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Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Viertes Vierteljahr.

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Über das Urankenversichenuigsgesetz

damit sie nicht zum Unrecht werde an denen, die nicht verarmen wollen. Will
man diese Idee mißliebig machen, so nennt man sie heute Manchestertnm oder
die Religion des l-UWA- tÄrs, illlsr. Aber man schafft damit nicht die
Thatsache ans der Welt, daß diese Ideen in ganz Europa binnen einem
Menschennlter siegreich wurden und die Kulturwelt, worin wir heute leben
und arbeiten, geschaffen haben, in Frankreich durch eine blutige Revolution,
bei uns aber durch die friedliche Arbeit einiger Staatsmänner, worunter Stein
der gewaltigste war. Wir haben heute alle die Freiheiten, die man damals
entbehrte, die Freiheit des Gewissens und der Rede, die politische Freiheit,
die Freiheit der Person, die freie Verfügung über daS Grundeigentum, die
Freiheit vou Zunftzwang, die Freizügigkeit und die Handelsfreiheit, und
wollen sie im Ernst nicht wieder hergeben, wollen uus auch deu kraftvollen
Kern in diesen Ideen nicht verdunkeln lassen, nämlich die stolze Überzeugung,
daß im großen gerechnet alle Menschen mit denselben Fähigkeiten zniu Ge¬
brauch dieser Freiheiten geboren werden, und daß, so wenig sie einem andern
verantwortlich sind für den Gebrauch, deu sie davon machen, so wenig mich
irgend jemand oder etwa der Staat verantwortlich ist für das Glück oder daS
Unglück, das sie im Gebrauch dieser Freiheiten erleiden.

Aber freilich das Reich der ewigen Glückseligkeit brach auch nach den
liberalen Reformen noch nicht an. Ans den Optimismus der Liberalen folgte
der Pessimismus der Sozialisten, Statt zur Gleichheit aller Meuschen schien
die freie Entwicklung zu wachsender Ungleichheit der Menschen zu führen. Der
Gedanke wurde wieder wach, daß die Gesellschaft die Pflicht habe, dem
Schwachen zu helfen, Heute glauben die Meuscheu, und zumal wir Deutschen
im neuen Reich ebenso fest daran, daß der Staat die Macht und auch die
Pflicht habe, alle Not zu lindern, wie unsre Vorfahren vor hinwert Jahren
an die Ohnmacht des Staats glaubten, und daran, daß es seine Pflicht sei,
die Hände vou dieser wohlmeinenden Quälerei zu lassen. Eine der besten
Früchte des modernen Sozialismus ist die deutsche Arbeiterversicherung, Indem
sie deu neuen Gedanken von der Pflicht der Fürsorge durch deu Staat in
wirkliche Thaten umsetzte, hat sie doch zugleich die Lehren der Vergangenheit
"licht vergessen und bedeutet darum einen großen Fortschritt gegen alles, was
früher bestanden hat.

Das Neue an ihr ist folgendes. Erstens nicht die politische Gemeinde,
sondern die Werte schaffende Arbeit selbst soll die Mittel hervorbringen. Zweitens
uicht nur die Arbeitgeber, souderu auch die Arbeiter sollen, einer für den
andern, die Lasten tragen. Drittens: es soll nicht nur die Pflicht bestehn,
dem Bedürftigen das Nötige zu geben, sondern der Arbeiter soll das Recht
haben, eine ganz bestimmte Summe zu fordern. Viertens: der Arbeiter soll
w dein Maße, als er mit steuert, auch an der Verwaltung der Mittel teil-
haben. Fünftens: es soll nicht jedes beliebige menschliche Unglück aus der
Welt geschafft werden, sondern uur gesetzlich scharf begrenzte Fälle von Unfall,
Krankheit und Invalidität sollen und müssen Hilfe erfahren.


Über das Urankenversichenuigsgesetz

damit sie nicht zum Unrecht werde an denen, die nicht verarmen wollen. Will
man diese Idee mißliebig machen, so nennt man sie heute Manchestertnm oder
die Religion des l-UWA- tÄrs, illlsr. Aber man schafft damit nicht die
Thatsache ans der Welt, daß diese Ideen in ganz Europa binnen einem
Menschennlter siegreich wurden und die Kulturwelt, worin wir heute leben
und arbeiten, geschaffen haben, in Frankreich durch eine blutige Revolution,
bei uns aber durch die friedliche Arbeit einiger Staatsmänner, worunter Stein
der gewaltigste war. Wir haben heute alle die Freiheiten, die man damals
entbehrte, die Freiheit des Gewissens und der Rede, die politische Freiheit,
die Freiheit der Person, die freie Verfügung über daS Grundeigentum, die
Freiheit vou Zunftzwang, die Freizügigkeit und die Handelsfreiheit, und
wollen sie im Ernst nicht wieder hergeben, wollen uus auch deu kraftvollen
Kern in diesen Ideen nicht verdunkeln lassen, nämlich die stolze Überzeugung,
daß im großen gerechnet alle Menschen mit denselben Fähigkeiten zniu Ge¬
brauch dieser Freiheiten geboren werden, und daß, so wenig sie einem andern
verantwortlich sind für den Gebrauch, deu sie davon machen, so wenig mich
irgend jemand oder etwa der Staat verantwortlich ist für das Glück oder daS
Unglück, das sie im Gebrauch dieser Freiheiten erleiden.

Aber freilich das Reich der ewigen Glückseligkeit brach auch nach den
liberalen Reformen noch nicht an. Ans den Optimismus der Liberalen folgte
der Pessimismus der Sozialisten, Statt zur Gleichheit aller Meuschen schien
die freie Entwicklung zu wachsender Ungleichheit der Menschen zu führen. Der
Gedanke wurde wieder wach, daß die Gesellschaft die Pflicht habe, dem
Schwachen zu helfen, Heute glauben die Meuscheu, und zumal wir Deutschen
im neuen Reich ebenso fest daran, daß der Staat die Macht und auch die
Pflicht habe, alle Not zu lindern, wie unsre Vorfahren vor hinwert Jahren
an die Ohnmacht des Staats glaubten, und daran, daß es seine Pflicht sei,
die Hände vou dieser wohlmeinenden Quälerei zu lassen. Eine der besten
Früchte des modernen Sozialismus ist die deutsche Arbeiterversicherung, Indem
sie deu neuen Gedanken von der Pflicht der Fürsorge durch deu Staat in
wirkliche Thaten umsetzte, hat sie doch zugleich die Lehren der Vergangenheit
«licht vergessen und bedeutet darum einen großen Fortschritt gegen alles, was
früher bestanden hat.

Das Neue an ihr ist folgendes. Erstens nicht die politische Gemeinde,
sondern die Werte schaffende Arbeit selbst soll die Mittel hervorbringen. Zweitens
uicht nur die Arbeitgeber, souderu auch die Arbeiter sollen, einer für den
andern, die Lasten tragen. Drittens: es soll nicht nur die Pflicht bestehn,
dem Bedürftigen das Nötige zu geben, sondern der Arbeiter soll das Recht
haben, eine ganz bestimmte Summe zu fordern. Viertens: der Arbeiter soll
w dein Maße, als er mit steuert, auch an der Verwaltung der Mittel teil-
haben. Fünftens: es soll nicht jedes beliebige menschliche Unglück aus der
Welt geschafft werden, sondern uur gesetzlich scharf begrenzte Fälle von Unfall,
Krankheit und Invalidität sollen und müssen Hilfe erfahren.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_235821/339>, abgerufen am 27.07.2024.