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Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Viertes Vierteljahr.

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England und Rußland

Ozean, und es ist uns dem Wege, sich eine Eisenbahnverbindung durch Persien
nach dem Indischen Ozean zu schaffen. Seine Eisenbahnen und Garnisonen
sind bis an den Fuß der iranischen Grenzgebirge vorgerückt; ein Befehl des
Zaren, und Herat, der Schlüssel Afghanistans, liegt in seiner Hand, Schon
herrscht der Einfluß Rußlands in Persien derart, daß nach dem Urteile Kun¬
diger "Englands Zukunft im Lande vorbei ist, vorbei vom Golf bis an den
Kcispi, von den Alpen Kurdistans bis zur Pforte von Indien." Sobald
vollends die geplante Eisenbahn von Meschhed aus nach dem östlichen Persien
lSejistcm) hineingeführt ist, können die Russen von dort und von Herat aus
Indien erreichen, und "der Besitz Indiens für England hangt nicht mehr daran,
ob es die Russen am Einmarsch über den Indus verhindern kann, sondern
nur noch daran, ob der Zar den Entschluß faßt, marschieren zu lassen
oder nicht."

Steht es so in Asien, was bietet dann jener Verstündigungsvorschlag den
Russen? Nichts, was sie nicht schon hatten oder nächstens haben werden,
oder was ihnen minder wichtig ist, wie Kleinasien, das jetzt keineswegs im
Vordergrunde ihrer Politik steht. Denn England wird sie weder aus Nord¬
china noch aus Persien verdrängen. Von Indien aber schweigt der Vorschlag
bezeichnenderweise ganz. Glaubt sein Urheber, daß die Russen den Gedanken
daran aufgegeben haben, oder treibt er die furchtsame Selbsttäuschungspvlitik
des Vogels Strauß?

Doch -- ein lockendes Anerbieten wird Rußland gemacht: die Neutralität
Englands in einem russisch-dentschen Kriege. Man muß in England einen solchen
Krieg für sehr wahrscheinlich halten, wenn man glaubt, schon die bloße Neu¬
tralität Großbritanniens, nicht etwa sein Bündnis, sei für Rußland wertvoll
genug, daß es mit so bedeutenden Zugeständnissen erkauft werden müßte, und
ohne Zweifel stellt man sich vor, daß in einem solchen Falle Frankreich sofort
ans Rußlands Seite treten würde. Auch wir bezweifeln das durchaus nicht,
trotz der unsaglichem Friedensliebe des französischen Volks, denn im ent¬
scheidenden Augenblick ist es immer von den Schreiern der Hauptstadt in der
Kammer und in der Presse bestimmt worden, und sobald diese den Ruf nach
Revanche erhöben, würde es heute nicht anders gehn. Aber wir wüßten nicht,
was Rußland in absehbarer Zeit zu einem Kriege gegen Deutschland veran¬
lassen sollte. Das in monarchischen Staaten so wichtige persönliche Vertrauens¬
verhältnis der Monarchen ist durch die Zusammenwirft der beiden Kaiser vor
Danzig aufs neue befestigt oder bestätigt und in dem Ritt unsers Kaisers
nach dem abgebrannten russischen Grenzstädtchen Wyschiten in ungewöhnlicher,
aber sicherlich wohlberechneter Weise vor aller Welt betont worden. Nirgends,
weder in Zentralnsien noch in China tritt Deutschland den russischen Be¬
strebungen in den Weg; auch das Jangtseabkonunen mit England hat sie ganz
außer Spiel gelassen. Der Vertragsentwurf der Melon^l Rsvievv setzt voraus,
daß die deutschen Eisenbnhnbauten in Kleinasien und Mesopotamien bis zum
Persischen Golf die russischen Absichten kreuzten. Da diese aber heute gar


England und Rußland

Ozean, und es ist uns dem Wege, sich eine Eisenbahnverbindung durch Persien
nach dem Indischen Ozean zu schaffen. Seine Eisenbahnen und Garnisonen
sind bis an den Fuß der iranischen Grenzgebirge vorgerückt; ein Befehl des
Zaren, und Herat, der Schlüssel Afghanistans, liegt in seiner Hand, Schon
herrscht der Einfluß Rußlands in Persien derart, daß nach dem Urteile Kun¬
diger „Englands Zukunft im Lande vorbei ist, vorbei vom Golf bis an den
Kcispi, von den Alpen Kurdistans bis zur Pforte von Indien." Sobald
vollends die geplante Eisenbahn von Meschhed aus nach dem östlichen Persien
lSejistcm) hineingeführt ist, können die Russen von dort und von Herat aus
Indien erreichen, und „der Besitz Indiens für England hangt nicht mehr daran,
ob es die Russen am Einmarsch über den Indus verhindern kann, sondern
nur noch daran, ob der Zar den Entschluß faßt, marschieren zu lassen
oder nicht."

Steht es so in Asien, was bietet dann jener Verstündigungsvorschlag den
Russen? Nichts, was sie nicht schon hatten oder nächstens haben werden,
oder was ihnen minder wichtig ist, wie Kleinasien, das jetzt keineswegs im
Vordergrunde ihrer Politik steht. Denn England wird sie weder aus Nord¬
china noch aus Persien verdrängen. Von Indien aber schweigt der Vorschlag
bezeichnenderweise ganz. Glaubt sein Urheber, daß die Russen den Gedanken
daran aufgegeben haben, oder treibt er die furchtsame Selbsttäuschungspvlitik
des Vogels Strauß?

Doch — ein lockendes Anerbieten wird Rußland gemacht: die Neutralität
Englands in einem russisch-dentschen Kriege. Man muß in England einen solchen
Krieg für sehr wahrscheinlich halten, wenn man glaubt, schon die bloße Neu¬
tralität Großbritanniens, nicht etwa sein Bündnis, sei für Rußland wertvoll
genug, daß es mit so bedeutenden Zugeständnissen erkauft werden müßte, und
ohne Zweifel stellt man sich vor, daß in einem solchen Falle Frankreich sofort
ans Rußlands Seite treten würde. Auch wir bezweifeln das durchaus nicht,
trotz der unsaglichem Friedensliebe des französischen Volks, denn im ent¬
scheidenden Augenblick ist es immer von den Schreiern der Hauptstadt in der
Kammer und in der Presse bestimmt worden, und sobald diese den Ruf nach
Revanche erhöben, würde es heute nicht anders gehn. Aber wir wüßten nicht,
was Rußland in absehbarer Zeit zu einem Kriege gegen Deutschland veran¬
lassen sollte. Das in monarchischen Staaten so wichtige persönliche Vertrauens¬
verhältnis der Monarchen ist durch die Zusammenwirft der beiden Kaiser vor
Danzig aufs neue befestigt oder bestätigt und in dem Ritt unsers Kaisers
nach dem abgebrannten russischen Grenzstädtchen Wyschiten in ungewöhnlicher,
aber sicherlich wohlberechneter Weise vor aller Welt betont worden. Nirgends,
weder in Zentralnsien noch in China tritt Deutschland den russischen Be¬
strebungen in den Weg; auch das Jangtseabkonunen mit England hat sie ganz
außer Spiel gelassen. Der Vertragsentwurf der Melon^l Rsvievv setzt voraus,
daß die deutschen Eisenbnhnbauten in Kleinasien und Mesopotamien bis zum
Persischen Golf die russischen Absichten kreuzten. Da diese aber heute gar


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[0480] England und Rußland Ozean, und es ist uns dem Wege, sich eine Eisenbahnverbindung durch Persien nach dem Indischen Ozean zu schaffen. Seine Eisenbahnen und Garnisonen sind bis an den Fuß der iranischen Grenzgebirge vorgerückt; ein Befehl des Zaren, und Herat, der Schlüssel Afghanistans, liegt in seiner Hand, Schon herrscht der Einfluß Rußlands in Persien derart, daß nach dem Urteile Kun¬ diger „Englands Zukunft im Lande vorbei ist, vorbei vom Golf bis an den Kcispi, von den Alpen Kurdistans bis zur Pforte von Indien." Sobald vollends die geplante Eisenbahn von Meschhed aus nach dem östlichen Persien lSejistcm) hineingeführt ist, können die Russen von dort und von Herat aus Indien erreichen, und „der Besitz Indiens für England hangt nicht mehr daran, ob es die Russen am Einmarsch über den Indus verhindern kann, sondern nur noch daran, ob der Zar den Entschluß faßt, marschieren zu lassen oder nicht." Steht es so in Asien, was bietet dann jener Verstündigungsvorschlag den Russen? Nichts, was sie nicht schon hatten oder nächstens haben werden, oder was ihnen minder wichtig ist, wie Kleinasien, das jetzt keineswegs im Vordergrunde ihrer Politik steht. Denn England wird sie weder aus Nord¬ china noch aus Persien verdrängen. Von Indien aber schweigt der Vorschlag bezeichnenderweise ganz. Glaubt sein Urheber, daß die Russen den Gedanken daran aufgegeben haben, oder treibt er die furchtsame Selbsttäuschungspvlitik des Vogels Strauß? Doch — ein lockendes Anerbieten wird Rußland gemacht: die Neutralität Englands in einem russisch-dentschen Kriege. Man muß in England einen solchen Krieg für sehr wahrscheinlich halten, wenn man glaubt, schon die bloße Neu¬ tralität Großbritanniens, nicht etwa sein Bündnis, sei für Rußland wertvoll genug, daß es mit so bedeutenden Zugeständnissen erkauft werden müßte, und ohne Zweifel stellt man sich vor, daß in einem solchen Falle Frankreich sofort ans Rußlands Seite treten würde. Auch wir bezweifeln das durchaus nicht, trotz der unsaglichem Friedensliebe des französischen Volks, denn im ent¬ scheidenden Augenblick ist es immer von den Schreiern der Hauptstadt in der Kammer und in der Presse bestimmt worden, und sobald diese den Ruf nach Revanche erhöben, würde es heute nicht anders gehn. Aber wir wüßten nicht, was Rußland in absehbarer Zeit zu einem Kriege gegen Deutschland veran¬ lassen sollte. Das in monarchischen Staaten so wichtige persönliche Vertrauens¬ verhältnis der Monarchen ist durch die Zusammenwirft der beiden Kaiser vor Danzig aufs neue befestigt oder bestätigt und in dem Ritt unsers Kaisers nach dem abgebrannten russischen Grenzstädtchen Wyschiten in ungewöhnlicher, aber sicherlich wohlberechneter Weise vor aller Welt betont worden. Nirgends, weder in Zentralnsien noch in China tritt Deutschland den russischen Be¬ strebungen in den Weg; auch das Jangtseabkonunen mit England hat sie ganz außer Spiel gelassen. Der Vertragsentwurf der Melon^l Rsvievv setzt voraus, daß die deutschen Eisenbnhnbauten in Kleinasien und Mesopotamien bis zum Persischen Golf die russischen Absichten kreuzten. Da diese aber heute gar

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_235821/480>, abgerufen am 01.09.2024.