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Die Grenzboten. Jg. 61, 1902, Zweites Vierteljahr.

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Die Lehren der Geschichte Hollands und Englands

Gewöhnung. Es ist das Charakteristische alles Epigonentums, des Beharrungs¬
vermögens nicht Herr werden zu können. Epigonen haben die Erkenntnis
einer gewesenen Wahrheit, aber außer der Wahrnehmungsfähigkeit für
neue Lebenstriebe fehlt ihnen die schöpferische Kraft, die Form, über die sie
gebieten, frisch sprossenden Ansätzen anzupassen. Die Diplomatie der Holländer
fuhr je länger je mehr teils auf alten, ausgefahrnen Geleisen, teils auf solchen,
die nicht auf dem eignen Boden lagen.

Nach allediesem war es kein Wunder, daß die gerühmte holländische
Staatskunst schon in den letzten Jahren des spanischen Erbfvlgekriegs sehr
auf abschüssiger Bahn war. Die Zeiten hatten sich während der Regierung
der Königin Anna anfangs nicht, aber dann plötzlich wie mit dem Handum¬
drehn geändert. Wenn man geglaubt hatte, daß die Politik in England, die
zur Entthronung der Stuarts geführt hatte, niemals eine Änderung erfahren
könne, so war das eine große Täuschung gewesen. Für den Tag des Ab¬
lebens der Königin plänkelt die Tories die Restauration der Stuarts, wie sie
nach dem Tode Cromwells gelungen war. Aber ob diese Gefahr groß oder
klein für England war, mußte deu Holländern bis zu dem Augenblick gleich-
giltig sein, wo die Haltung Frankreichs ihnen selbst die Gefahr nahe brachte.
Bis dahin durften sie nichts andres thun, als den Engländern die Sorge um
ihre innern Angelegenheiten selbst überlassen.

Zu dieser freien Höhe der Auffassung hat sich die Politik der Holländer
nicht emporschwingen können, und so sind sie in der Verstrickung hängen ge¬
blieben, die die Staatskunst des englischen Königs aus oranischen Hanse über
sie gebracht hat. Das war schlimm, viel schlimmer, als jemals eine Ver¬
brüderung nnter der republikanischen Staatsordnung eines de Wit und Cromwells
für die Niederlande hätte werden können, aber noch brauchte nicht das Aller¬
schlimmste in Aussicht zu stehn, wenn sie nur ihrer natürlichen Wehrkraft
nicht hätten vergessen wollen, die ihnen die Natur so gut um deu Leib gelegt
hatte wie den Engländern. Diese hatten im Beginn des achtzehnten Jahr¬
hunderts, die Brander und die kleinen Fahrzeuge nicht mitgerechnet, eine Flotte
von 184 Kriegsschiffen mit einer Bemannung von mehr als 50000 Mann
darauf. Einer solchen Machtentfaltung konnte wohl Holland nicht gleich¬
kommen, aber mit einer Kraftanstrengung, die allerdings große Lasten auf den
Steuerzahler legte, hatten die Niederländer in den Jahren 1667 und 1672
Flotten ausgesandt, die der englischen nahezu gleich und jedenfalls imstande
waren, sie zu besiegen. Mittlerweile war Holland nicht ärmer, wohl aber
reicher geworden, sodaß der zu machende Schluß für jeden auf der Hemd liegt.

Auch der Geist der großen Admiräle, denen von der Zeit der Geusen her
die Führung dieser Flotten anvertraut war, war mit nichten schlafen gegangen.
In den Thaten einzelner Führer flammte immer wieder die alte Heidenschaft
empor und warf denen, die das Beste des Landes wollten, leuchtend die Er¬
kenntnis in die Seelen, daß es, um Großes zu erreichen, nur auf das stolze
Selbstbewußtsein ankam, das nicht bloß gegen den Spanier, sondern auch gegen
den Engländer durchschlagend war. Aber wo regte sich noch diese gehaltne
Selbstachtung in dem Willen der holländischen Diplomatie? Nicht einmal den


Die Lehren der Geschichte Hollands und Englands

Gewöhnung. Es ist das Charakteristische alles Epigonentums, des Beharrungs¬
vermögens nicht Herr werden zu können. Epigonen haben die Erkenntnis
einer gewesenen Wahrheit, aber außer der Wahrnehmungsfähigkeit für
neue Lebenstriebe fehlt ihnen die schöpferische Kraft, die Form, über die sie
gebieten, frisch sprossenden Ansätzen anzupassen. Die Diplomatie der Holländer
fuhr je länger je mehr teils auf alten, ausgefahrnen Geleisen, teils auf solchen,
die nicht auf dem eignen Boden lagen.

Nach allediesem war es kein Wunder, daß die gerühmte holländische
Staatskunst schon in den letzten Jahren des spanischen Erbfvlgekriegs sehr
auf abschüssiger Bahn war. Die Zeiten hatten sich während der Regierung
der Königin Anna anfangs nicht, aber dann plötzlich wie mit dem Handum¬
drehn geändert. Wenn man geglaubt hatte, daß die Politik in England, die
zur Entthronung der Stuarts geführt hatte, niemals eine Änderung erfahren
könne, so war das eine große Täuschung gewesen. Für den Tag des Ab¬
lebens der Königin plänkelt die Tories die Restauration der Stuarts, wie sie
nach dem Tode Cromwells gelungen war. Aber ob diese Gefahr groß oder
klein für England war, mußte deu Holländern bis zu dem Augenblick gleich-
giltig sein, wo die Haltung Frankreichs ihnen selbst die Gefahr nahe brachte.
Bis dahin durften sie nichts andres thun, als den Engländern die Sorge um
ihre innern Angelegenheiten selbst überlassen.

Zu dieser freien Höhe der Auffassung hat sich die Politik der Holländer
nicht emporschwingen können, und so sind sie in der Verstrickung hängen ge¬
blieben, die die Staatskunst des englischen Königs aus oranischen Hanse über
sie gebracht hat. Das war schlimm, viel schlimmer, als jemals eine Ver¬
brüderung nnter der republikanischen Staatsordnung eines de Wit und Cromwells
für die Niederlande hätte werden können, aber noch brauchte nicht das Aller¬
schlimmste in Aussicht zu stehn, wenn sie nur ihrer natürlichen Wehrkraft
nicht hätten vergessen wollen, die ihnen die Natur so gut um deu Leib gelegt
hatte wie den Engländern. Diese hatten im Beginn des achtzehnten Jahr¬
hunderts, die Brander und die kleinen Fahrzeuge nicht mitgerechnet, eine Flotte
von 184 Kriegsschiffen mit einer Bemannung von mehr als 50000 Mann
darauf. Einer solchen Machtentfaltung konnte wohl Holland nicht gleich¬
kommen, aber mit einer Kraftanstrengung, die allerdings große Lasten auf den
Steuerzahler legte, hatten die Niederländer in den Jahren 1667 und 1672
Flotten ausgesandt, die der englischen nahezu gleich und jedenfalls imstande
waren, sie zu besiegen. Mittlerweile war Holland nicht ärmer, wohl aber
reicher geworden, sodaß der zu machende Schluß für jeden auf der Hemd liegt.

Auch der Geist der großen Admiräle, denen von der Zeit der Geusen her
die Führung dieser Flotten anvertraut war, war mit nichten schlafen gegangen.
In den Thaten einzelner Führer flammte immer wieder die alte Heidenschaft
empor und warf denen, die das Beste des Landes wollten, leuchtend die Er¬
kenntnis in die Seelen, daß es, um Großes zu erreichen, nur auf das stolze
Selbstbewußtsein ankam, das nicht bloß gegen den Spanier, sondern auch gegen
den Engländer durchschlagend war. Aber wo regte sich noch diese gehaltne
Selbstachtung in dem Willen der holländischen Diplomatie? Nicht einmal den


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[0358] Die Lehren der Geschichte Hollands und Englands Gewöhnung. Es ist das Charakteristische alles Epigonentums, des Beharrungs¬ vermögens nicht Herr werden zu können. Epigonen haben die Erkenntnis einer gewesenen Wahrheit, aber außer der Wahrnehmungsfähigkeit für neue Lebenstriebe fehlt ihnen die schöpferische Kraft, die Form, über die sie gebieten, frisch sprossenden Ansätzen anzupassen. Die Diplomatie der Holländer fuhr je länger je mehr teils auf alten, ausgefahrnen Geleisen, teils auf solchen, die nicht auf dem eignen Boden lagen. Nach allediesem war es kein Wunder, daß die gerühmte holländische Staatskunst schon in den letzten Jahren des spanischen Erbfvlgekriegs sehr auf abschüssiger Bahn war. Die Zeiten hatten sich während der Regierung der Königin Anna anfangs nicht, aber dann plötzlich wie mit dem Handum¬ drehn geändert. Wenn man geglaubt hatte, daß die Politik in England, die zur Entthronung der Stuarts geführt hatte, niemals eine Änderung erfahren könne, so war das eine große Täuschung gewesen. Für den Tag des Ab¬ lebens der Königin plänkelt die Tories die Restauration der Stuarts, wie sie nach dem Tode Cromwells gelungen war. Aber ob diese Gefahr groß oder klein für England war, mußte deu Holländern bis zu dem Augenblick gleich- giltig sein, wo die Haltung Frankreichs ihnen selbst die Gefahr nahe brachte. Bis dahin durften sie nichts andres thun, als den Engländern die Sorge um ihre innern Angelegenheiten selbst überlassen. Zu dieser freien Höhe der Auffassung hat sich die Politik der Holländer nicht emporschwingen können, und so sind sie in der Verstrickung hängen ge¬ blieben, die die Staatskunst des englischen Königs aus oranischen Hanse über sie gebracht hat. Das war schlimm, viel schlimmer, als jemals eine Ver¬ brüderung nnter der republikanischen Staatsordnung eines de Wit und Cromwells für die Niederlande hätte werden können, aber noch brauchte nicht das Aller¬ schlimmste in Aussicht zu stehn, wenn sie nur ihrer natürlichen Wehrkraft nicht hätten vergessen wollen, die ihnen die Natur so gut um deu Leib gelegt hatte wie den Engländern. Diese hatten im Beginn des achtzehnten Jahr¬ hunderts, die Brander und die kleinen Fahrzeuge nicht mitgerechnet, eine Flotte von 184 Kriegsschiffen mit einer Bemannung von mehr als 50000 Mann darauf. Einer solchen Machtentfaltung konnte wohl Holland nicht gleich¬ kommen, aber mit einer Kraftanstrengung, die allerdings große Lasten auf den Steuerzahler legte, hatten die Niederländer in den Jahren 1667 und 1672 Flotten ausgesandt, die der englischen nahezu gleich und jedenfalls imstande waren, sie zu besiegen. Mittlerweile war Holland nicht ärmer, wohl aber reicher geworden, sodaß der zu machende Schluß für jeden auf der Hemd liegt. Auch der Geist der großen Admiräle, denen von der Zeit der Geusen her die Führung dieser Flotten anvertraut war, war mit nichten schlafen gegangen. In den Thaten einzelner Führer flammte immer wieder die alte Heidenschaft empor und warf denen, die das Beste des Landes wollten, leuchtend die Er¬ kenntnis in die Seelen, daß es, um Großes zu erreichen, nur auf das stolze Selbstbewußtsein ankam, das nicht bloß gegen den Spanier, sondern auch gegen den Engländer durchschlagend war. Aber wo regte sich noch diese gehaltne Selbstachtung in dem Willen der holländischen Diplomatie? Nicht einmal den

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 61, 1902, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341875_237285/358>, abgerufen am 29.06.2024.