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Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Viertes Vierteljahr.

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Blau und Weiß

späteren nachdenke" so klein "ut spärlich erscheint, daß man nicht begreift, wie
es so zuversichtlich hat ausgeboten werden können. Der erste Eindruck, den
das vollendete Zusammenspiel einer Anzahl ihre Rollen meisterhaft beherrschender
Künstler und Künstlerinnen ans jeden machen muß, der nicht von Borurteil,
Klassenhaß oder verletzter Eitelkeit geblendet wird, ist der einer wohlthuenden
Einfachheit und Natürlichkeit, eines mühelosem Bestrebens, sich und andern
das Leben so angenehm wie möglich zu machen durch Rücksichten und billiges
Abwägen aller Verhältnisse. Es geht alles so glatt, Szenen macht und
Sottisen sagt man sich nicht, weil es nicht Sitte ist; wenn man lügt, so ge¬
schieht es, um die Fiktion eines ewig heitern Himmels aufrecht zu erhalten;
für Leute mit einem anspruchsvollen Ich und überschwänglichem Ideenreichtum
ist dieses fein abgewogne Leben nichts. Es werden den Leuten Dinge zur
andern Natur, die der Außenstehende für Ziererei halten kann. Widersprechen
können sie ebensowenig, wie wir auf die Diele spucken könnten, und für das,
was man nicht sagen darf, weil es eine ihnen nur ganz allgemein als >L vor¬
schwebende Person verletzen könnte, haben sie einen nach allen Richtungen hin
ausgebildeten sechsten Sinn. Wir sprechen hier übrigens, bemerkt Stellanus
zu den Personen seiner Erzählung, selbstverständlich nur von den Leuten, die
1866 in diesem Hause beisammen waren. Seitdem sind Maß und Gewicht
völlig verändert, wir sind anglisiert, amerikanisiert, und einer, der zum Diner
die Treppe heraufkommt und eben mit seinem Automobil die Fußgänger de¬
zimiert hat, wird es anch in der Unterhaltung mit den Rechten seines Nach¬
bars nicht sehr genau nehmen. Den Fortschritt, er mag aussehen, wie er
Will, zu beklagen, ist nicht weise, vorwärts blicken ist die Parole, aber das
schließt das rein historische Behagen am Vergangnen nicht aus.

Dieser zweite Band von Weiß und Blau, der das Leben hoher und höchster
Kreise seit der Verlegung der zwei Schwadronen in die Residenzstadt behandelt,
mit erkennbarer Beziehung auf Dresden, aber so, daß nicht mit Fingern ge¬
zeigt wird, sondern alles Äußerliche leicht verändert worden ist, bringt uns
innerhalb einer wahrhaft souveränen Schilderung, die in jede Einzelheit ein¬
dringt, auch die Entwicklung des eigentlichen Romans, zu dem der erste Band
nur das Vorspiel giebt. In Pirna, wo die schweren Reiter noch in Bürger-
anartieren liegen, fühlen wir uns wie auf dem Lande und sind unter dem
Volk. Die handelnden Personen sind einige Offiziersburschen mit ihren Ver¬
wandten und Verhältnissen, dann einige Personen höhern Standes, ein junges
Offiziersehepaar und ein Referendar, ein reiches englisches Fräulein und ein
"och reicherer, menschenscheuer Holländer, beide mit einer geheimnisvollen Ver¬
gangenheit, die sämtlich später mit in die Residenz hinüberziehn und dann in
dem Roman zu spielen haben, bereiten sich zunächst noch sehr zurückhaltend
auf ihre spätern Rollen vor, sodaß das Milien des erste" Bandes wesentlich
volkstümlich ist. Wir haben uns manchmal während des Lesens gefragt,
welcher dieser beiden sachlich und im Ton verschieden gestimmten Bände vor-
zuziehn sei, und darauf vom Standpunkte dessen, der die Kunst der Beschrei¬
bung auf ihre Wirkung ansieht, keine Antwort finden können, denn der Ver-


Blau und Weiß

späteren nachdenke» so klein »ut spärlich erscheint, daß man nicht begreift, wie
es so zuversichtlich hat ausgeboten werden können. Der erste Eindruck, den
das vollendete Zusammenspiel einer Anzahl ihre Rollen meisterhaft beherrschender
Künstler und Künstlerinnen ans jeden machen muß, der nicht von Borurteil,
Klassenhaß oder verletzter Eitelkeit geblendet wird, ist der einer wohlthuenden
Einfachheit und Natürlichkeit, eines mühelosem Bestrebens, sich und andern
das Leben so angenehm wie möglich zu machen durch Rücksichten und billiges
Abwägen aller Verhältnisse. Es geht alles so glatt, Szenen macht und
Sottisen sagt man sich nicht, weil es nicht Sitte ist; wenn man lügt, so ge¬
schieht es, um die Fiktion eines ewig heitern Himmels aufrecht zu erhalten;
für Leute mit einem anspruchsvollen Ich und überschwänglichem Ideenreichtum
ist dieses fein abgewogne Leben nichts. Es werden den Leuten Dinge zur
andern Natur, die der Außenstehende für Ziererei halten kann. Widersprechen
können sie ebensowenig, wie wir auf die Diele spucken könnten, und für das,
was man nicht sagen darf, weil es eine ihnen nur ganz allgemein als >L vor¬
schwebende Person verletzen könnte, haben sie einen nach allen Richtungen hin
ausgebildeten sechsten Sinn. Wir sprechen hier übrigens, bemerkt Stellanus
zu den Personen seiner Erzählung, selbstverständlich nur von den Leuten, die
1866 in diesem Hause beisammen waren. Seitdem sind Maß und Gewicht
völlig verändert, wir sind anglisiert, amerikanisiert, und einer, der zum Diner
die Treppe heraufkommt und eben mit seinem Automobil die Fußgänger de¬
zimiert hat, wird es anch in der Unterhaltung mit den Rechten seines Nach¬
bars nicht sehr genau nehmen. Den Fortschritt, er mag aussehen, wie er
Will, zu beklagen, ist nicht weise, vorwärts blicken ist die Parole, aber das
schließt das rein historische Behagen am Vergangnen nicht aus.

Dieser zweite Band von Weiß und Blau, der das Leben hoher und höchster
Kreise seit der Verlegung der zwei Schwadronen in die Residenzstadt behandelt,
mit erkennbarer Beziehung auf Dresden, aber so, daß nicht mit Fingern ge¬
zeigt wird, sondern alles Äußerliche leicht verändert worden ist, bringt uns
innerhalb einer wahrhaft souveränen Schilderung, die in jede Einzelheit ein¬
dringt, auch die Entwicklung des eigentlichen Romans, zu dem der erste Band
nur das Vorspiel giebt. In Pirna, wo die schweren Reiter noch in Bürger-
anartieren liegen, fühlen wir uns wie auf dem Lande und sind unter dem
Volk. Die handelnden Personen sind einige Offiziersburschen mit ihren Ver¬
wandten und Verhältnissen, dann einige Personen höhern Standes, ein junges
Offiziersehepaar und ein Referendar, ein reiches englisches Fräulein und ein
»och reicherer, menschenscheuer Holländer, beide mit einer geheimnisvollen Ver¬
gangenheit, die sämtlich später mit in die Residenz hinüberziehn und dann in
dem Roman zu spielen haben, bereiten sich zunächst noch sehr zurückhaltend
auf ihre spätern Rollen vor, sodaß das Milien des erste» Bandes wesentlich
volkstümlich ist. Wir haben uns manchmal während des Lesens gefragt,
welcher dieser beiden sachlich und im Ton verschieden gestimmten Bände vor-
zuziehn sei, und darauf vom Standpunkte dessen, der die Kunst der Beschrei¬
bung auf ihre Wirkung ansieht, keine Antwort finden können, denn der Ver-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_235821/605>, abgerufen am 27.07.2024.