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Die Grenzboten. Jg. 61, 1902, Zweites Vierteljahr.

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Die Lohren der Geschichte Hollands und Englands

Daß hierin eine größere Gefahr für Deutschland liege, als jeder andre
europäische Staat zu bekämpfen hat, wie mau uns einreden möchte, ist nicht
der Fall. Noch sind unsre staatlichen Institutionen mehr als stark genug, die
von unten aufdringenden Gärstoffe unter Druck zu halten. Aber auf der
untern Seite genügt unsre mit Recht vielgerühmte soziale Gesetzgebung allein
auch nicht. Überhaupt muß das beherzigt werden, daß im Volke weniger das
ihm selbst bewiesene Mitleid wirkt, als die möglichste Überzeugung von der
gleichmäßigen Verteilung des auf allen liegenden Druckes. Auch hier sollte
unsre Heereseinrichtung für das bürgerliche Leben vorbildlich sein. Wohl weiß
der gemeine Mann, daß nicht alle mächtig sein können und gebieten, aber um
so größer ist auch sein Gefühl für den Gerechtigkeitssinn, der verhütet, daß
der von der Natur gewollte Unterschied noch von der Willkür unnötig ver¬
schärft werde.

Da das Geld als solches, wo es in seinen Funktionen des weitern Er¬
werbs thätig ist, mitleidlos ist wie die zu Thal gehende Lawine, die alles mit
sich nimmt, was aus ihrem Wege liegt, so ist es nicht anders als natürlich,
daß der Mensch, der vorzugsweise mit ihm zu thun hat, auch hart wird. Für
gewöhnlich tritt die herrschende Sittlichkeit und die Religion ein, aber die
Hauptsache muß der Staat machen, er muß verhindern, daß die Härte zu einer
Obstruktion wird, die sein Gefüge von innen heraus sprengt. Die Erfahrungen
aller Zeiten weisen mit einer so überraschenden Übereinstimmung auf die Gründe
des Verfalls der Staaten hin, daß den Historiker das Staunen über die Ein¬
heitlichkeit aller Menschennatur überkommt. An das Schicksal Athens und
Karthagos soll hier nur erinnert werden. Die Thränen, die der jüngere Scipio
auf den Trümmern der von ihm eroberten Punierstadt weinte, waren eine be¬
redte, wenn auch stumme Anklage gegen die Sünden seiner Standesgenossen,
die einmal die römische Republik in die verdiente Vernichtung hinabziehn
würden. Nur wenig Jahrzehnte nach diesem Ereignis durfte der Numidier-
fürst Jugurtha die Thaten seiner wilden Grausamkeit höhnisch mit den Worten
begleiten, daß in Rom alles, anch die Gerechtigkeit, käuflich sei. War deun
nicht trotz Brutus und Cato schon lange in dieser Stadt das Geld der Wert¬
messer der Dinge?

Es ist über die Gründe, die die große französische Revolution zur Folge
gehabt haben, viel geschrieben worden, aber alles, was man davon dem sichern
Verbleib der Bibliotheken überantwortet hat, ist nichts als die Begleit- oder
Folgeerscheinung der entsetzlichen Härte, womit der Geiz der Geistlichkeit und
der Aristokratie das übrige Volk in Frankreich in der Unterdrückung hielt.
Die Geister des Umsturzes sind immer wach, aber wenn man glaubt, sie durch
immer höher aufgetürmte Berge am Ausbrechen hindern zu können, so ist das
eine Meinung, die sich genau nach dem Maß der gemachten Anstrengungen
rächt. Typhoeus und Enceladus sind pathologische Erscheinungen, die im
Völkerleben zu Tage treten, wie der Vesuv und der Ätna an der Erdrinde
emporragen. Mau muß sie mit milden Mitteln und sanfter Hand und vor
allem mit der Anerkennung ihrer Berechtigung in der Natur behandeln.

In dem Augenblick, wo dieses niedergeschrieben wurde, machte eine große


Die Lohren der Geschichte Hollands und Englands

Daß hierin eine größere Gefahr für Deutschland liege, als jeder andre
europäische Staat zu bekämpfen hat, wie mau uns einreden möchte, ist nicht
der Fall. Noch sind unsre staatlichen Institutionen mehr als stark genug, die
von unten aufdringenden Gärstoffe unter Druck zu halten. Aber auf der
untern Seite genügt unsre mit Recht vielgerühmte soziale Gesetzgebung allein
auch nicht. Überhaupt muß das beherzigt werden, daß im Volke weniger das
ihm selbst bewiesene Mitleid wirkt, als die möglichste Überzeugung von der
gleichmäßigen Verteilung des auf allen liegenden Druckes. Auch hier sollte
unsre Heereseinrichtung für das bürgerliche Leben vorbildlich sein. Wohl weiß
der gemeine Mann, daß nicht alle mächtig sein können und gebieten, aber um
so größer ist auch sein Gefühl für den Gerechtigkeitssinn, der verhütet, daß
der von der Natur gewollte Unterschied noch von der Willkür unnötig ver¬
schärft werde.

Da das Geld als solches, wo es in seinen Funktionen des weitern Er¬
werbs thätig ist, mitleidlos ist wie die zu Thal gehende Lawine, die alles mit
sich nimmt, was aus ihrem Wege liegt, so ist es nicht anders als natürlich,
daß der Mensch, der vorzugsweise mit ihm zu thun hat, auch hart wird. Für
gewöhnlich tritt die herrschende Sittlichkeit und die Religion ein, aber die
Hauptsache muß der Staat machen, er muß verhindern, daß die Härte zu einer
Obstruktion wird, die sein Gefüge von innen heraus sprengt. Die Erfahrungen
aller Zeiten weisen mit einer so überraschenden Übereinstimmung auf die Gründe
des Verfalls der Staaten hin, daß den Historiker das Staunen über die Ein¬
heitlichkeit aller Menschennatur überkommt. An das Schicksal Athens und
Karthagos soll hier nur erinnert werden. Die Thränen, die der jüngere Scipio
auf den Trümmern der von ihm eroberten Punierstadt weinte, waren eine be¬
redte, wenn auch stumme Anklage gegen die Sünden seiner Standesgenossen,
die einmal die römische Republik in die verdiente Vernichtung hinabziehn
würden. Nur wenig Jahrzehnte nach diesem Ereignis durfte der Numidier-
fürst Jugurtha die Thaten seiner wilden Grausamkeit höhnisch mit den Worten
begleiten, daß in Rom alles, anch die Gerechtigkeit, käuflich sei. War deun
nicht trotz Brutus und Cato schon lange in dieser Stadt das Geld der Wert¬
messer der Dinge?

Es ist über die Gründe, die die große französische Revolution zur Folge
gehabt haben, viel geschrieben worden, aber alles, was man davon dem sichern
Verbleib der Bibliotheken überantwortet hat, ist nichts als die Begleit- oder
Folgeerscheinung der entsetzlichen Härte, womit der Geiz der Geistlichkeit und
der Aristokratie das übrige Volk in Frankreich in der Unterdrückung hielt.
Die Geister des Umsturzes sind immer wach, aber wenn man glaubt, sie durch
immer höher aufgetürmte Berge am Ausbrechen hindern zu können, so ist das
eine Meinung, die sich genau nach dem Maß der gemachten Anstrengungen
rächt. Typhoeus und Enceladus sind pathologische Erscheinungen, die im
Völkerleben zu Tage treten, wie der Vesuv und der Ätna an der Erdrinde
emporragen. Mau muß sie mit milden Mitteln und sanfter Hand und vor
allem mit der Anerkennung ihrer Berechtigung in der Natur behandeln.

In dem Augenblick, wo dieses niedergeschrieben wurde, machte eine große


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 61, 1902, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341875_237285/480>, abgerufen am 29.06.2024.