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Die Grenzboten. Jg. 61, 1902, Zweites Vierteljahr.

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Die britische Regierung

drucktes entziffern können. Eignes Denken kann man auch bei denen nicht
"rwarten, die eine bessere Bildung als die der Elementarschule genossen haben.
'Das Denken wird immer und überall -- das Volk der Denker und Dichter
macht davon keine Ausnahme -- nur von wenigen besorgt; bei dem Reste
muß man zufrieden sein, wenn sie sich die Gedanken der wenigen aneignen
können. In Großbritannien ist deshalb die Presse Trumpf. Wer die Presse
in der Hand hat, hat die Macht. An der Spitze stehn die alten Parteiblatter
der Konservativen und der Liberalen, die, mit reichen Mitteln ausgestattet,
einen Unternehmungsgeist zu entfalten vermögen, gegen den minder begünstigte
Blatter schwer aufkommen können. Ihre Auflage zählt nach Hunderttausenden.
Ihnen sind, besonders in den letzten Jahren, eine Anzahl von Zeitungen zur
Seite getreten, die in der Behandlung des Stoffs wie in ihrem billigen Preise*)
vornehmlich auf die Massen berechnet sind. Aber auch sie fügen sich in den
Bann der beiden großen Parteien, die miteinander um die Herrschaft ringen,
und helfen ihrerseits eifrig mit, die Arbeiter unter der Führung der besitzenden
Klassen zu halten. Der Wille des Volks ist die Richtschnur der Regierung,
der Wille des Volkes ist entscheidend, so lautet das Lied, das in allen Ton¬
arten dem Volke vorgesungen wird. Daß der Wille des Volkes den Partei¬
führern genehm ist, dafür sorgt die Presse.

Der Geschlossenheit der Parteipresse darf man Wohl zuschreiben, daß die
britischen Parteien so lange vor der Zersetzung bewahrt geblieben sind, die das
Schicksal der Parteien in andern Ländern geworden ist, wie z. B. in Frank¬
reich, wo in den einunddreißig Jahren seit dem Sturze des Kaiserreichs die
Minister nicht weniger als siebenunddreißigmal gewechselt haben. Gro߬
britannien hat in demselben Zeitraum nur acht Premierminister gehabt. Aus¬
bleiben wird die Zersetzung auch in Großbritannien nicht. Der Mittelstand
und der Adel konnten sich zu den Parteien der Liberalen und der Konservativen
zusammenthun, weil sie bei allen Sonderinteressen die gemeinsame Grundlage des
Besitzes hatten. Durch die beiden spätern Reformen des Wahlrechts ist aber
die Zahl der Wähler aus den untern Klassen zu groß geworden, als daß an¬
zunehmen wäre, sie würden sich ans die Länge der Zeit damit begnügen, ge¬
gängelt zu werden. Solange die Regierung es fertig bringt, durch Erschließung
neuer Märkte Handel und Wandel blühend zu erhalten, mag der Arbeiter sich
das gefallen lassen. Sobald sich aber eine ungünstige Lage des Welthandels
ihm in der Tasche fühlbar macht, wird er die alten Parteien beiseite zu
schieben suchen.

In der liberalen Partei, als der demokratischen Einflüssen mehr aus¬
gesetzten, hat die Zersetzung schon begonnen. Sie begann schon zu Gladstones
Zeiten mit dem Abschwenken der liberalen Unionisten, und nur die Achtung,
die man dem verdienten Kämpen zollte, hielt die Einigkeit unter dem Neste
aufrecht. Nach Gladstones Abtreten von der Bühne sind die verschiednen
Richtungen, die innerhalb der Partei nebeneinander bestehn, schärfer zum



*) Die l'imW allein hält noch an dem Preise von 3 Pence fest. Llamas-rei, vint^^hos usiv-
kosten 1 Penny, die neuern, wie VM^ Mui und I)si>^ IZxprosg, nur '/^ Penny --4 Pfennige,
vint^ Aal! hat eine tägliche Auflage von mehr als einer Million.
Die britische Regierung

drucktes entziffern können. Eignes Denken kann man auch bei denen nicht
«rwarten, die eine bessere Bildung als die der Elementarschule genossen haben.
'Das Denken wird immer und überall — das Volk der Denker und Dichter
macht davon keine Ausnahme — nur von wenigen besorgt; bei dem Reste
muß man zufrieden sein, wenn sie sich die Gedanken der wenigen aneignen
können. In Großbritannien ist deshalb die Presse Trumpf. Wer die Presse
in der Hand hat, hat die Macht. An der Spitze stehn die alten Parteiblatter
der Konservativen und der Liberalen, die, mit reichen Mitteln ausgestattet,
einen Unternehmungsgeist zu entfalten vermögen, gegen den minder begünstigte
Blatter schwer aufkommen können. Ihre Auflage zählt nach Hunderttausenden.
Ihnen sind, besonders in den letzten Jahren, eine Anzahl von Zeitungen zur
Seite getreten, die in der Behandlung des Stoffs wie in ihrem billigen Preise*)
vornehmlich auf die Massen berechnet sind. Aber auch sie fügen sich in den
Bann der beiden großen Parteien, die miteinander um die Herrschaft ringen,
und helfen ihrerseits eifrig mit, die Arbeiter unter der Führung der besitzenden
Klassen zu halten. Der Wille des Volks ist die Richtschnur der Regierung,
der Wille des Volkes ist entscheidend, so lautet das Lied, das in allen Ton¬
arten dem Volke vorgesungen wird. Daß der Wille des Volkes den Partei¬
führern genehm ist, dafür sorgt die Presse.

Der Geschlossenheit der Parteipresse darf man Wohl zuschreiben, daß die
britischen Parteien so lange vor der Zersetzung bewahrt geblieben sind, die das
Schicksal der Parteien in andern Ländern geworden ist, wie z. B. in Frank¬
reich, wo in den einunddreißig Jahren seit dem Sturze des Kaiserreichs die
Minister nicht weniger als siebenunddreißigmal gewechselt haben. Gro߬
britannien hat in demselben Zeitraum nur acht Premierminister gehabt. Aus¬
bleiben wird die Zersetzung auch in Großbritannien nicht. Der Mittelstand
und der Adel konnten sich zu den Parteien der Liberalen und der Konservativen
zusammenthun, weil sie bei allen Sonderinteressen die gemeinsame Grundlage des
Besitzes hatten. Durch die beiden spätern Reformen des Wahlrechts ist aber
die Zahl der Wähler aus den untern Klassen zu groß geworden, als daß an¬
zunehmen wäre, sie würden sich ans die Länge der Zeit damit begnügen, ge¬
gängelt zu werden. Solange die Regierung es fertig bringt, durch Erschließung
neuer Märkte Handel und Wandel blühend zu erhalten, mag der Arbeiter sich
das gefallen lassen. Sobald sich aber eine ungünstige Lage des Welthandels
ihm in der Tasche fühlbar macht, wird er die alten Parteien beiseite zu
schieben suchen.

In der liberalen Partei, als der demokratischen Einflüssen mehr aus¬
gesetzten, hat die Zersetzung schon begonnen. Sie begann schon zu Gladstones
Zeiten mit dem Abschwenken der liberalen Unionisten, und nur die Achtung,
die man dem verdienten Kämpen zollte, hielt die Einigkeit unter dem Neste
aufrecht. Nach Gladstones Abtreten von der Bühne sind die verschiednen
Richtungen, die innerhalb der Partei nebeneinander bestehn, schärfer zum



*) Die l'imW allein hält noch an dem Preise von 3 Pence fest. Llamas-rei, vint^^hos usiv-
kosten 1 Penny, die neuern, wie VM^ Mui und I)si>^ IZxprosg, nur '/^ Penny —4 Pfennige,
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[0252] Die britische Regierung drucktes entziffern können. Eignes Denken kann man auch bei denen nicht «rwarten, die eine bessere Bildung als die der Elementarschule genossen haben. 'Das Denken wird immer und überall — das Volk der Denker und Dichter macht davon keine Ausnahme — nur von wenigen besorgt; bei dem Reste muß man zufrieden sein, wenn sie sich die Gedanken der wenigen aneignen können. In Großbritannien ist deshalb die Presse Trumpf. Wer die Presse in der Hand hat, hat die Macht. An der Spitze stehn die alten Parteiblatter der Konservativen und der Liberalen, die, mit reichen Mitteln ausgestattet, einen Unternehmungsgeist zu entfalten vermögen, gegen den minder begünstigte Blatter schwer aufkommen können. Ihre Auflage zählt nach Hunderttausenden. Ihnen sind, besonders in den letzten Jahren, eine Anzahl von Zeitungen zur Seite getreten, die in der Behandlung des Stoffs wie in ihrem billigen Preise*) vornehmlich auf die Massen berechnet sind. Aber auch sie fügen sich in den Bann der beiden großen Parteien, die miteinander um die Herrschaft ringen, und helfen ihrerseits eifrig mit, die Arbeiter unter der Führung der besitzenden Klassen zu halten. Der Wille des Volks ist die Richtschnur der Regierung, der Wille des Volkes ist entscheidend, so lautet das Lied, das in allen Ton¬ arten dem Volke vorgesungen wird. Daß der Wille des Volkes den Partei¬ führern genehm ist, dafür sorgt die Presse. Der Geschlossenheit der Parteipresse darf man Wohl zuschreiben, daß die britischen Parteien so lange vor der Zersetzung bewahrt geblieben sind, die das Schicksal der Parteien in andern Ländern geworden ist, wie z. B. in Frank¬ reich, wo in den einunddreißig Jahren seit dem Sturze des Kaiserreichs die Minister nicht weniger als siebenunddreißigmal gewechselt haben. Gro߬ britannien hat in demselben Zeitraum nur acht Premierminister gehabt. Aus¬ bleiben wird die Zersetzung auch in Großbritannien nicht. Der Mittelstand und der Adel konnten sich zu den Parteien der Liberalen und der Konservativen zusammenthun, weil sie bei allen Sonderinteressen die gemeinsame Grundlage des Besitzes hatten. Durch die beiden spätern Reformen des Wahlrechts ist aber die Zahl der Wähler aus den untern Klassen zu groß geworden, als daß an¬ zunehmen wäre, sie würden sich ans die Länge der Zeit damit begnügen, ge¬ gängelt zu werden. Solange die Regierung es fertig bringt, durch Erschließung neuer Märkte Handel und Wandel blühend zu erhalten, mag der Arbeiter sich das gefallen lassen. Sobald sich aber eine ungünstige Lage des Welthandels ihm in der Tasche fühlbar macht, wird er die alten Parteien beiseite zu schieben suchen. In der liberalen Partei, als der demokratischen Einflüssen mehr aus¬ gesetzten, hat die Zersetzung schon begonnen. Sie begann schon zu Gladstones Zeiten mit dem Abschwenken der liberalen Unionisten, und nur die Achtung, die man dem verdienten Kämpen zollte, hielt die Einigkeit unter dem Neste aufrecht. Nach Gladstones Abtreten von der Bühne sind die verschiednen Richtungen, die innerhalb der Partei nebeneinander bestehn, schärfer zum *) Die l'imW allein hält noch an dem Preise von 3 Pence fest. Llamas-rei, vint^^hos usiv- kosten 1 Penny, die neuern, wie VM^ Mui und I)si>^ IZxprosg, nur '/^ Penny —4 Pfennige, vint^ Aal! hat eine tägliche Auflage von mehr als einer Million.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 61, 1902, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341875_237285/252>, abgerufen am 01.07.2024.