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Die Grenzboten. Jg. 61, 1902, Zweites Vierteljahr.

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T>le britische Regierung

die Schaffung einer Anzahl neuer und die Ausgestaltung einiger der altern
Negicrungsabteiluugen. Im Handelsamte hat sich die Zahl der fest angestellten
Beamten seit 1840 versiebenfacht. Niemand hätte es vor hundert Jahren für
möglich gehalten, daß der Staat in die Rechte eines Vaters über seine Kinder
eingreifen und sich mit Erziehung befassen könnte. Und doch hat der Staat
es gethan, und hat es jetzt sogar unternommen, etwas Ordnung in den
jammervollen Wirrwarr des höhern Unterrichts zu bringen. Der freie Brite
sieht sich heute von dem Racker von Staat, der in alles seine Nase stecken
möchte, ganz gewaltig in der freien Bewegung gehindert, und oft genug klagt
er, er werde zuviel regiert. Aber was hilft die Klage? Er muß sich ins Un¬
vermeidliche schicken und, wer weiß, vielleicht sogar die allgemeine Wehrpflicht
über sich ergehn lassen. Soll Großbritannien nicht zurückgehn, so muß es den
modernen Staat weiter ausbauen.

Ein groß angelegter Plan lag den Reformen, die durch die große
Parlamentsreform möglich wurden, nicht zu Grunde. Für etwas wie die
Stein-Hardenbergische Gesetzgebung, die ein neues Preußen schuf, war und ist
in Großbritannien kein Boden, weil es an dem einheitlichen Willen fehlt.
Alle Reformen waren mit Parteipolitik verquickt, trugen den Stempel der
Partei. Parteipolitik ist auch im besten Falle mangelhaft; denn sie kann sich
nicht über den Grundsatz erheben, der den größten Nutzen für die größte An¬
zahl fordert. Der Satz ist bestechend, aber einer wahren Staatskunst nicht
würdig. Er kennzeichnet den individualistischen Staat, nicht den gesellschaft¬
lichen, der für das Wohl aller, auch der geringsten seiner Glieder zu sorgen
hat. Für eine Parteircgierung ist der Satz aber sehr bequem. Da sie die
Mehrzahl der Wähler hinter sich haben muß, vermag sie mit ihm alle Ma߬
nahmen zu decken. In Großbritannien ist ihm der Ackerbau zum Opfer ge¬
fallen, und zu spät erkennt man jetzt, wie dadurch der beste und kräftigste Teil
des Volks vom Lande in die Fabrikstüdte oder zur Auswandrung getrieben
worden ist. Die Größe eines Staats beruht weniger auf der Masse der
Güter und des Geldes, die in ihm aufgehäuft wird, als auf den Menschen,
die ihm angehören, und ein kräftiges Volk hat eine bessere Zukunft vor sich
als ein reiches.

Die britische Gesetzgebung beschränkt sich auf das unmittelbar Nötige.
Die Gesetze sind schon in der Vorlage nicht von einem über dem Ganzen
stehenden Geiste, sondern von Parteirücksichten eingegeben. Nach allen Seiten
muß Ausschau gehalten werden, ob nicht durch eine Bestimmung eine der
vielen mächtigen Interessengruppen verletzt wird. Da sind die Eisenbahnen,
die Reedereien, die Banken, die Brauer und die Schenkwirte, sie alle verlangen
sehr zart behandelt zu werden, oder das Zünglein an der Wage neigt sich
nach der andern Seite. Die öffentliche Meinung muß sich in sehr starken
Ausdrücken ergehn, bevor die Interessengruppen ein Haarbreit von ihren ver¬
meintlichen Rechten aufgeben. Wo der Kuhhandel Regierungsmaxime ist,
muß man froh sein, wenn ein einigermaßen brauchbares Gesetz zustande kommt,
das wenigstens dem dringendsten Bedürfnis abhilft.

Unter der Notwendigkeit, auf die Interessengruppen Rücksicht nehmen zu


T>le britische Regierung

die Schaffung einer Anzahl neuer und die Ausgestaltung einiger der altern
Negicrungsabteiluugen. Im Handelsamte hat sich die Zahl der fest angestellten
Beamten seit 1840 versiebenfacht. Niemand hätte es vor hundert Jahren für
möglich gehalten, daß der Staat in die Rechte eines Vaters über seine Kinder
eingreifen und sich mit Erziehung befassen könnte. Und doch hat der Staat
es gethan, und hat es jetzt sogar unternommen, etwas Ordnung in den
jammervollen Wirrwarr des höhern Unterrichts zu bringen. Der freie Brite
sieht sich heute von dem Racker von Staat, der in alles seine Nase stecken
möchte, ganz gewaltig in der freien Bewegung gehindert, und oft genug klagt
er, er werde zuviel regiert. Aber was hilft die Klage? Er muß sich ins Un¬
vermeidliche schicken und, wer weiß, vielleicht sogar die allgemeine Wehrpflicht
über sich ergehn lassen. Soll Großbritannien nicht zurückgehn, so muß es den
modernen Staat weiter ausbauen.

Ein groß angelegter Plan lag den Reformen, die durch die große
Parlamentsreform möglich wurden, nicht zu Grunde. Für etwas wie die
Stein-Hardenbergische Gesetzgebung, die ein neues Preußen schuf, war und ist
in Großbritannien kein Boden, weil es an dem einheitlichen Willen fehlt.
Alle Reformen waren mit Parteipolitik verquickt, trugen den Stempel der
Partei. Parteipolitik ist auch im besten Falle mangelhaft; denn sie kann sich
nicht über den Grundsatz erheben, der den größten Nutzen für die größte An¬
zahl fordert. Der Satz ist bestechend, aber einer wahren Staatskunst nicht
würdig. Er kennzeichnet den individualistischen Staat, nicht den gesellschaft¬
lichen, der für das Wohl aller, auch der geringsten seiner Glieder zu sorgen
hat. Für eine Parteircgierung ist der Satz aber sehr bequem. Da sie die
Mehrzahl der Wähler hinter sich haben muß, vermag sie mit ihm alle Ma߬
nahmen zu decken. In Großbritannien ist ihm der Ackerbau zum Opfer ge¬
fallen, und zu spät erkennt man jetzt, wie dadurch der beste und kräftigste Teil
des Volks vom Lande in die Fabrikstüdte oder zur Auswandrung getrieben
worden ist. Die Größe eines Staats beruht weniger auf der Masse der
Güter und des Geldes, die in ihm aufgehäuft wird, als auf den Menschen,
die ihm angehören, und ein kräftiges Volk hat eine bessere Zukunft vor sich
als ein reiches.

Die britische Gesetzgebung beschränkt sich auf das unmittelbar Nötige.
Die Gesetze sind schon in der Vorlage nicht von einem über dem Ganzen
stehenden Geiste, sondern von Parteirücksichten eingegeben. Nach allen Seiten
muß Ausschau gehalten werden, ob nicht durch eine Bestimmung eine der
vielen mächtigen Interessengruppen verletzt wird. Da sind die Eisenbahnen,
die Reedereien, die Banken, die Brauer und die Schenkwirte, sie alle verlangen
sehr zart behandelt zu werden, oder das Zünglein an der Wage neigt sich
nach der andern Seite. Die öffentliche Meinung muß sich in sehr starken
Ausdrücken ergehn, bevor die Interessengruppen ein Haarbreit von ihren ver¬
meintlichen Rechten aufgeben. Wo der Kuhhandel Regierungsmaxime ist,
muß man froh sein, wenn ein einigermaßen brauchbares Gesetz zustande kommt,
das wenigstens dem dringendsten Bedürfnis abhilft.

Unter der Notwendigkeit, auf die Interessengruppen Rücksicht nehmen zu


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 61, 1902, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341875_237285/250>, abgerufen am 22.07.2024.