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Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Viertes Vierteljahr.

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England und Rußland

Kanada sind nicht nur bei Plassey und Quebek, sondern auch bei Roßbach
und Leuthen erobert worden, und wäre Deutschland im siebzehnte!? Jahrhundert
eine Macht gewesen, hätte es sich nicht in selbstmörderischen Kriegen verblutet,
so könnten heute zwar nicht, wie der wackre alte Möser in Osnabrück träumte,
Ratsherren von Hamburg und Lübeck, wohl aber ein kaiserlich deutscher Vize-
köuig in Kalkutta gebieten. Damals haben die drei Millionen Niederländer
ans der hinterindischen Inselwelt ein großes Reich begründet. Nicht anders
würden die Engländer in China herrschen, als Beamte, Soldaten, Kaufleute,
Unternehmer; von einer wirklichen Kolonisation kann ja in diesen: übervölkerten
Lande gar keine Rede sein, so wenig wie in Indien.

Ganz anders die Russen. In Zentralasicn, in Sibirien, im äußersten
Osten herrschen und kolouisiereu sie zugleich. Mit ihren Garnisonen, Eisen¬
bahnen und Flußdnmvfern schieben sie ihre Bauern- und Haudwerkert'otouieu
unaufhaltsam vor, hier nach der afghanischen und persischen Grenze, dort bis
an den Großen Ozean. Sie treten nirgends als die herrschende Rasse auf,
oder vielmehr, sie beanspruchen als Russen kein Vorrecht vor den Eingebornen,
sie fühlen sich genan so als gehorsame Unterthanen des "weißen Zaren" an
der Newa, wie diese ihm unterworfen sein sollen; sie nehmen Männer aller
Stämme, ohne uach Nationalität oder Religion zu fragen, bereitwillig in ihre
Dienste, sobald sie geeignet sind und Russisch verstehn. Selbst der russische
Bauer, der Muschik, verträgt sich mit den Asiaten vortrefflich. Denn er ist
selbst in thevkratisch-absolutistischen Begriffen aufgewachsen, uach Anschauung
und Sitte und uach seiner Kulturstufe ein halber Asiat, und gerade auch diese
niedrige Kultur, die aus Leben geringe Ansprüche stellt, unter Umständen
mit einer dürftigen Holzhütte, Kwas, Schnaps, Thee und Brot zufrieden ist,
macht den Russen zu einem vorzüglichen Kolonisator. Es klingt sonderbar,
aber es ist so: je höher die Kultur eiues Volkes steht, desto weniger eignet
es sich zur Gründung von Ackcrbnukolouieu, weil die Ansiedler viel zu ver¬
wöhnt sind, als daß sie ohne gewisse Kulturgcnüsse zu leben und die schweren
Entbehrungen einer ersten Festsetzung inmitten der Barbarei jahrelang gleich¬
mütig zu ertragen vermöchten. Dasselbe gilt vom russischen Soldaten, der
um blinden Gehorsam, Ausdauer und Anspruchslosigkeit kaum Seinesgleichen
findet, während der englische Söldner in Asien ohne Dienertroß gar nicht
denkbar ist. So sind die Russen da, wo sie in Asien einmal Fuß gefaßt
haben, niemals Vertrieben worden, denn sie schlagen feste Wurzeln im Lande.
Die Engländer würden dagegen dnrch militärische Niederlagen ans Indien
spurlos hiuausgefegt werden. Auch ist das Drängen der Russen nach dem
offnen Ozean etwas ganz natürliches, geradeso natürlich, wie zur Zeit Peters
des Großen das Vordringen nach der Ostsee, unter Katharina II. das Vor¬
dringen nach den, Schwarzen Meere. Das ungeheure Reich muß für seinen
Bodenreichtum und seine Jndustrieerzeugnisse, sür die es im hochkultivierten
Enropa gar keinen oder nicht genügenden Absatz findet, freie Bahn haben im
halb oder ganz barbarischen Osten. Schon hat es eisfreie Häfen am Großen


England und Rußland

Kanada sind nicht nur bei Plassey und Quebek, sondern auch bei Roßbach
und Leuthen erobert worden, und wäre Deutschland im siebzehnte!? Jahrhundert
eine Macht gewesen, hätte es sich nicht in selbstmörderischen Kriegen verblutet,
so könnten heute zwar nicht, wie der wackre alte Möser in Osnabrück träumte,
Ratsherren von Hamburg und Lübeck, wohl aber ein kaiserlich deutscher Vize-
köuig in Kalkutta gebieten. Damals haben die drei Millionen Niederländer
ans der hinterindischen Inselwelt ein großes Reich begründet. Nicht anders
würden die Engländer in China herrschen, als Beamte, Soldaten, Kaufleute,
Unternehmer; von einer wirklichen Kolonisation kann ja in diesen: übervölkerten
Lande gar keine Rede sein, so wenig wie in Indien.

Ganz anders die Russen. In Zentralasicn, in Sibirien, im äußersten
Osten herrschen und kolouisiereu sie zugleich. Mit ihren Garnisonen, Eisen¬
bahnen und Flußdnmvfern schieben sie ihre Bauern- und Haudwerkert'otouieu
unaufhaltsam vor, hier nach der afghanischen und persischen Grenze, dort bis
an den Großen Ozean. Sie treten nirgends als die herrschende Rasse auf,
oder vielmehr, sie beanspruchen als Russen kein Vorrecht vor den Eingebornen,
sie fühlen sich genan so als gehorsame Unterthanen des „weißen Zaren" an
der Newa, wie diese ihm unterworfen sein sollen; sie nehmen Männer aller
Stämme, ohne uach Nationalität oder Religion zu fragen, bereitwillig in ihre
Dienste, sobald sie geeignet sind und Russisch verstehn. Selbst der russische
Bauer, der Muschik, verträgt sich mit den Asiaten vortrefflich. Denn er ist
selbst in thevkratisch-absolutistischen Begriffen aufgewachsen, uach Anschauung
und Sitte und uach seiner Kulturstufe ein halber Asiat, und gerade auch diese
niedrige Kultur, die aus Leben geringe Ansprüche stellt, unter Umständen
mit einer dürftigen Holzhütte, Kwas, Schnaps, Thee und Brot zufrieden ist,
macht den Russen zu einem vorzüglichen Kolonisator. Es klingt sonderbar,
aber es ist so: je höher die Kultur eiues Volkes steht, desto weniger eignet
es sich zur Gründung von Ackcrbnukolouieu, weil die Ansiedler viel zu ver¬
wöhnt sind, als daß sie ohne gewisse Kulturgcnüsse zu leben und die schweren
Entbehrungen einer ersten Festsetzung inmitten der Barbarei jahrelang gleich¬
mütig zu ertragen vermöchten. Dasselbe gilt vom russischen Soldaten, der
um blinden Gehorsam, Ausdauer und Anspruchslosigkeit kaum Seinesgleichen
findet, während der englische Söldner in Asien ohne Dienertroß gar nicht
denkbar ist. So sind die Russen da, wo sie in Asien einmal Fuß gefaßt
haben, niemals Vertrieben worden, denn sie schlagen feste Wurzeln im Lande.
Die Engländer würden dagegen dnrch militärische Niederlagen ans Indien
spurlos hiuausgefegt werden. Auch ist das Drängen der Russen nach dem
offnen Ozean etwas ganz natürliches, geradeso natürlich, wie zur Zeit Peters
des Großen das Vordringen nach der Ostsee, unter Katharina II. das Vor¬
dringen nach den, Schwarzen Meere. Das ungeheure Reich muß für seinen
Bodenreichtum und seine Jndustrieerzeugnisse, sür die es im hochkultivierten
Enropa gar keinen oder nicht genügenden Absatz findet, freie Bahn haben im
halb oder ganz barbarischen Osten. Schon hat es eisfreie Häfen am Großen


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[0479] England und Rußland Kanada sind nicht nur bei Plassey und Quebek, sondern auch bei Roßbach und Leuthen erobert worden, und wäre Deutschland im siebzehnte!? Jahrhundert eine Macht gewesen, hätte es sich nicht in selbstmörderischen Kriegen verblutet, so könnten heute zwar nicht, wie der wackre alte Möser in Osnabrück träumte, Ratsherren von Hamburg und Lübeck, wohl aber ein kaiserlich deutscher Vize- köuig in Kalkutta gebieten. Damals haben die drei Millionen Niederländer ans der hinterindischen Inselwelt ein großes Reich begründet. Nicht anders würden die Engländer in China herrschen, als Beamte, Soldaten, Kaufleute, Unternehmer; von einer wirklichen Kolonisation kann ja in diesen: übervölkerten Lande gar keine Rede sein, so wenig wie in Indien. Ganz anders die Russen. In Zentralasicn, in Sibirien, im äußersten Osten herrschen und kolouisiereu sie zugleich. Mit ihren Garnisonen, Eisen¬ bahnen und Flußdnmvfern schieben sie ihre Bauern- und Haudwerkert'otouieu unaufhaltsam vor, hier nach der afghanischen und persischen Grenze, dort bis an den Großen Ozean. Sie treten nirgends als die herrschende Rasse auf, oder vielmehr, sie beanspruchen als Russen kein Vorrecht vor den Eingebornen, sie fühlen sich genan so als gehorsame Unterthanen des „weißen Zaren" an der Newa, wie diese ihm unterworfen sein sollen; sie nehmen Männer aller Stämme, ohne uach Nationalität oder Religion zu fragen, bereitwillig in ihre Dienste, sobald sie geeignet sind und Russisch verstehn. Selbst der russische Bauer, der Muschik, verträgt sich mit den Asiaten vortrefflich. Denn er ist selbst in thevkratisch-absolutistischen Begriffen aufgewachsen, uach Anschauung und Sitte und uach seiner Kulturstufe ein halber Asiat, und gerade auch diese niedrige Kultur, die aus Leben geringe Ansprüche stellt, unter Umständen mit einer dürftigen Holzhütte, Kwas, Schnaps, Thee und Brot zufrieden ist, macht den Russen zu einem vorzüglichen Kolonisator. Es klingt sonderbar, aber es ist so: je höher die Kultur eiues Volkes steht, desto weniger eignet es sich zur Gründung von Ackcrbnukolouieu, weil die Ansiedler viel zu ver¬ wöhnt sind, als daß sie ohne gewisse Kulturgcnüsse zu leben und die schweren Entbehrungen einer ersten Festsetzung inmitten der Barbarei jahrelang gleich¬ mütig zu ertragen vermöchten. Dasselbe gilt vom russischen Soldaten, der um blinden Gehorsam, Ausdauer und Anspruchslosigkeit kaum Seinesgleichen findet, während der englische Söldner in Asien ohne Dienertroß gar nicht denkbar ist. So sind die Russen da, wo sie in Asien einmal Fuß gefaßt haben, niemals Vertrieben worden, denn sie schlagen feste Wurzeln im Lande. Die Engländer würden dagegen dnrch militärische Niederlagen ans Indien spurlos hiuausgefegt werden. Auch ist das Drängen der Russen nach dem offnen Ozean etwas ganz natürliches, geradeso natürlich, wie zur Zeit Peters des Großen das Vordringen nach der Ostsee, unter Katharina II. das Vor¬ dringen nach den, Schwarzen Meere. Das ungeheure Reich muß für seinen Bodenreichtum und seine Jndustrieerzeugnisse, sür die es im hochkultivierten Enropa gar keinen oder nicht genügenden Absatz findet, freie Bahn haben im halb oder ganz barbarischen Osten. Schon hat es eisfreie Häfen am Großen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_235821/479>, abgerufen am 01.09.2024.