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Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Viertes Vierteljahr.

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Das Reich und das Reichsland

Form" betrachten und dieser Anschauung und Gesinnung mehr und mehr Ein¬
gang in den Reihen der Armee zu verschaffet! suche". Darum: "Landgraf,
werde hart!" v, w.




Das Reich und das Reichsland
(Schluß)

leit kurzenl hat man begonnen, in Gefängnissen und Kasernen
Studien über die Bildungsstufe der untersten Volksschichten, aus
denen die große Mehrzahl der Wähler hervorgeht, zu machen.
Diese Studien haben geradezu verblüffende Resultate ergeben.
In einem Breslauer Gefängnis wurde festgestellt, daß sogar ge-
borne Breslauer den Namen des Flusses, an dein Breslau liegt, nicht zu
nennen wußten, daß für viele Schlesien, Preußen, Deutschland und Europa
identische Begriffe waren, und daß der Papst öfter mit dem in Breslau
wohnhaften Kardinal verwechselt wurdet) Bei einer Rekrutcnabteilnng, die
zur Hälfte aus Westfalen und zur Hälfte aus andern prenfu'schen Provinzen
stammte, wußten von achtundsiebzig Rekruten mir vierzehn, wer Bismarck war,
einundzwanzig Kunden ihn überhaupt nicht.

Es wird wohl niemand behaupten können, daß die Bildung der ober-
elsässischen Fabrikarbeiter oder der lothringischen Knechte höher sei als die
ihrer altdeutschen Standesgenossen, Der Staat hat kein Interesse, die Ent¬
scheidung bei den Wahlen der Menschenklasse einzuräumen, der die Anfnngs-
gründe jeder höhern Kultur fehlen. Auch die reichsländischen Liberalen haben
keinen Grund, sich für die Wahlreform ihres Parteigenossen Riff zu begeistern.
Wenn das allgemeine, gleiche und direkte Wahlrecht zum Landesansschnß ein¬
geführt würde, so müßten die künftigen Landtagswahlen eine große klerikale
Majorität ergeben, wie die Statistik der Neichstngswahlen beweist. Unter den
fünfzehn Reichstagswahlen in Elsaß-Lothringen sind nur drei -- nämlich die
Städte Stmßbnrg und Mülhausen, sowie der Kreis Zabern --, in denen die
Klerikalen bisher vergeblich um die Herrschaft gekämpft haben. Alle übrigen
zwölf Wahlkreise sind schon wiederholt von den Klerikalen erobert worden;
die meisten oberelsässischen und lothringischen Wahlkreise sind sogar eine sichere
Domäne der Klerikalen, In dein Zukunftsstaate des Abgeordneten Riff würden
also die Klerikalen die unbestrittene Herrschaft haben; die protestantisch-liberale
Minorität würde vollständig an die Wand gedrückt werden. Die Liberalen
müßten wenigstens danach streben, eine verfassungsmäßige Garantie für die
Vertretung der Minderheit durch die Einführung der Proportionalwahlen zu



*) Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft, Band 2t, Seite V. l<i.
Das Reich und das Reichsland

Form" betrachten und dieser Anschauung und Gesinnung mehr und mehr Ein¬
gang in den Reihen der Armee zu verschaffet! suche». Darum: „Landgraf,
werde hart!" v, w.




Das Reich und das Reichsland
(Schluß)

leit kurzenl hat man begonnen, in Gefängnissen und Kasernen
Studien über die Bildungsstufe der untersten Volksschichten, aus
denen die große Mehrzahl der Wähler hervorgeht, zu machen.
Diese Studien haben geradezu verblüffende Resultate ergeben.
In einem Breslauer Gefängnis wurde festgestellt, daß sogar ge-
borne Breslauer den Namen des Flusses, an dein Breslau liegt, nicht zu
nennen wußten, daß für viele Schlesien, Preußen, Deutschland und Europa
identische Begriffe waren, und daß der Papst öfter mit dem in Breslau
wohnhaften Kardinal verwechselt wurdet) Bei einer Rekrutcnabteilnng, die
zur Hälfte aus Westfalen und zur Hälfte aus andern prenfu'schen Provinzen
stammte, wußten von achtundsiebzig Rekruten mir vierzehn, wer Bismarck war,
einundzwanzig Kunden ihn überhaupt nicht.

Es wird wohl niemand behaupten können, daß die Bildung der ober-
elsässischen Fabrikarbeiter oder der lothringischen Knechte höher sei als die
ihrer altdeutschen Standesgenossen, Der Staat hat kein Interesse, die Ent¬
scheidung bei den Wahlen der Menschenklasse einzuräumen, der die Anfnngs-
gründe jeder höhern Kultur fehlen. Auch die reichsländischen Liberalen haben
keinen Grund, sich für die Wahlreform ihres Parteigenossen Riff zu begeistern.
Wenn das allgemeine, gleiche und direkte Wahlrecht zum Landesansschnß ein¬
geführt würde, so müßten die künftigen Landtagswahlen eine große klerikale
Majorität ergeben, wie die Statistik der Neichstngswahlen beweist. Unter den
fünfzehn Reichstagswahlen in Elsaß-Lothringen sind nur drei — nämlich die
Städte Stmßbnrg und Mülhausen, sowie der Kreis Zabern —, in denen die
Klerikalen bisher vergeblich um die Herrschaft gekämpft haben. Alle übrigen
zwölf Wahlkreise sind schon wiederholt von den Klerikalen erobert worden;
die meisten oberelsässischen und lothringischen Wahlkreise sind sogar eine sichere
Domäne der Klerikalen, In dein Zukunftsstaate des Abgeordneten Riff würden
also die Klerikalen die unbestrittene Herrschaft haben; die protestantisch-liberale
Minorität würde vollständig an die Wand gedrückt werden. Die Liberalen
müßten wenigstens danach streben, eine verfassungsmäßige Garantie für die
Vertretung der Minderheit durch die Einführung der Proportionalwahlen zu



*) Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft, Band 2t, Seite V. l<i.
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[0326] Das Reich und das Reichsland Form" betrachten und dieser Anschauung und Gesinnung mehr und mehr Ein¬ gang in den Reihen der Armee zu verschaffet! suche». Darum: „Landgraf, werde hart!" v, w. Das Reich und das Reichsland (Schluß) leit kurzenl hat man begonnen, in Gefängnissen und Kasernen Studien über die Bildungsstufe der untersten Volksschichten, aus denen die große Mehrzahl der Wähler hervorgeht, zu machen. Diese Studien haben geradezu verblüffende Resultate ergeben. In einem Breslauer Gefängnis wurde festgestellt, daß sogar ge- borne Breslauer den Namen des Flusses, an dein Breslau liegt, nicht zu nennen wußten, daß für viele Schlesien, Preußen, Deutschland und Europa identische Begriffe waren, und daß der Papst öfter mit dem in Breslau wohnhaften Kardinal verwechselt wurdet) Bei einer Rekrutcnabteilnng, die zur Hälfte aus Westfalen und zur Hälfte aus andern prenfu'schen Provinzen stammte, wußten von achtundsiebzig Rekruten mir vierzehn, wer Bismarck war, einundzwanzig Kunden ihn überhaupt nicht. Es wird wohl niemand behaupten können, daß die Bildung der ober- elsässischen Fabrikarbeiter oder der lothringischen Knechte höher sei als die ihrer altdeutschen Standesgenossen, Der Staat hat kein Interesse, die Ent¬ scheidung bei den Wahlen der Menschenklasse einzuräumen, der die Anfnngs- gründe jeder höhern Kultur fehlen. Auch die reichsländischen Liberalen haben keinen Grund, sich für die Wahlreform ihres Parteigenossen Riff zu begeistern. Wenn das allgemeine, gleiche und direkte Wahlrecht zum Landesansschnß ein¬ geführt würde, so müßten die künftigen Landtagswahlen eine große klerikale Majorität ergeben, wie die Statistik der Neichstngswahlen beweist. Unter den fünfzehn Reichstagswahlen in Elsaß-Lothringen sind nur drei — nämlich die Städte Stmßbnrg und Mülhausen, sowie der Kreis Zabern —, in denen die Klerikalen bisher vergeblich um die Herrschaft gekämpft haben. Alle übrigen zwölf Wahlkreise sind schon wiederholt von den Klerikalen erobert worden; die meisten oberelsässischen und lothringischen Wahlkreise sind sogar eine sichere Domäne der Klerikalen, In dein Zukunftsstaate des Abgeordneten Riff würden also die Klerikalen die unbestrittene Herrschaft haben; die protestantisch-liberale Minorität würde vollständig an die Wand gedrückt werden. Die Liberalen müßten wenigstens danach streben, eine verfassungsmäßige Garantie für die Vertretung der Minderheit durch die Einführung der Proportionalwahlen zu *) Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft, Band 2t, Seite V. l<i.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_235821/326>, abgerufen am 01.09.2024.