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Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Viertes Vierteljahr.

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Das Reich und das Reichsland

Es erscheint dann zeitgemäß, diese unbestreitbare n"d selbstverständliche That
sache hier wieder einmal in Erinnerung zu bringen. In der Reichstagssitzung
vom 30. November 1874 hat Fürst Bismarck den Elsaß-Lothringern zugerufen:
"Im Neichsintercsse haben wir diese Länder in einem guten Kriege, in einem
Verteidigungskriege, wo wir uns unsrer Haut zu wehren hatten, erobert; nicht
für Elsaß-Lothringen haben unsre Krieger ihr Blut vergossen, sondern für das
Deutsche Reich, für seine Einheit, für den Schutz seiner Grenzen."

Das Reichsinteresse nun wird dnrch die Gründung eines selbständige"
Bundesstaats Elsaß-Lothringen, solange die jetzigen politischen Zustände im
Reichsland bestehn, nicht gefördert, sondern direkt gefährdet. In dem künftigen
Bundesstaate müßten die Verwaltnngs-, Gesetzgebungs- und Aufsichtsrechte,
die die Reichsregieruug, der Bundesrat und der Reichstag gegenwärtig in
allen innern Landesangelegenheiten haben, natürlich wegfallen. Der elsa߬
lothringische Landtag würde in Zukunft allein -- ohne Konkurrenz des Reichs¬
tags -- über die Bewilligung neuer Einnahmen entscheiden; seine Zustimmung
wäre für alle Ausgaben, die nicht Pflichtausgabeu sind, wesentlich. Durch
dieses unbeschränkte Budgetrecht müßte der neue Landtag einen ungeheuern
Zuwachs an Macht und Einfluß gewinnen. Die Leitung der Negierung würde
sehr bald den Führern oder Vertrauensmännern des Landtags zufallen, da
diese allein imstande wären, wichtige Gesetzesvorlagen im Landtage durch¬
zusetzen. Die Stellung des kaiserlichen Statthalters würde gegenüber einem
mit vollem Budgetrecht ausgerüsteten Landtage, dessen Existenz und Rechte
durch die Landesverfassung gesichert sind, ganz anders und viel schwieriger
sein als gegenüber dem jetzigen Landesausschuß, der jederzeit von den Organen
der Reichsgesetzgebung korrigiert und bevormundet, im Notfall sogar gänzlich
beseitigt werden kann.

Es fragt sich nun, ob die innere Aussöhnung der Elsaß-Lothringer mit
der historischen Thatsache der Annexion so weit vorgeschritten ist, daß ein
Mißbrauch des Budgetrechts und der Selbstverwaltung nicht mehr zu befürchten
wäre. Aus der gegeuwürtigen, sehr loyalen Haltung des Landesausschusses
können keine Schlüsse für die Zukunft gezogen werden. Bei der Einführung
der von Riff empfohlnen Wahlart würde vermutlich ein großer Teil der bis¬
herigen Abgeordneten durch andre Männer ersetzt werden. Es darf auch nicht
übersehen werden, daß manche Beschlüsse des Landesausschusses uuter dem
Drucke der Erwägung gefaßt worden sind: "Wenn wir nicht mitthun, wird
die Sache ohne uns im Reichstage gemacht." Die spärliche Erhöhung der
Beamtengehälter im Jahre 1899, die der Landesausschuß zugleich zu einer
Gehaltsverschlechterung benutzt hat, sowie die Steuerreform vom Jahre 1901
würden wohl kaum zustande gekommen sein, wenn nicht im Hintergrunde ein
Eingreifen der Reichsgesetzgebung gedroht hätte.

Jede Schilderung der politischen Zustände im Reichsland wird dadurch
erschwert, daß die Verhältnisse der einzelnen Landesteile außerordeutlich ver¬
schieden sind. Die Zustände im Elsaß sind anders als in Lothringen, im


Das Reich und das Reichsland

Es erscheint dann zeitgemäß, diese unbestreitbare n»d selbstverständliche That
sache hier wieder einmal in Erinnerung zu bringen. In der Reichstagssitzung
vom 30. November 1874 hat Fürst Bismarck den Elsaß-Lothringern zugerufen:
„Im Neichsintercsse haben wir diese Länder in einem guten Kriege, in einem
Verteidigungskriege, wo wir uns unsrer Haut zu wehren hatten, erobert; nicht
für Elsaß-Lothringen haben unsre Krieger ihr Blut vergossen, sondern für das
Deutsche Reich, für seine Einheit, für den Schutz seiner Grenzen."

Das Reichsinteresse nun wird dnrch die Gründung eines selbständige»
Bundesstaats Elsaß-Lothringen, solange die jetzigen politischen Zustände im
Reichsland bestehn, nicht gefördert, sondern direkt gefährdet. In dem künftigen
Bundesstaate müßten die Verwaltnngs-, Gesetzgebungs- und Aufsichtsrechte,
die die Reichsregieruug, der Bundesrat und der Reichstag gegenwärtig in
allen innern Landesangelegenheiten haben, natürlich wegfallen. Der elsa߬
lothringische Landtag würde in Zukunft allein — ohne Konkurrenz des Reichs¬
tags — über die Bewilligung neuer Einnahmen entscheiden; seine Zustimmung
wäre für alle Ausgaben, die nicht Pflichtausgabeu sind, wesentlich. Durch
dieses unbeschränkte Budgetrecht müßte der neue Landtag einen ungeheuern
Zuwachs an Macht und Einfluß gewinnen. Die Leitung der Negierung würde
sehr bald den Führern oder Vertrauensmännern des Landtags zufallen, da
diese allein imstande wären, wichtige Gesetzesvorlagen im Landtage durch¬
zusetzen. Die Stellung des kaiserlichen Statthalters würde gegenüber einem
mit vollem Budgetrecht ausgerüsteten Landtage, dessen Existenz und Rechte
durch die Landesverfassung gesichert sind, ganz anders und viel schwieriger
sein als gegenüber dem jetzigen Landesausschuß, der jederzeit von den Organen
der Reichsgesetzgebung korrigiert und bevormundet, im Notfall sogar gänzlich
beseitigt werden kann.

Es fragt sich nun, ob die innere Aussöhnung der Elsaß-Lothringer mit
der historischen Thatsache der Annexion so weit vorgeschritten ist, daß ein
Mißbrauch des Budgetrechts und der Selbstverwaltung nicht mehr zu befürchten
wäre. Aus der gegeuwürtigen, sehr loyalen Haltung des Landesausschusses
können keine Schlüsse für die Zukunft gezogen werden. Bei der Einführung
der von Riff empfohlnen Wahlart würde vermutlich ein großer Teil der bis¬
herigen Abgeordneten durch andre Männer ersetzt werden. Es darf auch nicht
übersehen werden, daß manche Beschlüsse des Landesausschusses uuter dem
Drucke der Erwägung gefaßt worden sind: „Wenn wir nicht mitthun, wird
die Sache ohne uns im Reichstage gemacht." Die spärliche Erhöhung der
Beamtengehälter im Jahre 1899, die der Landesausschuß zugleich zu einer
Gehaltsverschlechterung benutzt hat, sowie die Steuerreform vom Jahre 1901
würden wohl kaum zustande gekommen sein, wenn nicht im Hintergrunde ein
Eingreifen der Reichsgesetzgebung gedroht hätte.

Jede Schilderung der politischen Zustände im Reichsland wird dadurch
erschwert, daß die Verhältnisse der einzelnen Landesteile außerordeutlich ver¬
schieden sind. Die Zustände im Elsaß sind anders als in Lothringen, im


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[0328] Das Reich und das Reichsland Es erscheint dann zeitgemäß, diese unbestreitbare n»d selbstverständliche That sache hier wieder einmal in Erinnerung zu bringen. In der Reichstagssitzung vom 30. November 1874 hat Fürst Bismarck den Elsaß-Lothringern zugerufen: „Im Neichsintercsse haben wir diese Länder in einem guten Kriege, in einem Verteidigungskriege, wo wir uns unsrer Haut zu wehren hatten, erobert; nicht für Elsaß-Lothringen haben unsre Krieger ihr Blut vergossen, sondern für das Deutsche Reich, für seine Einheit, für den Schutz seiner Grenzen." Das Reichsinteresse nun wird dnrch die Gründung eines selbständige» Bundesstaats Elsaß-Lothringen, solange die jetzigen politischen Zustände im Reichsland bestehn, nicht gefördert, sondern direkt gefährdet. In dem künftigen Bundesstaate müßten die Verwaltnngs-, Gesetzgebungs- und Aufsichtsrechte, die die Reichsregieruug, der Bundesrat und der Reichstag gegenwärtig in allen innern Landesangelegenheiten haben, natürlich wegfallen. Der elsa߬ lothringische Landtag würde in Zukunft allein — ohne Konkurrenz des Reichs¬ tags — über die Bewilligung neuer Einnahmen entscheiden; seine Zustimmung wäre für alle Ausgaben, die nicht Pflichtausgabeu sind, wesentlich. Durch dieses unbeschränkte Budgetrecht müßte der neue Landtag einen ungeheuern Zuwachs an Macht und Einfluß gewinnen. Die Leitung der Negierung würde sehr bald den Führern oder Vertrauensmännern des Landtags zufallen, da diese allein imstande wären, wichtige Gesetzesvorlagen im Landtage durch¬ zusetzen. Die Stellung des kaiserlichen Statthalters würde gegenüber einem mit vollem Budgetrecht ausgerüsteten Landtage, dessen Existenz und Rechte durch die Landesverfassung gesichert sind, ganz anders und viel schwieriger sein als gegenüber dem jetzigen Landesausschuß, der jederzeit von den Organen der Reichsgesetzgebung korrigiert und bevormundet, im Notfall sogar gänzlich beseitigt werden kann. Es fragt sich nun, ob die innere Aussöhnung der Elsaß-Lothringer mit der historischen Thatsache der Annexion so weit vorgeschritten ist, daß ein Mißbrauch des Budgetrechts und der Selbstverwaltung nicht mehr zu befürchten wäre. Aus der gegeuwürtigen, sehr loyalen Haltung des Landesausschusses können keine Schlüsse für die Zukunft gezogen werden. Bei der Einführung der von Riff empfohlnen Wahlart würde vermutlich ein großer Teil der bis¬ herigen Abgeordneten durch andre Männer ersetzt werden. Es darf auch nicht übersehen werden, daß manche Beschlüsse des Landesausschusses uuter dem Drucke der Erwägung gefaßt worden sind: „Wenn wir nicht mitthun, wird die Sache ohne uns im Reichstage gemacht." Die spärliche Erhöhung der Beamtengehälter im Jahre 1899, die der Landesausschuß zugleich zu einer Gehaltsverschlechterung benutzt hat, sowie die Steuerreform vom Jahre 1901 würden wohl kaum zustande gekommen sein, wenn nicht im Hintergrunde ein Eingreifen der Reichsgesetzgebung gedroht hätte. Jede Schilderung der politischen Zustände im Reichsland wird dadurch erschwert, daß die Verhältnisse der einzelnen Landesteile außerordeutlich ver¬ schieden sind. Die Zustände im Elsaß sind anders als in Lothringen, im

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_235821/328>, abgerufen am 01.09.2024.