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Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Viertes Vierteljahr.

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Das Reich und das Reichsland

gewinnen. Die von Riff empfohlne Listenwahl allein bietet keinen genügenden
Schutz, Die kritiklose Annahme des Programms Riff durch die reichöländische"
Liberalen würde politischer Selbstmord sein.

In der Neichötagssitzuug vom 21, März 1879 hat Fürst Visinarck er-
klärt, die Einräumung eines Stimmrechts im Bundesrat an Elsaß-Lothringen
sei gleichbedeutend mit einer Vermehrung der preußische" Stimmen. Richtig
ist zweifellos, daß in allen politischen Fragen die Regierung des Kaisers im
Reichsland keine andern Ziele verfolgen kaun als die Regierung des Kaisers
im Reiche. Wenn die Neichsregiernng die Kriegsmarine vermehren, eine
Kolonialarmee schaffen, die Getreidezölle erhöhen oder Handelsverträge schließe"
will, so kann der Vertreter Elsaß-Lothringens im Bundesrat nicht anders
stimmen als der preußische Bevollmächtigte. Andrerseits aber giebt es zahl¬
lose Fragen zweiten Ranges, deren Entscheidung nicht von politischen, sondern
lediglich von wirtschaftlichen und technischen Erwägungen abhängt. Es besteht
kein Hindernis, daß der elsaß-lothringische Vertreter im Bundesrat für die
Deklaratiouspflicht der gezuckerten Weine, für die Erhöhung des Zolls ans
eingestampfte Trauben, für die Berufung in Strafsachen nud für die Bei¬
behaltung des Voreids um Stelle des Nnchcids eintritt, auch wenn die preu¬
ßischen Bevollmächtigten eine abweichende Stellung einnehmen. Die Forde¬
rung eiuer stimmberechtigten Vertretung Elsaß-Lothringens im Bundesrat be¬
ruht jedoch weniger auf praktische" als auf theoretische" Gründe", auf der
Idee der volle" Gleichberechtigung Elsaß-Lothringens mit den deutschen Vnndes-
staaten.

Der größte Widerstand gegen die Bewilligung eines Stimmrechts für
den Vertreter Elsaß-Lothringens im Bundesrat ist von den Mittelstaaten zu
erwarte". Diese befürchten von der Bewilligung eine Verschiebung deS
Stimmenverhältnisses zu ihren N"gu"sten u"d zu Gunsten Preußens, wie der
bayrische Minister Freiherr von Crailsheim in der bayrischen Abgeordneten¬
kammer am 5. Dezember 1899 offen abgesprochen hat. Um die berechtigten
Bedenken, die die Mittelständen in dieser Beziehung haben, zu beseitigen,
braucht man nur auf einen Gedanken zllrückzugreifen, den der Abgeordnete
Windtyorst im Reichstage geäußert hat, nämlich auf den Gedanken, die Ge¬
samtzahl der Stimmen im Bundesrat entsprechend zu erhöhen. Wenn z. B.
Preußen achtzehn und Elsaß-Lothringen drei Stimmen erhielten, zugleich aber
die Stimmen von Bädern, Württemberg, Sachsen und Bade" um je eine ver¬
mehrt würden, so wäre die von den Mittelstaaten gefürchtete Verschiebung des
Stimmenverhältnisses vermieden.

Viel wichtiger als alle bisher erörterten Fragen ist die Hauptfrage, ob
eine Weiterbildung des bisherigen Neichslands zu einem selbständigen Bundes-
staat im Gesamtinteresse des Reichs liege. Bei den bisherigen Debatten über
diesen Gegenstand ist die Thatsache vollständig in Vergessenheit geraten, daß
über das zukünftige Schicksal von Elsaß-Lothringen nicht bloß das Interesse
des Landes, sondern vor allem und zuerst das Interesse des Reichs entscheidet.


Das Reich und das Reichsland

gewinnen. Die von Riff empfohlne Listenwahl allein bietet keinen genügenden
Schutz, Die kritiklose Annahme des Programms Riff durch die reichöländische»
Liberalen würde politischer Selbstmord sein.

In der Neichötagssitzuug vom 21, März 1879 hat Fürst Visinarck er-
klärt, die Einräumung eines Stimmrechts im Bundesrat an Elsaß-Lothringen
sei gleichbedeutend mit einer Vermehrung der preußische» Stimmen. Richtig
ist zweifellos, daß in allen politischen Fragen die Regierung des Kaisers im
Reichsland keine andern Ziele verfolgen kaun als die Regierung des Kaisers
im Reiche. Wenn die Neichsregiernng die Kriegsmarine vermehren, eine
Kolonialarmee schaffen, die Getreidezölle erhöhen oder Handelsverträge schließe»
will, so kann der Vertreter Elsaß-Lothringens im Bundesrat nicht anders
stimmen als der preußische Bevollmächtigte. Andrerseits aber giebt es zahl¬
lose Fragen zweiten Ranges, deren Entscheidung nicht von politischen, sondern
lediglich von wirtschaftlichen und technischen Erwägungen abhängt. Es besteht
kein Hindernis, daß der elsaß-lothringische Vertreter im Bundesrat für die
Deklaratiouspflicht der gezuckerten Weine, für die Erhöhung des Zolls ans
eingestampfte Trauben, für die Berufung in Strafsachen nud für die Bei¬
behaltung des Voreids um Stelle des Nnchcids eintritt, auch wenn die preu¬
ßischen Bevollmächtigten eine abweichende Stellung einnehmen. Die Forde¬
rung eiuer stimmberechtigten Vertretung Elsaß-Lothringens im Bundesrat be¬
ruht jedoch weniger auf praktische» als auf theoretische» Gründe», auf der
Idee der volle» Gleichberechtigung Elsaß-Lothringens mit den deutschen Vnndes-
staaten.

Der größte Widerstand gegen die Bewilligung eines Stimmrechts für
den Vertreter Elsaß-Lothringens im Bundesrat ist von den Mittelstaaten zu
erwarte». Diese befürchten von der Bewilligung eine Verschiebung deS
Stimmenverhältnisses zu ihren N»gu»sten u»d zu Gunsten Preußens, wie der
bayrische Minister Freiherr von Crailsheim in der bayrischen Abgeordneten¬
kammer am 5. Dezember 1899 offen abgesprochen hat. Um die berechtigten
Bedenken, die die Mittelständen in dieser Beziehung haben, zu beseitigen,
braucht man nur auf einen Gedanken zllrückzugreifen, den der Abgeordnete
Windtyorst im Reichstage geäußert hat, nämlich auf den Gedanken, die Ge¬
samtzahl der Stimmen im Bundesrat entsprechend zu erhöhen. Wenn z. B.
Preußen achtzehn und Elsaß-Lothringen drei Stimmen erhielten, zugleich aber
die Stimmen von Bädern, Württemberg, Sachsen und Bade» um je eine ver¬
mehrt würden, so wäre die von den Mittelstaaten gefürchtete Verschiebung des
Stimmenverhältnisses vermieden.

Viel wichtiger als alle bisher erörterten Fragen ist die Hauptfrage, ob
eine Weiterbildung des bisherigen Neichslands zu einem selbständigen Bundes-
staat im Gesamtinteresse des Reichs liege. Bei den bisherigen Debatten über
diesen Gegenstand ist die Thatsache vollständig in Vergessenheit geraten, daß
über das zukünftige Schicksal von Elsaß-Lothringen nicht bloß das Interesse
des Landes, sondern vor allem und zuerst das Interesse des Reichs entscheidet.


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[0327] Das Reich und das Reichsland gewinnen. Die von Riff empfohlne Listenwahl allein bietet keinen genügenden Schutz, Die kritiklose Annahme des Programms Riff durch die reichöländische» Liberalen würde politischer Selbstmord sein. In der Neichötagssitzuug vom 21, März 1879 hat Fürst Visinarck er- klärt, die Einräumung eines Stimmrechts im Bundesrat an Elsaß-Lothringen sei gleichbedeutend mit einer Vermehrung der preußische» Stimmen. Richtig ist zweifellos, daß in allen politischen Fragen die Regierung des Kaisers im Reichsland keine andern Ziele verfolgen kaun als die Regierung des Kaisers im Reiche. Wenn die Neichsregiernng die Kriegsmarine vermehren, eine Kolonialarmee schaffen, die Getreidezölle erhöhen oder Handelsverträge schließe» will, so kann der Vertreter Elsaß-Lothringens im Bundesrat nicht anders stimmen als der preußische Bevollmächtigte. Andrerseits aber giebt es zahl¬ lose Fragen zweiten Ranges, deren Entscheidung nicht von politischen, sondern lediglich von wirtschaftlichen und technischen Erwägungen abhängt. Es besteht kein Hindernis, daß der elsaß-lothringische Vertreter im Bundesrat für die Deklaratiouspflicht der gezuckerten Weine, für die Erhöhung des Zolls ans eingestampfte Trauben, für die Berufung in Strafsachen nud für die Bei¬ behaltung des Voreids um Stelle des Nnchcids eintritt, auch wenn die preu¬ ßischen Bevollmächtigten eine abweichende Stellung einnehmen. Die Forde¬ rung eiuer stimmberechtigten Vertretung Elsaß-Lothringens im Bundesrat be¬ ruht jedoch weniger auf praktische» als auf theoretische» Gründe», auf der Idee der volle» Gleichberechtigung Elsaß-Lothringens mit den deutschen Vnndes- staaten. Der größte Widerstand gegen die Bewilligung eines Stimmrechts für den Vertreter Elsaß-Lothringens im Bundesrat ist von den Mittelstaaten zu erwarte». Diese befürchten von der Bewilligung eine Verschiebung deS Stimmenverhältnisses zu ihren N»gu»sten u»d zu Gunsten Preußens, wie der bayrische Minister Freiherr von Crailsheim in der bayrischen Abgeordneten¬ kammer am 5. Dezember 1899 offen abgesprochen hat. Um die berechtigten Bedenken, die die Mittelständen in dieser Beziehung haben, zu beseitigen, braucht man nur auf einen Gedanken zllrückzugreifen, den der Abgeordnete Windtyorst im Reichstage geäußert hat, nämlich auf den Gedanken, die Ge¬ samtzahl der Stimmen im Bundesrat entsprechend zu erhöhen. Wenn z. B. Preußen achtzehn und Elsaß-Lothringen drei Stimmen erhielten, zugleich aber die Stimmen von Bädern, Württemberg, Sachsen und Bade» um je eine ver¬ mehrt würden, so wäre die von den Mittelstaaten gefürchtete Verschiebung des Stimmenverhältnisses vermieden. Viel wichtiger als alle bisher erörterten Fragen ist die Hauptfrage, ob eine Weiterbildung des bisherigen Neichslands zu einem selbständigen Bundes- staat im Gesamtinteresse des Reichs liege. Bei den bisherigen Debatten über diesen Gegenstand ist die Thatsache vollständig in Vergessenheit geraten, daß über das zukünftige Schicksal von Elsaß-Lothringen nicht bloß das Interesse des Landes, sondern vor allem und zuerst das Interesse des Reichs entscheidet.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_235821/327>, abgerufen am 01.09.2024.