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Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Viertes Vierteljahr.

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England und Rußland

nicht auf die Zerstörung der Türkei, sondern eher auf ihre Erhaltung und
Beherrschung für russische Zwecke gerichtet sind, so kann ihnen ein deutsches
Bahnnetz, das doch auch dein russischen Handel zu gute kommt, nicht unwill¬
kommen sein, an so weniger, als dieses den englischen Bestrebungen am Per¬
sischen Golf Konkurrenz macht; und auch wenn die Russen diese Bahnen viel¬
leicht lieber selbst bauten, so sind, sagt einer der besten Kenner Vorderasiens,
Paul Rohrbach, der jetzt wieder in den Preußischen Jahrbüchern eine Reihe
höchst interessanter Aufsätze über Mesopotamien und Persien gebracht hat, "die
Interessen unsers östlichen Nachbarn so groß, daß es ihm ernsthaft auf ge¬
wichtige Zugeständnisse uus gegenüber gar nicht ankommen darf, wenn er in
der Hauptfrage sich bewußt sein kann, was uns betrifft, vollkommen sicher zu
gehn." (In Turan und Armenien, Berlin, Stille, 1898.) In Europa aber
giebt es jetzt schlechterdings keine Frage, die Rußland und Deutschland ent¬
zweien könnten; ja Rußland leistet uns hier den großen Dienst, daß es Frank¬
reich sozusagen an die Kette gelegt hat.

Aber gesetzt den unwahrscheinlichen Fall, Rußland und Frankreich griffen
uns an, wäre dann ihr Sieg so sicher, auch mit Hilfe der englischen Neutra¬
lität? Ein solcher Doppelangriff würde den ganzen Dreibund unter Waffen
rufen, und das Gleichgewicht der Kräfte zu Lande sofort herstellen, zur See
aber würde mindestens die Hülste der französischen Flotte im Mittelmeer ge¬
braucht werden, und was sie uns dann mit der russischen Ostseeflotte im
Norden entgegenstellen könnte, dem würden wir vielleicht gewachsen sein. Den
Dreibund aber vorher zu sprengen dürfte nicht so leicht sein. Die einzige
Macht, deren Ablösung in Aussicht zu nehme" wäre, würde Italien sein.
Aber Italien würde zu einem Vasallen Frankreichs herabsinken, wenn es am
Dreibund keine Anlehnung mehr fände, was die Italiener sehr genau wissen,
und England bedarf der italienischen Flotte im Mittelmeer, wie dieses der eng¬
lischen, um dort den Franzosen, vielleicht auch den Russen, wenn deren Schwarz¬
meerflotte durch die Meerengen kommen kann, die Wage zu halten. Und
welches Interesse hätte Rußland daran, Deutschland zu brechen? Es gab eine
Zeit, wo russische Offiziere meinten, der Weg nach Wien und Konstantinopel
führe durch das Brandenburger Thor. Sie haben seitdem wohl gefunden, daß
der Weg nach der alten byzantinischen Kaiserstadt von Sebastopol aus kürzer
und bequemer ist, und daß der Marsch nach Indien sehr viel mehr lohnt.
Jedenfalls würde Nußland, wenn es das Deutsche Reich zerstörte, eine Macht
zerstören, die es ihm erleichtert, das Gleichgewicht gegen England zu halten,
und die unter Umständen sein Bundesgenosse sein kann.

Daß dagegen das vorgeschlagne Abkommen für England sehr große
Vorteile bieten würde, liegt auf der Hand. Die Alleinherrschaft über das
Jangtsethal hat es eben noch nicht, während die Russen in der Mandschurei
und Mongolei schon ganz fest stehn; es will sie erst gewinnen, und müßte
dazu erst Deutschland aus seiner chinesischen Position verdrängen, was ihm


Grenzboten IV 1901 60
England und Rußland

nicht auf die Zerstörung der Türkei, sondern eher auf ihre Erhaltung und
Beherrschung für russische Zwecke gerichtet sind, so kann ihnen ein deutsches
Bahnnetz, das doch auch dein russischen Handel zu gute kommt, nicht unwill¬
kommen sein, an so weniger, als dieses den englischen Bestrebungen am Per¬
sischen Golf Konkurrenz macht; und auch wenn die Russen diese Bahnen viel¬
leicht lieber selbst bauten, so sind, sagt einer der besten Kenner Vorderasiens,
Paul Rohrbach, der jetzt wieder in den Preußischen Jahrbüchern eine Reihe
höchst interessanter Aufsätze über Mesopotamien und Persien gebracht hat, „die
Interessen unsers östlichen Nachbarn so groß, daß es ihm ernsthaft auf ge¬
wichtige Zugeständnisse uus gegenüber gar nicht ankommen darf, wenn er in
der Hauptfrage sich bewußt sein kann, was uns betrifft, vollkommen sicher zu
gehn." (In Turan und Armenien, Berlin, Stille, 1898.) In Europa aber
giebt es jetzt schlechterdings keine Frage, die Rußland und Deutschland ent¬
zweien könnten; ja Rußland leistet uns hier den großen Dienst, daß es Frank¬
reich sozusagen an die Kette gelegt hat.

Aber gesetzt den unwahrscheinlichen Fall, Rußland und Frankreich griffen
uns an, wäre dann ihr Sieg so sicher, auch mit Hilfe der englischen Neutra¬
lität? Ein solcher Doppelangriff würde den ganzen Dreibund unter Waffen
rufen, und das Gleichgewicht der Kräfte zu Lande sofort herstellen, zur See
aber würde mindestens die Hülste der französischen Flotte im Mittelmeer ge¬
braucht werden, und was sie uns dann mit der russischen Ostseeflotte im
Norden entgegenstellen könnte, dem würden wir vielleicht gewachsen sein. Den
Dreibund aber vorher zu sprengen dürfte nicht so leicht sein. Die einzige
Macht, deren Ablösung in Aussicht zu nehme» wäre, würde Italien sein.
Aber Italien würde zu einem Vasallen Frankreichs herabsinken, wenn es am
Dreibund keine Anlehnung mehr fände, was die Italiener sehr genau wissen,
und England bedarf der italienischen Flotte im Mittelmeer, wie dieses der eng¬
lischen, um dort den Franzosen, vielleicht auch den Russen, wenn deren Schwarz¬
meerflotte durch die Meerengen kommen kann, die Wage zu halten. Und
welches Interesse hätte Rußland daran, Deutschland zu brechen? Es gab eine
Zeit, wo russische Offiziere meinten, der Weg nach Wien und Konstantinopel
führe durch das Brandenburger Thor. Sie haben seitdem wohl gefunden, daß
der Weg nach der alten byzantinischen Kaiserstadt von Sebastopol aus kürzer
und bequemer ist, und daß der Marsch nach Indien sehr viel mehr lohnt.
Jedenfalls würde Nußland, wenn es das Deutsche Reich zerstörte, eine Macht
zerstören, die es ihm erleichtert, das Gleichgewicht gegen England zu halten,
und die unter Umständen sein Bundesgenosse sein kann.

Daß dagegen das vorgeschlagne Abkommen für England sehr große
Vorteile bieten würde, liegt auf der Hand. Die Alleinherrschaft über das
Jangtsethal hat es eben noch nicht, während die Russen in der Mandschurei
und Mongolei schon ganz fest stehn; es will sie erst gewinnen, und müßte
dazu erst Deutschland aus seiner chinesischen Position verdrängen, was ihm


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[0481] England und Rußland nicht auf die Zerstörung der Türkei, sondern eher auf ihre Erhaltung und Beherrschung für russische Zwecke gerichtet sind, so kann ihnen ein deutsches Bahnnetz, das doch auch dein russischen Handel zu gute kommt, nicht unwill¬ kommen sein, an so weniger, als dieses den englischen Bestrebungen am Per¬ sischen Golf Konkurrenz macht; und auch wenn die Russen diese Bahnen viel¬ leicht lieber selbst bauten, so sind, sagt einer der besten Kenner Vorderasiens, Paul Rohrbach, der jetzt wieder in den Preußischen Jahrbüchern eine Reihe höchst interessanter Aufsätze über Mesopotamien und Persien gebracht hat, „die Interessen unsers östlichen Nachbarn so groß, daß es ihm ernsthaft auf ge¬ wichtige Zugeständnisse uus gegenüber gar nicht ankommen darf, wenn er in der Hauptfrage sich bewußt sein kann, was uns betrifft, vollkommen sicher zu gehn." (In Turan und Armenien, Berlin, Stille, 1898.) In Europa aber giebt es jetzt schlechterdings keine Frage, die Rußland und Deutschland ent¬ zweien könnten; ja Rußland leistet uns hier den großen Dienst, daß es Frank¬ reich sozusagen an die Kette gelegt hat. Aber gesetzt den unwahrscheinlichen Fall, Rußland und Frankreich griffen uns an, wäre dann ihr Sieg so sicher, auch mit Hilfe der englischen Neutra¬ lität? Ein solcher Doppelangriff würde den ganzen Dreibund unter Waffen rufen, und das Gleichgewicht der Kräfte zu Lande sofort herstellen, zur See aber würde mindestens die Hülste der französischen Flotte im Mittelmeer ge¬ braucht werden, und was sie uns dann mit der russischen Ostseeflotte im Norden entgegenstellen könnte, dem würden wir vielleicht gewachsen sein. Den Dreibund aber vorher zu sprengen dürfte nicht so leicht sein. Die einzige Macht, deren Ablösung in Aussicht zu nehme» wäre, würde Italien sein. Aber Italien würde zu einem Vasallen Frankreichs herabsinken, wenn es am Dreibund keine Anlehnung mehr fände, was die Italiener sehr genau wissen, und England bedarf der italienischen Flotte im Mittelmeer, wie dieses der eng¬ lischen, um dort den Franzosen, vielleicht auch den Russen, wenn deren Schwarz¬ meerflotte durch die Meerengen kommen kann, die Wage zu halten. Und welches Interesse hätte Rußland daran, Deutschland zu brechen? Es gab eine Zeit, wo russische Offiziere meinten, der Weg nach Wien und Konstantinopel führe durch das Brandenburger Thor. Sie haben seitdem wohl gefunden, daß der Weg nach der alten byzantinischen Kaiserstadt von Sebastopol aus kürzer und bequemer ist, und daß der Marsch nach Indien sehr viel mehr lohnt. Jedenfalls würde Nußland, wenn es das Deutsche Reich zerstörte, eine Macht zerstören, die es ihm erleichtert, das Gleichgewicht gegen England zu halten, und die unter Umständen sein Bundesgenosse sein kann. Daß dagegen das vorgeschlagne Abkommen für England sehr große Vorteile bieten würde, liegt auf der Hand. Die Alleinherrschaft über das Jangtsethal hat es eben noch nicht, während die Russen in der Mandschurei und Mongolei schon ganz fest stehn; es will sie erst gewinnen, und müßte dazu erst Deutschland aus seiner chinesischen Position verdrängen, was ihm Grenzboten IV 1901 60

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_235821/481>, abgerufen am 01.09.2024.