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Die Grenzboten. Jg. 61, 1902, Zweites Vierteljahr.

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Rede Lord Noseberys in England von sich sprechen: er soll da der kommende
Mann sein. Nach dem, was von dieser Auslassung verlauter, mögen aller¬
dings die Friedensfreunde Grund haben, allerhand Hoffnungen daran zu
knüpfen, aber im übrigen darf bis jetzt mit Recht gezweifelt werden, ob auch
seine Kraft imstande ist, dem jahrhundertelangen Gang der Dinge in England
zu gebieten. Bei unsern Stammesgenossen jenseits des Kanals handelt es
sich nicht um die Beendigung eines Kriegs, wie es etwa die des Jugnrthi-
nischen in Rom war, nicht um irgend welche Maßregeln im landläufigen libe¬
ralen oder konservativen Sinne, sondern um ein grnndstürzendes Eingreifen,
das den Staat auf die ganz andre Basis stellt.

Der Lord Londonderry soll Rosebery den geheimnisvollen Mann genannt
haben, und das ließe auf das Vorhandensein großer Möglichkeiten schließen,
doch das muß vorerst noch außerhalb aller Diskussion bleiben. Ist er bloß
ein Cicero, dann bleibt er besser auf seinem Tuskulnm, hat er aber das Zeug
von einem Cäsar in sich, dann sind doch auch die Schwierigkeiten so groß, daß
in ihrer BewAtiguug auch eine cäsarische Kraft versagen würde. Von diesem
Herrschergenius soll mau nur die reformatorische Seite ins Auge fassen. Mit
welchen Mitteln aber würde Lord Rosebery, ohne Usurpator zu sein -- und
die Rolle ist nicht möglich --, die Axt an die Wurzel des Übels legen, das
sich nun einmal so tief in den englischen Vvlksleib eingefressen hat? Man
mag sagen, was man will, England leidet an der Hypertrophie des Geldes,
die wie die Hydropsie von den edelsten Teilen aus den ganzen Leib lahmt.
Nur die stärksten Mittel einer rücksichtslosen Selbstzucht würde" die Kraft haben,
dem Fortschreiten des Siechtums zu steuern.

Dazu gehören vor allem andern die Einfüyruug der allgemeinen Wehr¬
pflicht und die von Grund aus ansehende Änderung seiner Kolonialpolitik.
Wie die Einrichtungen des englischen Heeresdienstes von der Selbstsucht des
Reichtums herrühren, so beruht die britische Kolonialverwaltung teils auf dem¬
selben Egoismus, teils auf dem harten Vorgehn eines nur sich achtenden
Imperialismus. Die Engländer thun sich viel ans ihren Liberalismus zu
gute, der unter ihnen das Licht der Welt erblickt haben soll, und unter dessen
Devise sie noch immer an der Spitze der Zivilisation marschieren. Mag das
Wort immerhin einmal eine Wahrheit gewesen sein, wiewohl auch hierzu viel
Ansagt werden kaun, so ist es doch augenblicklich zur inhaltlosen Phrase und
abstrakten Formel geworden. Ein melodisch abgestimmtes Schellengeläute, von
dem sich nur solche Leute fangen lassen, deuen das selbständige Denken ab¬
geht, und die glauben, liberal bedeute die Freiheit, von allem Vorhandnen
soviel zu nehmen, wie nur eben angeht, und bloß das wegzugeben, was mit
Recht nicht zurückgehalten werden kann. Das Wort Liberalismus ist das
gwße Fangnetz, das die herrschende Kaste in England über die ganze Breite
des Stromes wirft, um darin festzuhalten, was Leben hat, und ihm nur
das Dasein zu lassen, das bloß der Reflex, nicht der warme Abglanz ihres
eignen ist.

Es sei uns ferne, ungerechtfertigten Anschuldigungen Raum zu geben,
auch wollen wir keine moralischen Anklagen erheben. Was die Engländer im


Grenzboten II 1WS 60

Rede Lord Noseberys in England von sich sprechen: er soll da der kommende
Mann sein. Nach dem, was von dieser Auslassung verlauter, mögen aller¬
dings die Friedensfreunde Grund haben, allerhand Hoffnungen daran zu
knüpfen, aber im übrigen darf bis jetzt mit Recht gezweifelt werden, ob auch
seine Kraft imstande ist, dem jahrhundertelangen Gang der Dinge in England
zu gebieten. Bei unsern Stammesgenossen jenseits des Kanals handelt es
sich nicht um die Beendigung eines Kriegs, wie es etwa die des Jugnrthi-
nischen in Rom war, nicht um irgend welche Maßregeln im landläufigen libe¬
ralen oder konservativen Sinne, sondern um ein grnndstürzendes Eingreifen,
das den Staat auf die ganz andre Basis stellt.

Der Lord Londonderry soll Rosebery den geheimnisvollen Mann genannt
haben, und das ließe auf das Vorhandensein großer Möglichkeiten schließen,
doch das muß vorerst noch außerhalb aller Diskussion bleiben. Ist er bloß
ein Cicero, dann bleibt er besser auf seinem Tuskulnm, hat er aber das Zeug
von einem Cäsar in sich, dann sind doch auch die Schwierigkeiten so groß, daß
in ihrer BewAtiguug auch eine cäsarische Kraft versagen würde. Von diesem
Herrschergenius soll mau nur die reformatorische Seite ins Auge fassen. Mit
welchen Mitteln aber würde Lord Rosebery, ohne Usurpator zu sein — und
die Rolle ist nicht möglich —, die Axt an die Wurzel des Übels legen, das
sich nun einmal so tief in den englischen Vvlksleib eingefressen hat? Man
mag sagen, was man will, England leidet an der Hypertrophie des Geldes,
die wie die Hydropsie von den edelsten Teilen aus den ganzen Leib lahmt.
Nur die stärksten Mittel einer rücksichtslosen Selbstzucht würde» die Kraft haben,
dem Fortschreiten des Siechtums zu steuern.

Dazu gehören vor allem andern die Einfüyruug der allgemeinen Wehr¬
pflicht und die von Grund aus ansehende Änderung seiner Kolonialpolitik.
Wie die Einrichtungen des englischen Heeresdienstes von der Selbstsucht des
Reichtums herrühren, so beruht die britische Kolonialverwaltung teils auf dem¬
selben Egoismus, teils auf dem harten Vorgehn eines nur sich achtenden
Imperialismus. Die Engländer thun sich viel ans ihren Liberalismus zu
gute, der unter ihnen das Licht der Welt erblickt haben soll, und unter dessen
Devise sie noch immer an der Spitze der Zivilisation marschieren. Mag das
Wort immerhin einmal eine Wahrheit gewesen sein, wiewohl auch hierzu viel
Ansagt werden kaun, so ist es doch augenblicklich zur inhaltlosen Phrase und
abstrakten Formel geworden. Ein melodisch abgestimmtes Schellengeläute, von
dem sich nur solche Leute fangen lassen, deuen das selbständige Denken ab¬
geht, und die glauben, liberal bedeute die Freiheit, von allem Vorhandnen
soviel zu nehmen, wie nur eben angeht, und bloß das wegzugeben, was mit
Recht nicht zurückgehalten werden kann. Das Wort Liberalismus ist das
gwße Fangnetz, das die herrschende Kaste in England über die ganze Breite
des Stromes wirft, um darin festzuhalten, was Leben hat, und ihm nur
das Dasein zu lassen, das bloß der Reflex, nicht der warme Abglanz ihres
eignen ist.

Es sei uns ferne, ungerechtfertigten Anschuldigungen Raum zu geben,
auch wollen wir keine moralischen Anklagen erheben. Was die Engländer im


Grenzboten II 1WS 60
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[0481] Rede Lord Noseberys in England von sich sprechen: er soll da der kommende Mann sein. Nach dem, was von dieser Auslassung verlauter, mögen aller¬ dings die Friedensfreunde Grund haben, allerhand Hoffnungen daran zu knüpfen, aber im übrigen darf bis jetzt mit Recht gezweifelt werden, ob auch seine Kraft imstande ist, dem jahrhundertelangen Gang der Dinge in England zu gebieten. Bei unsern Stammesgenossen jenseits des Kanals handelt es sich nicht um die Beendigung eines Kriegs, wie es etwa die des Jugnrthi- nischen in Rom war, nicht um irgend welche Maßregeln im landläufigen libe¬ ralen oder konservativen Sinne, sondern um ein grnndstürzendes Eingreifen, das den Staat auf die ganz andre Basis stellt. Der Lord Londonderry soll Rosebery den geheimnisvollen Mann genannt haben, und das ließe auf das Vorhandensein großer Möglichkeiten schließen, doch das muß vorerst noch außerhalb aller Diskussion bleiben. Ist er bloß ein Cicero, dann bleibt er besser auf seinem Tuskulnm, hat er aber das Zeug von einem Cäsar in sich, dann sind doch auch die Schwierigkeiten so groß, daß in ihrer BewAtiguug auch eine cäsarische Kraft versagen würde. Von diesem Herrschergenius soll mau nur die reformatorische Seite ins Auge fassen. Mit welchen Mitteln aber würde Lord Rosebery, ohne Usurpator zu sein — und die Rolle ist nicht möglich —, die Axt an die Wurzel des Übels legen, das sich nun einmal so tief in den englischen Vvlksleib eingefressen hat? Man mag sagen, was man will, England leidet an der Hypertrophie des Geldes, die wie die Hydropsie von den edelsten Teilen aus den ganzen Leib lahmt. Nur die stärksten Mittel einer rücksichtslosen Selbstzucht würde» die Kraft haben, dem Fortschreiten des Siechtums zu steuern. Dazu gehören vor allem andern die Einfüyruug der allgemeinen Wehr¬ pflicht und die von Grund aus ansehende Änderung seiner Kolonialpolitik. Wie die Einrichtungen des englischen Heeresdienstes von der Selbstsucht des Reichtums herrühren, so beruht die britische Kolonialverwaltung teils auf dem¬ selben Egoismus, teils auf dem harten Vorgehn eines nur sich achtenden Imperialismus. Die Engländer thun sich viel ans ihren Liberalismus zu gute, der unter ihnen das Licht der Welt erblickt haben soll, und unter dessen Devise sie noch immer an der Spitze der Zivilisation marschieren. Mag das Wort immerhin einmal eine Wahrheit gewesen sein, wiewohl auch hierzu viel Ansagt werden kaun, so ist es doch augenblicklich zur inhaltlosen Phrase und abstrakten Formel geworden. Ein melodisch abgestimmtes Schellengeläute, von dem sich nur solche Leute fangen lassen, deuen das selbständige Denken ab¬ geht, und die glauben, liberal bedeute die Freiheit, von allem Vorhandnen soviel zu nehmen, wie nur eben angeht, und bloß das wegzugeben, was mit Recht nicht zurückgehalten werden kann. Das Wort Liberalismus ist das gwße Fangnetz, das die herrschende Kaste in England über die ganze Breite des Stromes wirft, um darin festzuhalten, was Leben hat, und ihm nur das Dasein zu lassen, das bloß der Reflex, nicht der warme Abglanz ihres eignen ist. Es sei uns ferne, ungerechtfertigten Anschuldigungen Raum zu geben, auch wollen wir keine moralischen Anklagen erheben. Was die Engländer im Grenzboten II 1WS 60

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 61, 1902, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341875_237285/481>, abgerufen am 29.06.2024.