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Die Grenzboten. Jg. 61, 1902, Zweites Vierteljahr.

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Die britische Regierung

müssen, leiden beide Parteien als einer Folge der Parlamcntsreform. Der-
Mittelstand hat eine Fülle widerstreitender Bestrebungen in die Parteien ein¬
geführt, und die vordem so einfache Parteipolitik ist sehr verwickelt geworden.
Den Whigs und Tories machte die Parlamentsreform den Garaus. Sie waren
nur Vertreter einer einzigen Klasse der Gesellschaft und brauchten sich nicht
mit Rücksichten abzugeben. Die Parlamentarier der Zeit nach 1832 hatten
dagegen schon eine mehrere Klassen umfassende Wählerschaft hinter sich, und
dementsprechend ergab sich eine Umbildung der Parteien. Ans den Tories
wurden Konservative, aus den Whigs Liberale. Eine Reihe von Jahren zwar
blieben die alten Bezeichnungen noch im Gebrauch, weil die Mitglieder der
alten Parteien auch noch im reformierten Parlament saßen, und weil die Teilung
des Parlaments in zwei Parteien fortdauerte. Bald jedoch traten sie ganz
zurück; heute werden Whigs gar nicht mehr erwähnt, und von Tories liest
man höchstens noch in liberalen Blättern, wenn sie die Engherzigkeit der Kon¬
servativen besonders scharf abkanzeln wollen, etwa wie deutsche Zeitungen von
den Junkern reden.

Die weitere Ausdehnung des Stimmrechts ist natürlich nicht ohne Wirkung
geblieben. Noch haben, bei der Kostspieligkeit der Wahlen. Adel und Mittel¬
stand das Heft in Händen. Mit geringen Ausnahmen gehn aus ihnen die
Mitglieder des Unterhauses hervor. Aber die Stimmung der Massen muß
sorgfältig in Berechnung gezogen werden. Nun, die lange politische Schulung
befähigt die besitzenden Stände, sich den Verhältnissen anzupassen, und mit Hilfe
der Presse gelingt es ihnen, auch die Arbeiter zu leiten. Wenn die Presse
irgendwo eine Macht ist, so ist sie es in England.

In Deutschland wird es der Regierung herzlich schwer gemacht, durch
die Presse auf das Volk einzuwirken. Es gilt für gcsinnungstreu und un¬
abhängig, an allein, was die Regierung thut, zu mäkeln, und ein Blatt, das
die Regierung unterstützt, läuft Gefahr, als Reptil verschrieen zu werden. Bei
der Zersplitterung des deutschen Volkes in eine übergroße Zahl von Parteien
kann auch die deutsche Presse nur Zersplitterung widerspiegeln, und es kann
nur wenig Zeitungen geben, die mit der Negierung Fühlung behalten. Anders
liegt es in ^Großbritannien, wo die Regierung nicht über den Parteien steht,
sondern nur die Ausgeburt einer Partei ist. Den Anhängern der Partei muß
alles daran liegen, ihre Leute im Amte zu erhalten, und deshalb steht die
gesamte Presse der herrschenden Partei im Dienste der Regierung, um den
Ansturm der Gegner zu bekämpfen und dem weisen Wähler die Politik der
Minister als die allein waschechte und seligmachende Wahrheit zu predigen.
Von einer politischen Bildung und Erfahrung der Massen kaun man uicht
reden. Wo sollte die herkommen? Die Masse des Volkes hat ja erst 1867
ein Wahlrecht erhalten, und die allgemeine Schulpflicht ist erst 1870 eingeführt
worden. Die gerühmte politische Bildung der Briten findet sich nur in den
obern Klaffen. Die breite Mittelklasse leiert gedankenlos nach, was die
Zeitungen drucken, und in den untern Klassen stößt man beim ältern Geschlecht,
das 1870 schon über das schulpflichtige Alter hinaus war, fort und fort
auf Leute, denen das Schreiben eine unbekannte Kunst ist. die höchstens Ge-


Die britische Regierung

müssen, leiden beide Parteien als einer Folge der Parlamcntsreform. Der-
Mittelstand hat eine Fülle widerstreitender Bestrebungen in die Parteien ein¬
geführt, und die vordem so einfache Parteipolitik ist sehr verwickelt geworden.
Den Whigs und Tories machte die Parlamentsreform den Garaus. Sie waren
nur Vertreter einer einzigen Klasse der Gesellschaft und brauchten sich nicht
mit Rücksichten abzugeben. Die Parlamentarier der Zeit nach 1832 hatten
dagegen schon eine mehrere Klassen umfassende Wählerschaft hinter sich, und
dementsprechend ergab sich eine Umbildung der Parteien. Ans den Tories
wurden Konservative, aus den Whigs Liberale. Eine Reihe von Jahren zwar
blieben die alten Bezeichnungen noch im Gebrauch, weil die Mitglieder der
alten Parteien auch noch im reformierten Parlament saßen, und weil die Teilung
des Parlaments in zwei Parteien fortdauerte. Bald jedoch traten sie ganz
zurück; heute werden Whigs gar nicht mehr erwähnt, und von Tories liest
man höchstens noch in liberalen Blättern, wenn sie die Engherzigkeit der Kon¬
servativen besonders scharf abkanzeln wollen, etwa wie deutsche Zeitungen von
den Junkern reden.

Die weitere Ausdehnung des Stimmrechts ist natürlich nicht ohne Wirkung
geblieben. Noch haben, bei der Kostspieligkeit der Wahlen. Adel und Mittel¬
stand das Heft in Händen. Mit geringen Ausnahmen gehn aus ihnen die
Mitglieder des Unterhauses hervor. Aber die Stimmung der Massen muß
sorgfältig in Berechnung gezogen werden. Nun, die lange politische Schulung
befähigt die besitzenden Stände, sich den Verhältnissen anzupassen, und mit Hilfe
der Presse gelingt es ihnen, auch die Arbeiter zu leiten. Wenn die Presse
irgendwo eine Macht ist, so ist sie es in England.

In Deutschland wird es der Regierung herzlich schwer gemacht, durch
die Presse auf das Volk einzuwirken. Es gilt für gcsinnungstreu und un¬
abhängig, an allein, was die Regierung thut, zu mäkeln, und ein Blatt, das
die Regierung unterstützt, läuft Gefahr, als Reptil verschrieen zu werden. Bei
der Zersplitterung des deutschen Volkes in eine übergroße Zahl von Parteien
kann auch die deutsche Presse nur Zersplitterung widerspiegeln, und es kann
nur wenig Zeitungen geben, die mit der Negierung Fühlung behalten. Anders
liegt es in ^Großbritannien, wo die Regierung nicht über den Parteien steht,
sondern nur die Ausgeburt einer Partei ist. Den Anhängern der Partei muß
alles daran liegen, ihre Leute im Amte zu erhalten, und deshalb steht die
gesamte Presse der herrschenden Partei im Dienste der Regierung, um den
Ansturm der Gegner zu bekämpfen und dem weisen Wähler die Politik der
Minister als die allein waschechte und seligmachende Wahrheit zu predigen.
Von einer politischen Bildung und Erfahrung der Massen kaun man uicht
reden. Wo sollte die herkommen? Die Masse des Volkes hat ja erst 1867
ein Wahlrecht erhalten, und die allgemeine Schulpflicht ist erst 1870 eingeführt
worden. Die gerühmte politische Bildung der Briten findet sich nur in den
obern Klaffen. Die breite Mittelklasse leiert gedankenlos nach, was die
Zeitungen drucken, und in den untern Klassen stößt man beim ältern Geschlecht,
das 1870 schon über das schulpflichtige Alter hinaus war, fort und fort
auf Leute, denen das Schreiben eine unbekannte Kunst ist. die höchstens Ge-


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[0251] Die britische Regierung müssen, leiden beide Parteien als einer Folge der Parlamcntsreform. Der- Mittelstand hat eine Fülle widerstreitender Bestrebungen in die Parteien ein¬ geführt, und die vordem so einfache Parteipolitik ist sehr verwickelt geworden. Den Whigs und Tories machte die Parlamentsreform den Garaus. Sie waren nur Vertreter einer einzigen Klasse der Gesellschaft und brauchten sich nicht mit Rücksichten abzugeben. Die Parlamentarier der Zeit nach 1832 hatten dagegen schon eine mehrere Klassen umfassende Wählerschaft hinter sich, und dementsprechend ergab sich eine Umbildung der Parteien. Ans den Tories wurden Konservative, aus den Whigs Liberale. Eine Reihe von Jahren zwar blieben die alten Bezeichnungen noch im Gebrauch, weil die Mitglieder der alten Parteien auch noch im reformierten Parlament saßen, und weil die Teilung des Parlaments in zwei Parteien fortdauerte. Bald jedoch traten sie ganz zurück; heute werden Whigs gar nicht mehr erwähnt, und von Tories liest man höchstens noch in liberalen Blättern, wenn sie die Engherzigkeit der Kon¬ servativen besonders scharf abkanzeln wollen, etwa wie deutsche Zeitungen von den Junkern reden. Die weitere Ausdehnung des Stimmrechts ist natürlich nicht ohne Wirkung geblieben. Noch haben, bei der Kostspieligkeit der Wahlen. Adel und Mittel¬ stand das Heft in Händen. Mit geringen Ausnahmen gehn aus ihnen die Mitglieder des Unterhauses hervor. Aber die Stimmung der Massen muß sorgfältig in Berechnung gezogen werden. Nun, die lange politische Schulung befähigt die besitzenden Stände, sich den Verhältnissen anzupassen, und mit Hilfe der Presse gelingt es ihnen, auch die Arbeiter zu leiten. Wenn die Presse irgendwo eine Macht ist, so ist sie es in England. In Deutschland wird es der Regierung herzlich schwer gemacht, durch die Presse auf das Volk einzuwirken. Es gilt für gcsinnungstreu und un¬ abhängig, an allein, was die Regierung thut, zu mäkeln, und ein Blatt, das die Regierung unterstützt, läuft Gefahr, als Reptil verschrieen zu werden. Bei der Zersplitterung des deutschen Volkes in eine übergroße Zahl von Parteien kann auch die deutsche Presse nur Zersplitterung widerspiegeln, und es kann nur wenig Zeitungen geben, die mit der Negierung Fühlung behalten. Anders liegt es in ^Großbritannien, wo die Regierung nicht über den Parteien steht, sondern nur die Ausgeburt einer Partei ist. Den Anhängern der Partei muß alles daran liegen, ihre Leute im Amte zu erhalten, und deshalb steht die gesamte Presse der herrschenden Partei im Dienste der Regierung, um den Ansturm der Gegner zu bekämpfen und dem weisen Wähler die Politik der Minister als die allein waschechte und seligmachende Wahrheit zu predigen. Von einer politischen Bildung und Erfahrung der Massen kaun man uicht reden. Wo sollte die herkommen? Die Masse des Volkes hat ja erst 1867 ein Wahlrecht erhalten, und die allgemeine Schulpflicht ist erst 1870 eingeführt worden. Die gerühmte politische Bildung der Briten findet sich nur in den obern Klaffen. Die breite Mittelklasse leiert gedankenlos nach, was die Zeitungen drucken, und in den untern Klassen stößt man beim ältern Geschlecht, das 1870 schon über das schulpflichtige Alter hinaus war, fort und fort auf Leute, denen das Schreiben eine unbekannte Kunst ist. die höchstens Ge-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 61, 1902, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341875_237285/251>, abgerufen am 01.07.2024.