Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Viertes Vierteljahr.in Abrede, und der König, glaubte ihm. Also man kann von einem Manne, Daß er kein bloßer Bücherwurm war, kein lebendiges Konversations¬ Aus der Zeit der großen Krisis führen wir nur eine Thatsache an, die in Abrede, und der König, glaubte ihm. Also man kann von einem Manne, Daß er kein bloßer Bücherwurm war, kein lebendiges Konversations¬ Aus der Zeit der großen Krisis führen wir nur eine Thatsache an, die <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0140" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/235962"/> <fw type="header" place="top"/><lb/> <p xml:id="ID_481" prev="#ID_480"> in Abrede, und der König, glaubte ihm. Also man kann von einem Manne,<lb/> den die großen Angelegenheiten der Menschheit erfüllen, und den es drängt,<lb/> jeden Augenblick zur Erweiterung seiner gelehrten Erkenntnisse zu benutzen,<lb/> nicht zumuten, daß er sich mit jedem unbedeutenden Menschen in ein nichtiges<lb/> Gespräch einlasse. Daß es ihm an Liebe nicht fehlte, beweist seine in vielen<lb/> Fällen bewiesene Hilfsbereitschaft, seine Wohlthätigkeit und seine Fürsorge für<lb/> die Kinder seines verstorbnen Bruders, von denen er zwei, es waren Tochter,<lb/> in sein Hans aufnahm. Er stand damals schon in deu achtziger», aber in<lb/> dem Behagen, das ihm die beiden weiblichen Wesen schufen, ging ihm das<lb/> Herz noch einmal auf; er fühlte sich beglückt, und die jüngere unterrichtete er<lb/> zu Hause und auf Spaziergängen im Französischen und Italienischen. Eine<lb/> gewisse Einseitigkeit ist freilich bei enormer Entwicklung der Intelligenz un¬<lb/> vermeidlich; was man eine harmonische Persönlichkeit nennt und was die<lb/> Griechen Kalotagathie nannten, kann dabei nicht herauskommen, und einiger¬<lb/> maßen unheimlich wird gewöhnlichen Menschen ein Geistesmcnsch immer bleiben,<lb/> dein der Leib wirklich nur als Organ des Geistes dient, der über das absolut<lb/> notwendige hinaus keine körperlichen Bedürfnisse hat, womit eine Menge ge¬<lb/> mütliche Beziehungen wegfallen, die die Menschen untereinander verbinden, und<lb/> an dem man nicht eine einzige Schwäche aufspüren kann.</p><lb/> <p xml:id="ID_482"> Daß er kein bloßer Bücherwurm war, kein lebendiges Konversations¬<lb/> lexikon, kein Pedant, das beweisen seine lebhafte Teilnahme an den politischen<lb/> und kirchlichen Kämpfen seiner Zeit, sein offnes Auge und sein scharfes Ver¬<lb/> ständnis für alle Volksbedürfnisse und für alle menschlichen Verhältnisse, die<lb/> Virtuosität seiner Darstellungskunst und seine oft in begeisterter Rede über¬<lb/> strömende Liebe zum deutschen Volk und Vaterland. Der General von<lb/> der Tann wohnte in derselben Straße mit ihm und setzte einmal eine Petition<lb/> um Kanalisation der Straße in Umlauf. Döllinger befürwortete sie warm<lb/> und eingehend, und als sie so bereichert an den General zurückgelangte, rief<lb/> dieser verwundert: „Ich glaubte, Döllinger sei nur Theologe; jetzt schreibt er<lb/> auch eine gelehrte Abhandlung über die Kanalisation!" Und seine Aussprüche<lb/> über das Wesen des Deutschtums wie der aus der Rektoratsrede vom 22. De¬<lb/> zember 1866, den Friedrich S 431 zitiert, sollten in keinem Lesebuch für höhere<lb/> Lehranstalten fehlen. Bismnrck gegenüber war er anfänglich skeptisch; er fürchtete,<lb/> daß seine Leidenschaftlichkeit Unheil anrichten könnte. Später zollte er ihm<lb/> uneingeschränkte Verehrung und Bewundrung und bedauerte, daß eine nör¬<lb/> gelnde Presse der Jugend die Freude an der großen Gestalt verderbe.</p><lb/> <p xml:id="ID_483" next="#ID_484"> Aus der Zeit der großen Krisis führen wir nur eine Thatsache an, die<lb/> recht deutlich zeigt, wie sich die Verbreitung der Gedanken und der Thatsachen-<lb/> erkenntnis gestaltet, wenn alle Produkte ohne Ausnahme Marktware sind und<lb/> ihre Produktion vom Absatz, dieser aber von, „freien Wettbewerb" abhängt.<lb/> Zweimal begegnete es Döllinger, daß die Allgemeine Zeitung sehr wichtige<lb/> Arbeiten von ihm zurückwies, die dann erst nach seinem Tode herausgegeben<lb/> worden sind, wo sie nicht viel Leser gefunden haben werden, und eine Artikel-</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0140]
in Abrede, und der König, glaubte ihm. Also man kann von einem Manne,
den die großen Angelegenheiten der Menschheit erfüllen, und den es drängt,
jeden Augenblick zur Erweiterung seiner gelehrten Erkenntnisse zu benutzen,
nicht zumuten, daß er sich mit jedem unbedeutenden Menschen in ein nichtiges
Gespräch einlasse. Daß es ihm an Liebe nicht fehlte, beweist seine in vielen
Fällen bewiesene Hilfsbereitschaft, seine Wohlthätigkeit und seine Fürsorge für
die Kinder seines verstorbnen Bruders, von denen er zwei, es waren Tochter,
in sein Hans aufnahm. Er stand damals schon in deu achtziger», aber in
dem Behagen, das ihm die beiden weiblichen Wesen schufen, ging ihm das
Herz noch einmal auf; er fühlte sich beglückt, und die jüngere unterrichtete er
zu Hause und auf Spaziergängen im Französischen und Italienischen. Eine
gewisse Einseitigkeit ist freilich bei enormer Entwicklung der Intelligenz un¬
vermeidlich; was man eine harmonische Persönlichkeit nennt und was die
Griechen Kalotagathie nannten, kann dabei nicht herauskommen, und einiger¬
maßen unheimlich wird gewöhnlichen Menschen ein Geistesmcnsch immer bleiben,
dein der Leib wirklich nur als Organ des Geistes dient, der über das absolut
notwendige hinaus keine körperlichen Bedürfnisse hat, womit eine Menge ge¬
mütliche Beziehungen wegfallen, die die Menschen untereinander verbinden, und
an dem man nicht eine einzige Schwäche aufspüren kann.
Daß er kein bloßer Bücherwurm war, kein lebendiges Konversations¬
lexikon, kein Pedant, das beweisen seine lebhafte Teilnahme an den politischen
und kirchlichen Kämpfen seiner Zeit, sein offnes Auge und sein scharfes Ver¬
ständnis für alle Volksbedürfnisse und für alle menschlichen Verhältnisse, die
Virtuosität seiner Darstellungskunst und seine oft in begeisterter Rede über¬
strömende Liebe zum deutschen Volk und Vaterland. Der General von
der Tann wohnte in derselben Straße mit ihm und setzte einmal eine Petition
um Kanalisation der Straße in Umlauf. Döllinger befürwortete sie warm
und eingehend, und als sie so bereichert an den General zurückgelangte, rief
dieser verwundert: „Ich glaubte, Döllinger sei nur Theologe; jetzt schreibt er
auch eine gelehrte Abhandlung über die Kanalisation!" Und seine Aussprüche
über das Wesen des Deutschtums wie der aus der Rektoratsrede vom 22. De¬
zember 1866, den Friedrich S 431 zitiert, sollten in keinem Lesebuch für höhere
Lehranstalten fehlen. Bismnrck gegenüber war er anfänglich skeptisch; er fürchtete,
daß seine Leidenschaftlichkeit Unheil anrichten könnte. Später zollte er ihm
uneingeschränkte Verehrung und Bewundrung und bedauerte, daß eine nör¬
gelnde Presse der Jugend die Freude an der großen Gestalt verderbe.
Aus der Zeit der großen Krisis führen wir nur eine Thatsache an, die
recht deutlich zeigt, wie sich die Verbreitung der Gedanken und der Thatsachen-
erkenntnis gestaltet, wenn alle Produkte ohne Ausnahme Marktware sind und
ihre Produktion vom Absatz, dieser aber von, „freien Wettbewerb" abhängt.
Zweimal begegnete es Döllinger, daß die Allgemeine Zeitung sehr wichtige
Arbeiten von ihm zurückwies, die dann erst nach seinem Tode herausgegeben
worden sind, wo sie nicht viel Leser gefunden haben werden, und eine Artikel-
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