Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 61, 1902, Zweites Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Doktor Duttinüller und sein Freund

Dein Doktor Blume versagte die Antwort. Ruch einigen tiefen Atemzügen fügte
er: Krügern, sie ist so dumm, daß es den lieben Gott über sie jammern muß.

Doktor Blume blieb mitten auf der Straße breitbeinig stehn und betrachtete
angelegentlich die Krücke seines Stockes. Dann faßte er einen Entschluß und stiefelte
eifrig zum Hause des Doktor Duttmüller. Doktor Duttmüller war nicht anwesend,
er war auf dem Fronhofe, mußte aber gleich zurückkommen. Aber die Frau Doktor
war zu Hause. Doktor Blume trat ein, Alice kam ihm mit großer Herzlichkeit
entgegen und reichte ihm beide Hände zum Gruße: Lieber Herr Doktor, ich freue
mich, Sie nach langer Zeit endlich einmal wieder zu sehen.

Ich auch, Frau Cvllegn, erwiderte Blume, es ist jammerschade, daß so alte
Freunde, wie wir beide, so selten zusammenkommen.

Ja, warum eigentlich?

Weil wir Doktoren alte Neidhämmel sind, sagte er, Spinnen sind wir. Jede
sitzt in ihrem Neste und sucht Fliegen zu fangen, und wenn wir uns einmal zu nahe
kommen, so geht es auf Leben und Tod, und einer beißt den andern weg.

Sie scherzen, Herr Doktor. Es Ware schlimm, wenn es so wäre. Nein, da
habe ich eine höhere Meinung von dem hohen und uneigennützigen Beruf eines
Arztes. Sagen Sie, giebt es etwas schöneres als Wissenschaft haben und mit ihr
allen Menschen helfen können, deu Reichen wie deu Armen?

Das war einmal, Frau Collega, das war einmal. Früher, als man beim
Doktorwerden die drei Finger hochhob und schwur, jedermann, wer es anch sei,
und anch ohne Geld mit seiner Kunst zu dienen. Damals waren wir noble Leute.
Aber heute stehn wir unter dem Gewerbegesetze und sind Geschäftsleute geworden
wie andre auch. Der Bauer verkauft sein Korn, und wir verkaufen unsre Weis¬
heit, die -- Gott sei es geklagt -- oft nicht das Geld wert ist, das dafür ge¬
zahlt wird.

Alice schüttelte lächelnd mit dem Kopfe und sagte: Als ob ich Sie nicht besser
kennte. Sie kehren alle Borsten heraus, aber darunter sitzt ein lieber, guter Mensch,
der weder Handwerker uoch Geschäftsmann ist. Als ob ich nicht wüßte, daß Sie
eben jetzt etwas ans dem Herzen haben, was mit Ihrem Vorteil nichts zu thun hat,
sondern mit dem Wohl eines Mitmenschen.

Doktor Blume machte Hin! hin!, konnte es aber nicht leugnen, daß so etwas
ähnliches in der That vorliege. Und so kam die Rede auf die alte Krügeru und
ihre kranke Tochter und auf andre notleidende Persönlichkeiten. Dabei beobachtete
Doktor Blume Alice, die ihm gegenübersaß, und fand, daß sie blaß aussah, eigentlich
wenn mau so sagen darf -- mehr innerlich als äußerlich blaß. Da hinten
hinterm Auge wars nicht richtig, da drückte eine Last oder zehrte ein Schmerz.

Doktor Blume pflegte nicht lange Umstände zu machen, sondern deutlich aus¬
zusprechen, was er dachte. -- Wissen Sie auch, Frau Collega, sagte er, daß Sie
wir ganz und gar nicht gefallen? -- Jetzt fühlte er doch, daß das einer Dame
gegenüber einigermaßen grob sei, und fuhr fort: Sie müssen einem alten Kerl, wie
wir, eine wohlgemeinte Grobheit nicht übel nehmen. Ich meine Ihr Befinden.

O, erwiderte Alice, ich befinde mich sehr wohl, nur fehlt gar nichts. Aber
sie sagte es zu lebhaft und absichtlich, als daß es Blume geglaubt hätte. Blume
War trotz seiner Grobheit zu zartfühlend, als daß er weiter geforscht hätte, und so
wandte sich das Gespräch gleichgiltigen wissenschaftlichen Dingen zu. Dann fragte
Alice unvermittelt: Sagen Sie, Herr Doktor, giebt es eine Vererbung von Cha¬
raktereigenschaften?

Ganz gewiß, antwortete Doktor Blume.

Ich meine, fuhr Alice fort, eine Vererbung innerhalb ganzer Stände.

Sie meinen zum Beispiel den Adel? sagte Blume.

Ja, auch den Adel. Natürlich glaube ich uicht, daß die Adlichen aus anderen
Stoffe geformt seien als andre Menschen. Nein wirklich, ich glaube nicht, daß ein
Mensch darum von edler Gesinnung sein müsse, weil er aus einem edeln Hanse
stammt. Wenn aber in einem solchen Hause eine edle Gesinnung Fnmilientraditivn
ist, wird es dann nicht zuletzt ein Familienbesitz, der sich forterbt? Sehen Sie. Herr


Doktor Duttinüller und sein Freund

Dein Doktor Blume versagte die Antwort. Ruch einigen tiefen Atemzügen fügte
er: Krügern, sie ist so dumm, daß es den lieben Gott über sie jammern muß.

Doktor Blume blieb mitten auf der Straße breitbeinig stehn und betrachtete
angelegentlich die Krücke seines Stockes. Dann faßte er einen Entschluß und stiefelte
eifrig zum Hause des Doktor Duttmüller. Doktor Duttmüller war nicht anwesend,
er war auf dem Fronhofe, mußte aber gleich zurückkommen. Aber die Frau Doktor
war zu Hause. Doktor Blume trat ein, Alice kam ihm mit großer Herzlichkeit
entgegen und reichte ihm beide Hände zum Gruße: Lieber Herr Doktor, ich freue
mich, Sie nach langer Zeit endlich einmal wieder zu sehen.

Ich auch, Frau Cvllegn, erwiderte Blume, es ist jammerschade, daß so alte
Freunde, wie wir beide, so selten zusammenkommen.

Ja, warum eigentlich?

Weil wir Doktoren alte Neidhämmel sind, sagte er, Spinnen sind wir. Jede
sitzt in ihrem Neste und sucht Fliegen zu fangen, und wenn wir uns einmal zu nahe
kommen, so geht es auf Leben und Tod, und einer beißt den andern weg.

Sie scherzen, Herr Doktor. Es Ware schlimm, wenn es so wäre. Nein, da
habe ich eine höhere Meinung von dem hohen und uneigennützigen Beruf eines
Arztes. Sagen Sie, giebt es etwas schöneres als Wissenschaft haben und mit ihr
allen Menschen helfen können, deu Reichen wie deu Armen?

Das war einmal, Frau Collega, das war einmal. Früher, als man beim
Doktorwerden die drei Finger hochhob und schwur, jedermann, wer es anch sei,
und anch ohne Geld mit seiner Kunst zu dienen. Damals waren wir noble Leute.
Aber heute stehn wir unter dem Gewerbegesetze und sind Geschäftsleute geworden
wie andre auch. Der Bauer verkauft sein Korn, und wir verkaufen unsre Weis¬
heit, die — Gott sei es geklagt — oft nicht das Geld wert ist, das dafür ge¬
zahlt wird.

Alice schüttelte lächelnd mit dem Kopfe und sagte: Als ob ich Sie nicht besser
kennte. Sie kehren alle Borsten heraus, aber darunter sitzt ein lieber, guter Mensch,
der weder Handwerker uoch Geschäftsmann ist. Als ob ich nicht wüßte, daß Sie
eben jetzt etwas ans dem Herzen haben, was mit Ihrem Vorteil nichts zu thun hat,
sondern mit dem Wohl eines Mitmenschen.

Doktor Blume machte Hin! hin!, konnte es aber nicht leugnen, daß so etwas
ähnliches in der That vorliege. Und so kam die Rede auf die alte Krügeru und
ihre kranke Tochter und auf andre notleidende Persönlichkeiten. Dabei beobachtete
Doktor Blume Alice, die ihm gegenübersaß, und fand, daß sie blaß aussah, eigentlich
wenn mau so sagen darf — mehr innerlich als äußerlich blaß. Da hinten
hinterm Auge wars nicht richtig, da drückte eine Last oder zehrte ein Schmerz.

Doktor Blume pflegte nicht lange Umstände zu machen, sondern deutlich aus¬
zusprechen, was er dachte. — Wissen Sie auch, Frau Collega, sagte er, daß Sie
wir ganz und gar nicht gefallen? — Jetzt fühlte er doch, daß das einer Dame
gegenüber einigermaßen grob sei, und fuhr fort: Sie müssen einem alten Kerl, wie
wir, eine wohlgemeinte Grobheit nicht übel nehmen. Ich meine Ihr Befinden.

O, erwiderte Alice, ich befinde mich sehr wohl, nur fehlt gar nichts. Aber
sie sagte es zu lebhaft und absichtlich, als daß es Blume geglaubt hätte. Blume
War trotz seiner Grobheit zu zartfühlend, als daß er weiter geforscht hätte, und so
wandte sich das Gespräch gleichgiltigen wissenschaftlichen Dingen zu. Dann fragte
Alice unvermittelt: Sagen Sie, Herr Doktor, giebt es eine Vererbung von Cha¬
raktereigenschaften?

Ganz gewiß, antwortete Doktor Blume.

Ich meine, fuhr Alice fort, eine Vererbung innerhalb ganzer Stände.

Sie meinen zum Beispiel den Adel? sagte Blume.

Ja, auch den Adel. Natürlich glaube ich uicht, daß die Adlichen aus anderen
Stoffe geformt seien als andre Menschen. Nein wirklich, ich glaube nicht, daß ein
Mensch darum von edler Gesinnung sein müsse, weil er aus einem edeln Hanse
stammt. Wenn aber in einem solchen Hause eine edle Gesinnung Fnmilientraditivn
ist, wird es dann nicht zuletzt ein Familienbesitz, der sich forterbt? Sehen Sie. Herr


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0455" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/237741"/>
          <fw type="header" place="top"> Doktor Duttinüller und sein Freund</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_2285"> Dein Doktor Blume versagte die Antwort. Ruch einigen tiefen Atemzügen fügte<lb/>
er: Krügern, sie ist so dumm, daß es den lieben Gott über sie jammern muß.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_2286"> Doktor Blume blieb mitten auf der Straße breitbeinig stehn und betrachtete<lb/>
angelegentlich die Krücke seines Stockes. Dann faßte er einen Entschluß und stiefelte<lb/>
eifrig zum Hause des Doktor Duttmüller. Doktor Duttmüller war nicht anwesend,<lb/>
er war auf dem Fronhofe, mußte aber gleich zurückkommen. Aber die Frau Doktor<lb/>
war zu Hause. Doktor Blume trat ein, Alice kam ihm mit großer Herzlichkeit<lb/>
entgegen und reichte ihm beide Hände zum Gruße: Lieber Herr Doktor, ich freue<lb/>
mich, Sie nach langer Zeit endlich einmal wieder zu sehen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_2287"> Ich auch, Frau Cvllegn, erwiderte Blume, es ist jammerschade, daß so alte<lb/>
Freunde, wie wir beide, so selten zusammenkommen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_2288"> Ja, warum eigentlich?</p><lb/>
          <p xml:id="ID_2289"> Weil wir Doktoren alte Neidhämmel sind, sagte er, Spinnen sind wir. Jede<lb/>
sitzt in ihrem Neste und sucht Fliegen zu fangen, und wenn wir uns einmal zu nahe<lb/>
kommen, so geht es auf Leben und Tod, und einer beißt den andern weg.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_2290"> Sie scherzen, Herr Doktor. Es Ware schlimm, wenn es so wäre. Nein, da<lb/>
habe ich eine höhere Meinung von dem hohen und uneigennützigen Beruf eines<lb/>
Arztes. Sagen Sie, giebt es etwas schöneres als Wissenschaft haben und mit ihr<lb/>
allen Menschen helfen können, deu Reichen wie deu Armen?</p><lb/>
          <p xml:id="ID_2291"> Das war einmal, Frau Collega, das war einmal. Früher, als man beim<lb/>
Doktorwerden die drei Finger hochhob und schwur, jedermann, wer es anch sei,<lb/>
und anch ohne Geld mit seiner Kunst zu dienen. Damals waren wir noble Leute.<lb/>
Aber heute stehn wir unter dem Gewerbegesetze und sind Geschäftsleute geworden<lb/>
wie andre auch. Der Bauer verkauft sein Korn, und wir verkaufen unsre Weis¬<lb/>
heit, die &#x2014; Gott sei es geklagt &#x2014; oft nicht das Geld wert ist, das dafür ge¬<lb/>
zahlt wird.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_2292"> Alice schüttelte lächelnd mit dem Kopfe und sagte: Als ob ich Sie nicht besser<lb/>
kennte. Sie kehren alle Borsten heraus, aber darunter sitzt ein lieber, guter Mensch,<lb/>
der weder Handwerker uoch Geschäftsmann ist. Als ob ich nicht wüßte, daß Sie<lb/>
eben jetzt etwas ans dem Herzen haben, was mit Ihrem Vorteil nichts zu thun hat,<lb/>
sondern mit dem Wohl eines Mitmenschen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_2293"> Doktor Blume machte Hin! hin!, konnte es aber nicht leugnen, daß so etwas<lb/>
ähnliches in der That vorliege. Und so kam die Rede auf die alte Krügeru und<lb/>
ihre kranke Tochter und auf andre notleidende Persönlichkeiten. Dabei beobachtete<lb/>
Doktor Blume Alice, die ihm gegenübersaß, und fand, daß sie blaß aussah, eigentlich<lb/>
wenn mau so sagen darf &#x2014; mehr innerlich als äußerlich blaß. Da hinten<lb/>
hinterm Auge wars nicht richtig, da drückte eine Last oder zehrte ein Schmerz.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_2294"> Doktor Blume pflegte nicht lange Umstände zu machen, sondern deutlich aus¬<lb/>
zusprechen, was er dachte. &#x2014; Wissen Sie auch, Frau Collega, sagte er, daß Sie<lb/>
wir ganz und gar nicht gefallen? &#x2014; Jetzt fühlte er doch, daß das einer Dame<lb/>
gegenüber einigermaßen grob sei, und fuhr fort: Sie müssen einem alten Kerl, wie<lb/>
wir, eine wohlgemeinte Grobheit nicht übel nehmen. Ich meine Ihr Befinden.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_2295"> O, erwiderte Alice, ich befinde mich sehr wohl, nur fehlt gar nichts. Aber<lb/>
sie sagte es zu lebhaft und absichtlich, als daß es Blume geglaubt hätte. Blume<lb/>
War trotz seiner Grobheit zu zartfühlend, als daß er weiter geforscht hätte, und so<lb/>
wandte sich das Gespräch gleichgiltigen wissenschaftlichen Dingen zu. Dann fragte<lb/>
Alice unvermittelt: Sagen Sie, Herr Doktor, giebt es eine Vererbung von Cha¬<lb/>
raktereigenschaften?</p><lb/>
          <p xml:id="ID_2296"> Ganz gewiß, antwortete Doktor Blume.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_2297"> Ich meine, fuhr Alice fort, eine Vererbung innerhalb ganzer Stände.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_2298"> Sie meinen zum Beispiel den Adel? sagte Blume.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_2299" next="#ID_2300"> Ja, auch den Adel. Natürlich glaube ich uicht, daß die Adlichen aus anderen<lb/>
Stoffe geformt seien als andre Menschen. Nein wirklich, ich glaube nicht, daß ein<lb/>
Mensch darum von edler Gesinnung sein müsse, weil er aus einem edeln Hanse<lb/>
stammt. Wenn aber in einem solchen Hause eine edle Gesinnung Fnmilientraditivn<lb/>
ist, wird es dann nicht zuletzt ein Familienbesitz, der sich forterbt? Sehen Sie. Herr</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0455] Doktor Duttinüller und sein Freund Dein Doktor Blume versagte die Antwort. Ruch einigen tiefen Atemzügen fügte er: Krügern, sie ist so dumm, daß es den lieben Gott über sie jammern muß. Doktor Blume blieb mitten auf der Straße breitbeinig stehn und betrachtete angelegentlich die Krücke seines Stockes. Dann faßte er einen Entschluß und stiefelte eifrig zum Hause des Doktor Duttmüller. Doktor Duttmüller war nicht anwesend, er war auf dem Fronhofe, mußte aber gleich zurückkommen. Aber die Frau Doktor war zu Hause. Doktor Blume trat ein, Alice kam ihm mit großer Herzlichkeit entgegen und reichte ihm beide Hände zum Gruße: Lieber Herr Doktor, ich freue mich, Sie nach langer Zeit endlich einmal wieder zu sehen. Ich auch, Frau Cvllegn, erwiderte Blume, es ist jammerschade, daß so alte Freunde, wie wir beide, so selten zusammenkommen. Ja, warum eigentlich? Weil wir Doktoren alte Neidhämmel sind, sagte er, Spinnen sind wir. Jede sitzt in ihrem Neste und sucht Fliegen zu fangen, und wenn wir uns einmal zu nahe kommen, so geht es auf Leben und Tod, und einer beißt den andern weg. Sie scherzen, Herr Doktor. Es Ware schlimm, wenn es so wäre. Nein, da habe ich eine höhere Meinung von dem hohen und uneigennützigen Beruf eines Arztes. Sagen Sie, giebt es etwas schöneres als Wissenschaft haben und mit ihr allen Menschen helfen können, deu Reichen wie deu Armen? Das war einmal, Frau Collega, das war einmal. Früher, als man beim Doktorwerden die drei Finger hochhob und schwur, jedermann, wer es anch sei, und anch ohne Geld mit seiner Kunst zu dienen. Damals waren wir noble Leute. Aber heute stehn wir unter dem Gewerbegesetze und sind Geschäftsleute geworden wie andre auch. Der Bauer verkauft sein Korn, und wir verkaufen unsre Weis¬ heit, die — Gott sei es geklagt — oft nicht das Geld wert ist, das dafür ge¬ zahlt wird. Alice schüttelte lächelnd mit dem Kopfe und sagte: Als ob ich Sie nicht besser kennte. Sie kehren alle Borsten heraus, aber darunter sitzt ein lieber, guter Mensch, der weder Handwerker uoch Geschäftsmann ist. Als ob ich nicht wüßte, daß Sie eben jetzt etwas ans dem Herzen haben, was mit Ihrem Vorteil nichts zu thun hat, sondern mit dem Wohl eines Mitmenschen. Doktor Blume machte Hin! hin!, konnte es aber nicht leugnen, daß so etwas ähnliches in der That vorliege. Und so kam die Rede auf die alte Krügeru und ihre kranke Tochter und auf andre notleidende Persönlichkeiten. Dabei beobachtete Doktor Blume Alice, die ihm gegenübersaß, und fand, daß sie blaß aussah, eigentlich wenn mau so sagen darf — mehr innerlich als äußerlich blaß. Da hinten hinterm Auge wars nicht richtig, da drückte eine Last oder zehrte ein Schmerz. Doktor Blume pflegte nicht lange Umstände zu machen, sondern deutlich aus¬ zusprechen, was er dachte. — Wissen Sie auch, Frau Collega, sagte er, daß Sie wir ganz und gar nicht gefallen? — Jetzt fühlte er doch, daß das einer Dame gegenüber einigermaßen grob sei, und fuhr fort: Sie müssen einem alten Kerl, wie wir, eine wohlgemeinte Grobheit nicht übel nehmen. Ich meine Ihr Befinden. O, erwiderte Alice, ich befinde mich sehr wohl, nur fehlt gar nichts. Aber sie sagte es zu lebhaft und absichtlich, als daß es Blume geglaubt hätte. Blume War trotz seiner Grobheit zu zartfühlend, als daß er weiter geforscht hätte, und so wandte sich das Gespräch gleichgiltigen wissenschaftlichen Dingen zu. Dann fragte Alice unvermittelt: Sagen Sie, Herr Doktor, giebt es eine Vererbung von Cha¬ raktereigenschaften? Ganz gewiß, antwortete Doktor Blume. Ich meine, fuhr Alice fort, eine Vererbung innerhalb ganzer Stände. Sie meinen zum Beispiel den Adel? sagte Blume. Ja, auch den Adel. Natürlich glaube ich uicht, daß die Adlichen aus anderen Stoffe geformt seien als andre Menschen. Nein wirklich, ich glaube nicht, daß ein Mensch darum von edler Gesinnung sein müsse, weil er aus einem edeln Hanse stammt. Wenn aber in einem solchen Hause eine edle Gesinnung Fnmilientraditivn ist, wird es dann nicht zuletzt ein Familienbesitz, der sich forterbt? Sehen Sie. Herr

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341875_237285
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341875_237285/455
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 61, 1902, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341875_237285/455>, abgerufen am 28.09.2024.