Die Grenzboten. Jg. 61, 1902, Zweites Vierteljahr.Doktor Duttmüllcr und sein Freund schon seit längerer Zeit eine liebevolle Tyrannei über Alice ausgeübt hatte, steigerte Mit der gnädigen Frau, die eifrig in dem Bestreben fortfuhr, sich andrer Schließlich trat das große Ereignis ein, als Doktor Duttmüller nicht zu Hause Auch die Wochenpflege gab der gnädigen Frau Gelegenheit zu langen Reden Nun nahte der wichtige Tag der Taufe. Alice hatte den Eindruck, als hätte Doktor Duttmüllcr und sein Freund schon seit längerer Zeit eine liebevolle Tyrannei über Alice ausgeübt hatte, steigerte Mit der gnädigen Frau, die eifrig in dem Bestreben fortfuhr, sich andrer Schließlich trat das große Ereignis ein, als Doktor Duttmüller nicht zu Hause Auch die Wochenpflege gab der gnädigen Frau Gelegenheit zu langen Reden Nun nahte der wichtige Tag der Taufe. Alice hatte den Eindruck, als hätte <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0286" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/237572"/> <fw type="header" place="top"> Doktor Duttmüllcr und sein Freund</fw><lb/> <p xml:id="ID_1488" prev="#ID_1487"> schon seit längerer Zeit eine liebevolle Tyrannei über Alice ausgeübt hatte, steigerte<lb/> diese bis zum äußersten. Nicht einmal eine Nähnadel durfte Alice in die Hand<lb/> nehmen, weil das gewisse mystische Folgen haben konnte, und weil einmal eine<lb/> Frau in Branufels, die dennoch gegen den Rat der Duttmüllern eine Nadel ein¬<lb/> gefädelt hatte, am Kindbettfieber gestorben war, und weil das Kind einer andern,<lb/> die sich mit einer Nadel gestochen hatte, mit einer Hasenscharte geboren worden war.</p><lb/> <p xml:id="ID_1489"> Mit der gnädigen Frau, die eifrig in dem Bestreben fortfuhr, sich andrer<lb/> Leute Köpfe zu zerbrechen, hatte es einige unerfreuliche Auseinandersetzungen ge¬<lb/> geben, und es war kaum möglich gewesen, ihr das Unfaßbare beizubringen, daß<lb/> sie mit ihrer Lorgnette nicht alles zu dirigieren habe, und daß des Doktors Haus<lb/> nicht ihr Haus sei. Ganz besonders war es die Wiegenfrage gewesen, die die Ge¬<lb/> müter erregt hatte. Die gnädige Frau hatte es für selbstverständlich gehalten, daß<lb/> eine Wiege elegantester Form angeschafft werde, leichtes eisernes Gestell mit duftiger<lb/> Umkleidung, eine Säule oder einen Stab am Kopfende und Schleier von oben<lb/> herab. Alle gekrönten Häupter haben in solchen Prunkwiegen gelegen, allen Thron¬<lb/> folgern sind solche Wiegen von den begeisterten Hauptstädten geschenkt worden.<lb/> Und was plante man bei Duttmüllers? Einen einfachen Waschkorb, ein gemeines<lb/> Nützlichkeitsmöbel, wenn man einen Waschkorb überhaupt ein Möbel nennen dürfte.<lb/> Aber es half ihr alles nichts, es blieb beim Waschkorbe, da ein Waschkorb von<lb/> höherm wissenschaftlichen Wert ist als die hygienisch gänzlich veraltete Wiege. Mit<lb/> Mühe setzte die gnädige Frau wenigstens das durch, daß der Waschkorb mit Mull<lb/> überzogen und mit Rosaatlasbändern verziert wurde.</p><lb/> <p xml:id="ID_1490"> Schließlich trat das große Ereignis ein, als Doktor Duttmüller nicht zu Hause<lb/> war, sondern auf einer seiner Außenstationen eine Entbindung „leitete." Als er<lb/> zurückkehrte, war unter Beihilfe der alten Hüttnern, die er sonst nicht für voll<lb/> anzusehen pflegte, alles vorüber, und es war an dem Resultate nichts auszusetzen,<lb/> als daß der erwartete Knabe ein Mädchen war. Mau denke, ein Mädchen, nachdem<lb/> Duttmüller — allerdings mit aller Reserve — aus den Anzeichen geschlossen hatte,<lb/> daß es bestimmt ein Knabe sein werde, ein Mädchen, das in seinen Augen nur<lb/> eine halbe Leistung darstellte. Duttmüller war so unvorsichtig gewesen, seiner Frau<lb/> seine Enttäuschung merken zu lassen, worüber diese sehr unglücklich war, und Fran<lb/> Duttmüller zählte aus ihrer Bekanntschaft alle Fälle ans — von ihr selbst zu<lb/> schweigen —, wo Mütter gleich das erstemal ihre volle Schuldigkeit gethan hatten<lb/> und Mütter von Söhnen geworden waren.</p><lb/> <p xml:id="ID_1491"> Auch die Wochenpflege gab der gnädigen Frau Gelegenheit zu langen Reden<lb/> und zur Entwicklung großer Weisheit. Zur Ausführung der von ihr gegebnen<lb/> großen Gesichtspunkte drängte sie sich nicht. Details waren ihre Sachen nicht.<lb/> Dagegen trat Frau Duttmüllcr das Hausregiment an. Wie der wohlwollende<lb/> Drache im Märchen, der die Prinzessin bewacht, so lauerte sie vor der Thür des<lb/> Wochenzimmers und ließ niemand hinein, kaum daß Ellen einmal die Nasenspitze<lb/> des Nichtchens bewundern durfte. Sogar gegen die Wissenschaft des Herrn Sohnes<lb/> empörte sie sich. Dutimüller wollte alle Fenster offen haben, sie schloß alles her¬<lb/> metisch ab; er kam mit Rotwein, Pepsin, Plaston und Noborin, sie ließ die Wöch¬<lb/> nerin bei dünnsten Mehlsüppchen fast verhungern. Duttmüller gab die bestimmtesten<lb/> Weisungen, konnte aber gegen seine Frau Mutter nicht aufkommen — und es<lb/> ging anch so.</p><lb/> <p xml:id="ID_1492"> Nun nahte der wichtige Tag der Taufe. Alice hatte den Eindruck, als hätte<lb/> es Duttmüller am liebsten gehabt, wenn gar nicht getauft worden wäre; aber das<lb/> ging doch nicht. Duttmüller leistete keinen direkten Widerstand, er hatte aber auch<lb/> keine Freudigkeit zur Sache. Und das zur Feier nötige Geld rückte er sichtlich<lb/> ungern heraus. Zuerst galt es, die Wahl der Paten zu beraten. Hier trat nun<lb/> die Lorgnette der gnädigen Frau wieder in Thätigkeit, und unter ihren Taktschlägen<lb/> wuchsen zahlreiche Schwierigkeiten aus dem Boden, deren Überwindung um so<lb/> schwieriger war, als auf dem Fronhofe nach rechts und bei Doktors nach links<lb/> kutschiert wurde.</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0286]
Doktor Duttmüllcr und sein Freund
schon seit längerer Zeit eine liebevolle Tyrannei über Alice ausgeübt hatte, steigerte
diese bis zum äußersten. Nicht einmal eine Nähnadel durfte Alice in die Hand
nehmen, weil das gewisse mystische Folgen haben konnte, und weil einmal eine
Frau in Branufels, die dennoch gegen den Rat der Duttmüllern eine Nadel ein¬
gefädelt hatte, am Kindbettfieber gestorben war, und weil das Kind einer andern,
die sich mit einer Nadel gestochen hatte, mit einer Hasenscharte geboren worden war.
Mit der gnädigen Frau, die eifrig in dem Bestreben fortfuhr, sich andrer
Leute Köpfe zu zerbrechen, hatte es einige unerfreuliche Auseinandersetzungen ge¬
geben, und es war kaum möglich gewesen, ihr das Unfaßbare beizubringen, daß
sie mit ihrer Lorgnette nicht alles zu dirigieren habe, und daß des Doktors Haus
nicht ihr Haus sei. Ganz besonders war es die Wiegenfrage gewesen, die die Ge¬
müter erregt hatte. Die gnädige Frau hatte es für selbstverständlich gehalten, daß
eine Wiege elegantester Form angeschafft werde, leichtes eisernes Gestell mit duftiger
Umkleidung, eine Säule oder einen Stab am Kopfende und Schleier von oben
herab. Alle gekrönten Häupter haben in solchen Prunkwiegen gelegen, allen Thron¬
folgern sind solche Wiegen von den begeisterten Hauptstädten geschenkt worden.
Und was plante man bei Duttmüllers? Einen einfachen Waschkorb, ein gemeines
Nützlichkeitsmöbel, wenn man einen Waschkorb überhaupt ein Möbel nennen dürfte.
Aber es half ihr alles nichts, es blieb beim Waschkorbe, da ein Waschkorb von
höherm wissenschaftlichen Wert ist als die hygienisch gänzlich veraltete Wiege. Mit
Mühe setzte die gnädige Frau wenigstens das durch, daß der Waschkorb mit Mull
überzogen und mit Rosaatlasbändern verziert wurde.
Schließlich trat das große Ereignis ein, als Doktor Duttmüller nicht zu Hause
war, sondern auf einer seiner Außenstationen eine Entbindung „leitete." Als er
zurückkehrte, war unter Beihilfe der alten Hüttnern, die er sonst nicht für voll
anzusehen pflegte, alles vorüber, und es war an dem Resultate nichts auszusetzen,
als daß der erwartete Knabe ein Mädchen war. Mau denke, ein Mädchen, nachdem
Duttmüller — allerdings mit aller Reserve — aus den Anzeichen geschlossen hatte,
daß es bestimmt ein Knabe sein werde, ein Mädchen, das in seinen Augen nur
eine halbe Leistung darstellte. Duttmüller war so unvorsichtig gewesen, seiner Frau
seine Enttäuschung merken zu lassen, worüber diese sehr unglücklich war, und Fran
Duttmüller zählte aus ihrer Bekanntschaft alle Fälle ans — von ihr selbst zu
schweigen —, wo Mütter gleich das erstemal ihre volle Schuldigkeit gethan hatten
und Mütter von Söhnen geworden waren.
Auch die Wochenpflege gab der gnädigen Frau Gelegenheit zu langen Reden
und zur Entwicklung großer Weisheit. Zur Ausführung der von ihr gegebnen
großen Gesichtspunkte drängte sie sich nicht. Details waren ihre Sachen nicht.
Dagegen trat Frau Duttmüllcr das Hausregiment an. Wie der wohlwollende
Drache im Märchen, der die Prinzessin bewacht, so lauerte sie vor der Thür des
Wochenzimmers und ließ niemand hinein, kaum daß Ellen einmal die Nasenspitze
des Nichtchens bewundern durfte. Sogar gegen die Wissenschaft des Herrn Sohnes
empörte sie sich. Dutimüller wollte alle Fenster offen haben, sie schloß alles her¬
metisch ab; er kam mit Rotwein, Pepsin, Plaston und Noborin, sie ließ die Wöch¬
nerin bei dünnsten Mehlsüppchen fast verhungern. Duttmüller gab die bestimmtesten
Weisungen, konnte aber gegen seine Frau Mutter nicht aufkommen — und es
ging anch so.
Nun nahte der wichtige Tag der Taufe. Alice hatte den Eindruck, als hätte
es Duttmüller am liebsten gehabt, wenn gar nicht getauft worden wäre; aber das
ging doch nicht. Duttmüller leistete keinen direkten Widerstand, er hatte aber auch
keine Freudigkeit zur Sache. Und das zur Feier nötige Geld rückte er sichtlich
ungern heraus. Zuerst galt es, die Wahl der Paten zu beraten. Hier trat nun
die Lorgnette der gnädigen Frau wieder in Thätigkeit, und unter ihren Taktschlägen
wuchsen zahlreiche Schwierigkeiten aus dem Boden, deren Überwindung um so
schwieriger war, als auf dem Fronhofe nach rechts und bei Doktors nach links
kutschiert wurde.
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Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.
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