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Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Viertes Vierteljahr.

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l^lloncntmn und Llznstt'ilium

"nid sein Feuer aus Bescheidenheit wie aus kluger Vorsicht zu bezähmen und
zurückzuhalten versteht. In äußerst schwieriger Lage behauptet er sich, sein
bedrohtes Eigentum verteidigend, ohne die Pietät gegen die Mutter, die un¬
schuldige Ursache der Verwüstung, anders als manchmal in ungeschickten Worten
zu verletzen; ihr Zwang anzuthun, wozu er berechtigt wäre, erlaubt weder
seine kindliche Liebe, noch seine Furcht vor den Göttern. Achill ist etwa zehn
Jahre älter als Telemach, Des Vaters Mahnung -- immer der erste zu
sein und vorzustreben den andern gehorchend und aus eignem Antrieb hat
er von der Kriegsarbeit immer den schwersten Teil auf sich genommen. Daß
er im Rat hinter andern zurücksteht, bekennt er offenherzig. Seinem unge¬
stümen Temperament gemäß ist er im Zorn unversöhnlich, läßt thu aber die
Boten seines Beleidigers nicht entgelten, sondern ist gegen Agamenmons
Freunde so freundlich wie gegen jeden andern, der ihm nichts gethan hat.
Auch im Kriege versteht er zu schonen und Milde zu üben; erst nachdem
Patroklus gefallen ist, wird er hart und unerbittlich, teils aus Rachegefühl,
teils weil er dem Verstorbnen blutige Opfer zu schulden glaubt, teils in der
Erwägung, daß ihm selbst und unzähligen andern, da Patroklus jung habe
sterben müssen, dasselbe Schicksal beschicken sei, eigentlich kein Mensch den
Anspruch auf ein langes Leben erheben dürfe; in solcher Gemütsverfassung
ersticht er, ganz ohne Haß, den um Gnade flehenden jungen Lykaon, dein er
früher schou einmal das Leben geschenkt hat. Den Patroklus betrauert er so
leidenschaftlich, daß er weder essen noch trinken noch seinen absichtlich mit
Schmutz bedeckten Leib waschen mag. Leichtere UnmutSnnfälle lindert er mit
Saitenspiel und Gesang. Im höchsten Zorn verübt er an Hektors Leiche
Dinge, die vom Dichter wiederholt als unwürdig getadelt werden. Zum Teil
thut er eS ans Aberglauben, denn nachdem er den Leichnam dem freundlich
empfangner Pricnnns ausgeliefert und für die würdige Bestattung elftägige
Waffenruhe bewilligt hat, glaubt er die Seele des Patroklus um Verzeihung
bitten zu müssen. In sein Verhängnis fügt er sich zwar und scheut nicht den
Kampf, von dem er weiß, daß er ihm den Tod bringen werde, aber er macht
kein Hehl daraus, daß er lieber in Ruhe und ohne Ruhm daheim alt werden
möchte, und ist auf die Götter, das Schicksal und die ganze Weltordnung nicht
gut zu sprechen. Unbedingte Aufrichtigkeit, Offenheit und Wahrhaftigkeit ge¬
hören zu seinen hervorstechendsten Charakterzügen.

Odysseus, ein Mann in den vierzigeu, ist das Musterbild männlicher
Tüchtigkeit. Starken. Armes und starken Geistes, die ehernen Waffen und den
Bogen mit derselben Virtuosität handhabend wie die Waffe des Worts, in der
gefährlichsten und verzwicktesten Lage nicht verzweifelnd, ist er im Kriege und
in der Ratsversammlung gleich gut, auch überall sonst und zu allein zu ge¬
brauche". Er erklärt sich zu jedem Knechtsdienste bereit, macht Feuer an,
zimmert sich sein Ehebett und sein Floß, erbietet sich zu einem Wettmähen
und Wettpflügen. Daraus sehen wir nebenbei, daß die Männer ihre Zeit im
Frieden keineswegs bloß mit Schmausen, Tanzen und gymnastischen Spielen


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»nid sein Feuer aus Bescheidenheit wie aus kluger Vorsicht zu bezähmen und
zurückzuhalten versteht. In äußerst schwieriger Lage behauptet er sich, sein
bedrohtes Eigentum verteidigend, ohne die Pietät gegen die Mutter, die un¬
schuldige Ursache der Verwüstung, anders als manchmal in ungeschickten Worten
zu verletzen; ihr Zwang anzuthun, wozu er berechtigt wäre, erlaubt weder
seine kindliche Liebe, noch seine Furcht vor den Göttern. Achill ist etwa zehn
Jahre älter als Telemach, Des Vaters Mahnung — immer der erste zu
sein und vorzustreben den andern gehorchend und aus eignem Antrieb hat
er von der Kriegsarbeit immer den schwersten Teil auf sich genommen. Daß
er im Rat hinter andern zurücksteht, bekennt er offenherzig. Seinem unge¬
stümen Temperament gemäß ist er im Zorn unversöhnlich, läßt thu aber die
Boten seines Beleidigers nicht entgelten, sondern ist gegen Agamenmons
Freunde so freundlich wie gegen jeden andern, der ihm nichts gethan hat.
Auch im Kriege versteht er zu schonen und Milde zu üben; erst nachdem
Patroklus gefallen ist, wird er hart und unerbittlich, teils aus Rachegefühl,
teils weil er dem Verstorbnen blutige Opfer zu schulden glaubt, teils in der
Erwägung, daß ihm selbst und unzähligen andern, da Patroklus jung habe
sterben müssen, dasselbe Schicksal beschicken sei, eigentlich kein Mensch den
Anspruch auf ein langes Leben erheben dürfe; in solcher Gemütsverfassung
ersticht er, ganz ohne Haß, den um Gnade flehenden jungen Lykaon, dein er
früher schou einmal das Leben geschenkt hat. Den Patroklus betrauert er so
leidenschaftlich, daß er weder essen noch trinken noch seinen absichtlich mit
Schmutz bedeckten Leib waschen mag. Leichtere UnmutSnnfälle lindert er mit
Saitenspiel und Gesang. Im höchsten Zorn verübt er an Hektors Leiche
Dinge, die vom Dichter wiederholt als unwürdig getadelt werden. Zum Teil
thut er eS ans Aberglauben, denn nachdem er den Leichnam dem freundlich
empfangner Pricnnns ausgeliefert und für die würdige Bestattung elftägige
Waffenruhe bewilligt hat, glaubt er die Seele des Patroklus um Verzeihung
bitten zu müssen. In sein Verhängnis fügt er sich zwar und scheut nicht den
Kampf, von dem er weiß, daß er ihm den Tod bringen werde, aber er macht
kein Hehl daraus, daß er lieber in Ruhe und ohne Ruhm daheim alt werden
möchte, und ist auf die Götter, das Schicksal und die ganze Weltordnung nicht
gut zu sprechen. Unbedingte Aufrichtigkeit, Offenheit und Wahrhaftigkeit ge¬
hören zu seinen hervorstechendsten Charakterzügen.

Odysseus, ein Mann in den vierzigeu, ist das Musterbild männlicher
Tüchtigkeit. Starken. Armes und starken Geistes, die ehernen Waffen und den
Bogen mit derselben Virtuosität handhabend wie die Waffe des Worts, in der
gefährlichsten und verzwicktesten Lage nicht verzweifelnd, ist er im Kriege und
in der Ratsversammlung gleich gut, auch überall sonst und zu allein zu ge¬
brauche». Er erklärt sich zu jedem Knechtsdienste bereit, macht Feuer an,
zimmert sich sein Ehebett und sein Floß, erbietet sich zu einem Wettmähen
und Wettpflügen. Daraus sehen wir nebenbei, daß die Männer ihre Zeit im
Frieden keineswegs bloß mit Schmausen, Tanzen und gymnastischen Spielen


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_235821/349>, abgerufen am 01.09.2024.