entscheidenden Zeit, wo das Mittel- alter endgiltig Abschied nahm, aus Furcht vor ihren absolutistisch gesinnten Fürsten in einem starken Volksheere nur das Mittel zur Unterdrückung ihrer bürgerlichen Freiheiten und ihres selbstsüchtigen Wohlbehagens gesehen. Dazu kam die Sicherheit ihrer insularen Lage, und so übersahen sie ganz, welchen Wert der Dienst in einem starken Heere für die Erziehung zu nationaler Ge¬ sinnung im Volke hat. Zu einer nationalen Gesinnung, die nicht ihr Wesen in unberechtigter Überhebung hat, sondern in besonnener Abschätzung der zu Gebote stehenden Kräfte. Dieser Geist stolzen Selbstbewußtseins verteidigt den heimatlichen Herd mit Festigkeit und trägt mit Mut sein heiliges Feuer M ferne Lande. Häufig ist der Nachteil, der auf die Schuld einer Unterlassung zurückzu¬ führen ist, von nachhaltigerm Gewicht, als der Vorteil, den eine Großthat einbrachte. Denn die Folgen dieser müssen schwinden, wenn die Kraft nach¬ läßt, die sie ins Leben rief, während jene der Unterlassung immer größere Kreise ziehn. Was den Engländern mit ihren nordamerikanischen Kolonien widerfahren ist, können sie auch an Australien und Kanada erleben. Die Be¬ völkerung dieser Länder besteht mit Nichten aus Kolonisten im Sinne des vivis Il.01ng.un8. Dazu fehlt ihr die hohe sittliche Weihe, die der Einzelne damit erhält, daß er durch Gesetz gezwungen ist, mit seinem Blut und Leben für das Bestehn des Ganzen einzutreten. Der Kapengländer und seine Stammesgenossen in andern Kontinenten führen wohl ihren Besitz und ihre

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 61, 1902, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341875_237285/483>, abgerufen am 29.06.2024.