Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Drittes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Eine neue Glaubenslehre

Gott und denen, Welche er zu seinen Kindern berufen wollte. Er ist auch
nicht eine zweite Person der Gottheit, welche durch das Opfer eines irdischen
Lebens, Wirkens, Leidens und Sterbens die erste Person der Gottheit mit
uns versöhnt hat, Jesus ist auch nicht das zweite göttliche Wesen, welches
die von dem Vater aufrecht erhnltne unbedingte Forderung der Gerechtigkeit
an uns, die Jesu angehören und an seinem Leben teilnehmen Wollen, statt
unsrer erfüllt hat. Sondern Gott war in ihm und versöhnte uns mit sich
selber und führte uns ans der Sündenherrschaft durch die entgegenkommende
Gnade und Sündenvergebung auf den Weg der Gerechtigkeit, in das rechte
(gerechte) Verhältnis zu ihm" oder -- etwas weniger mystisch ausgedrückt --
es bedürfte uicht erst des Werks Christi, damit aus dem "gerechten" Gott des
Alten Testaments der "liebe" Gott des Christentums werden konnte; der
ewige und unveränderliche Gott ist vielmehr von Natur und deshalb von An¬
fang an und im Verhältnis zu allen Menschen der "liebe" Gott, der anch ohne
Christus Sünden vergeben kann und thatsächlich vergiebt (S, 91); Christus ist
also mir deshalb der Erlöser, weil er zuerst das Wesen Gottes richtig erkannte
und die gewonnene Erkenntnis zur Richtschnur, ihre Verkündigung zur Auf¬
gabe seines Lebens machte (S, 69. 91, 59).

In der nachschaffenden Aneignung dieser eben hervorgehobnen Stücke
des Werks Christi liegt um nach Ziegler für den modernen Menschen die
einzige Möglichkeit, zu wirklicher Befriedigung, zum "Glauben" zu gelange",
d. h. zu einem Wesen zu werden, "in dem das änßere und das innere Leben
zu einer in sich selbst beruhenden Harmonie gelangt" is. 21). Wer sich, dem
Vorbilde Christi folgend, zu der Auffassung durchringt, daß der Gott, von dem
er sich unbedingt abhängig weiß, sein liebender Vater ist, der ihn und die
ganze Welt aus "lauter väterlicher göttlicher Güte und Barmherzigkeit" ge¬
schaffen hat, regiert und erhält, muß zu dem beseligenden Bewußtsein gelangen,
daß -- wie Luther es ausdrückt -- ein Christenmensch ein Herr aller Dinge
ist, er muß erkennen: "nicht der Mensch ist zum Werkzeug für die Natur¬
gesetze und Naturerscheinungen bestimmt, sondern umgekehrt: die Natur¬
erscheinungen und Ordnungen sind für den Menschen da, und es liegt in
seiner Bestimmung, daß er fortschreitend tiefer in sie eindringe, um auf diesem
Felde und in ihrer Benutzung an seinen: ihm eigentümlichen und über die Er¬
scheinungswelt hinausgehenden innern Beruf zu arbeiten," er muß zu der Über¬
zeugung gelangen, daß "alle einzelnen Erscheinungen des natürlichen Lebens
kein andres Ziel" haben, "als sein persönliches Leben und das Gemeinschafts¬
leben der Menschen mit seinen von ihm allein empfundnen Zielen" (S, 35).

Diese Überzeugung ist aber angesichts der vielen ihr widersprechenden
Naturbeobachtungen und Lebenserfahrungen nur dadurch zu gewinnen und fest¬
zuhalten, daß man -- wiederum dem Beispiele Jesu folgend -- mit dem Gefühl
der Abhängigkeit von Gott wirklich Ernst macht, daß man sich durch Christus
von dem Wahne heilen läßt, als könne und dürfe man wie der Welt so auch
dem allmächtigen Gotte im Vertrauen auf die eigne Kraft und Leistung, auf


Eine neue Glaubenslehre

Gott und denen, Welche er zu seinen Kindern berufen wollte. Er ist auch
nicht eine zweite Person der Gottheit, welche durch das Opfer eines irdischen
Lebens, Wirkens, Leidens und Sterbens die erste Person der Gottheit mit
uns versöhnt hat, Jesus ist auch nicht das zweite göttliche Wesen, welches
die von dem Vater aufrecht erhnltne unbedingte Forderung der Gerechtigkeit
an uns, die Jesu angehören und an seinem Leben teilnehmen Wollen, statt
unsrer erfüllt hat. Sondern Gott war in ihm und versöhnte uns mit sich
selber und führte uns ans der Sündenherrschaft durch die entgegenkommende
Gnade und Sündenvergebung auf den Weg der Gerechtigkeit, in das rechte
(gerechte) Verhältnis zu ihm" oder — etwas weniger mystisch ausgedrückt —
es bedürfte uicht erst des Werks Christi, damit aus dem „gerechten" Gott des
Alten Testaments der „liebe" Gott des Christentums werden konnte; der
ewige und unveränderliche Gott ist vielmehr von Natur und deshalb von An¬
fang an und im Verhältnis zu allen Menschen der „liebe" Gott, der anch ohne
Christus Sünden vergeben kann und thatsächlich vergiebt (S, 91); Christus ist
also mir deshalb der Erlöser, weil er zuerst das Wesen Gottes richtig erkannte
und die gewonnene Erkenntnis zur Richtschnur, ihre Verkündigung zur Auf¬
gabe seines Lebens machte (S, 69. 91, 59).

In der nachschaffenden Aneignung dieser eben hervorgehobnen Stücke
des Werks Christi liegt um nach Ziegler für den modernen Menschen die
einzige Möglichkeit, zu wirklicher Befriedigung, zum „Glauben" zu gelange»,
d. h. zu einem Wesen zu werden, „in dem das änßere und das innere Leben
zu einer in sich selbst beruhenden Harmonie gelangt" is. 21). Wer sich, dem
Vorbilde Christi folgend, zu der Auffassung durchringt, daß der Gott, von dem
er sich unbedingt abhängig weiß, sein liebender Vater ist, der ihn und die
ganze Welt aus „lauter väterlicher göttlicher Güte und Barmherzigkeit" ge¬
schaffen hat, regiert und erhält, muß zu dem beseligenden Bewußtsein gelangen,
daß — wie Luther es ausdrückt — ein Christenmensch ein Herr aller Dinge
ist, er muß erkennen: „nicht der Mensch ist zum Werkzeug für die Natur¬
gesetze und Naturerscheinungen bestimmt, sondern umgekehrt: die Natur¬
erscheinungen und Ordnungen sind für den Menschen da, und es liegt in
seiner Bestimmung, daß er fortschreitend tiefer in sie eindringe, um auf diesem
Felde und in ihrer Benutzung an seinen: ihm eigentümlichen und über die Er¬
scheinungswelt hinausgehenden innern Beruf zu arbeiten," er muß zu der Über¬
zeugung gelangen, daß „alle einzelnen Erscheinungen des natürlichen Lebens
kein andres Ziel" haben, „als sein persönliches Leben und das Gemeinschafts¬
leben der Menschen mit seinen von ihm allein empfundnen Zielen" (S, 35).

Diese Überzeugung ist aber angesichts der vielen ihr widersprechenden
Naturbeobachtungen und Lebenserfahrungen nur dadurch zu gewinnen und fest¬
zuhalten, daß man — wiederum dem Beispiele Jesu folgend — mit dem Gefühl
der Abhängigkeit von Gott wirklich Ernst macht, daß man sich durch Christus
von dem Wahne heilen läßt, als könne und dürfe man wie der Welt so auch
dem allmächtigen Gotte im Vertrauen auf die eigne Kraft und Leistung, auf


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0566" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/235738"/>
          <fw type="header" place="top"> Eine neue Glaubenslehre</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_2293" prev="#ID_2292"> Gott und denen, Welche er zu seinen Kindern berufen wollte. Er ist auch<lb/>
nicht eine zweite Person der Gottheit, welche durch das Opfer eines irdischen<lb/>
Lebens, Wirkens, Leidens und Sterbens die erste Person der Gottheit mit<lb/>
uns versöhnt hat, Jesus ist auch nicht das zweite göttliche Wesen, welches<lb/>
die von dem Vater aufrecht erhnltne unbedingte Forderung der Gerechtigkeit<lb/>
an uns, die Jesu angehören und an seinem Leben teilnehmen Wollen, statt<lb/>
unsrer erfüllt hat. Sondern Gott war in ihm und versöhnte uns mit sich<lb/>
selber und führte uns ans der Sündenherrschaft durch die entgegenkommende<lb/>
Gnade und Sündenvergebung auf den Weg der Gerechtigkeit, in das rechte<lb/>
(gerechte) Verhältnis zu ihm" oder &#x2014; etwas weniger mystisch ausgedrückt &#x2014;<lb/>
es bedürfte uicht erst des Werks Christi, damit aus dem &#x201E;gerechten" Gott des<lb/>
Alten Testaments der &#x201E;liebe" Gott des Christentums werden konnte; der<lb/>
ewige und unveränderliche Gott ist vielmehr von Natur und deshalb von An¬<lb/>
fang an und im Verhältnis zu allen Menschen der &#x201E;liebe" Gott, der anch ohne<lb/>
Christus Sünden vergeben kann und thatsächlich vergiebt (S, 91); Christus ist<lb/>
also mir deshalb der Erlöser, weil er zuerst das Wesen Gottes richtig erkannte<lb/>
und die gewonnene Erkenntnis zur Richtschnur, ihre Verkündigung zur Auf¬<lb/>
gabe seines Lebens machte (S, 69. 91, 59).</p><lb/>
          <p xml:id="ID_2294"> In der nachschaffenden Aneignung dieser eben hervorgehobnen Stücke<lb/>
des Werks Christi liegt um nach Ziegler für den modernen Menschen die<lb/>
einzige Möglichkeit, zu wirklicher Befriedigung, zum &#x201E;Glauben" zu gelange»,<lb/>
d. h. zu einem Wesen zu werden, &#x201E;in dem das änßere und das innere Leben<lb/>
zu einer in sich selbst beruhenden Harmonie gelangt" is. 21). Wer sich, dem<lb/>
Vorbilde Christi folgend, zu der Auffassung durchringt, daß der Gott, von dem<lb/>
er sich unbedingt abhängig weiß, sein liebender Vater ist, der ihn und die<lb/>
ganze Welt aus &#x201E;lauter väterlicher göttlicher Güte und Barmherzigkeit" ge¬<lb/>
schaffen hat, regiert und erhält, muß zu dem beseligenden Bewußtsein gelangen,<lb/>
daß &#x2014; wie Luther es ausdrückt &#x2014; ein Christenmensch ein Herr aller Dinge<lb/>
ist, er muß erkennen: &#x201E;nicht der Mensch ist zum Werkzeug für die Natur¬<lb/>
gesetze und Naturerscheinungen bestimmt, sondern umgekehrt: die Natur¬<lb/>
erscheinungen und Ordnungen sind für den Menschen da, und es liegt in<lb/>
seiner Bestimmung, daß er fortschreitend tiefer in sie eindringe, um auf diesem<lb/>
Felde und in ihrer Benutzung an seinen: ihm eigentümlichen und über die Er¬<lb/>
scheinungswelt hinausgehenden innern Beruf zu arbeiten," er muß zu der Über¬<lb/>
zeugung gelangen, daß &#x201E;alle einzelnen Erscheinungen des natürlichen Lebens<lb/>
kein andres Ziel" haben, &#x201E;als sein persönliches Leben und das Gemeinschafts¬<lb/>
leben der Menschen mit seinen von ihm allein empfundnen Zielen" (S, 35).</p><lb/>
          <p xml:id="ID_2295" next="#ID_2296"> Diese Überzeugung ist aber angesichts der vielen ihr widersprechenden<lb/>
Naturbeobachtungen und Lebenserfahrungen nur dadurch zu gewinnen und fest¬<lb/>
zuhalten, daß man &#x2014; wiederum dem Beispiele Jesu folgend &#x2014; mit dem Gefühl<lb/>
der Abhängigkeit von Gott wirklich Ernst macht, daß man sich durch Christus<lb/>
von dem Wahne heilen läßt, als könne und dürfe man wie der Welt so auch<lb/>
dem allmächtigen Gotte im Vertrauen auf die eigne Kraft und Leistung, auf</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0566] Eine neue Glaubenslehre Gott und denen, Welche er zu seinen Kindern berufen wollte. Er ist auch nicht eine zweite Person der Gottheit, welche durch das Opfer eines irdischen Lebens, Wirkens, Leidens und Sterbens die erste Person der Gottheit mit uns versöhnt hat, Jesus ist auch nicht das zweite göttliche Wesen, welches die von dem Vater aufrecht erhnltne unbedingte Forderung der Gerechtigkeit an uns, die Jesu angehören und an seinem Leben teilnehmen Wollen, statt unsrer erfüllt hat. Sondern Gott war in ihm und versöhnte uns mit sich selber und führte uns ans der Sündenherrschaft durch die entgegenkommende Gnade und Sündenvergebung auf den Weg der Gerechtigkeit, in das rechte (gerechte) Verhältnis zu ihm" oder — etwas weniger mystisch ausgedrückt — es bedürfte uicht erst des Werks Christi, damit aus dem „gerechten" Gott des Alten Testaments der „liebe" Gott des Christentums werden konnte; der ewige und unveränderliche Gott ist vielmehr von Natur und deshalb von An¬ fang an und im Verhältnis zu allen Menschen der „liebe" Gott, der anch ohne Christus Sünden vergeben kann und thatsächlich vergiebt (S, 91); Christus ist also mir deshalb der Erlöser, weil er zuerst das Wesen Gottes richtig erkannte und die gewonnene Erkenntnis zur Richtschnur, ihre Verkündigung zur Auf¬ gabe seines Lebens machte (S, 69. 91, 59). In der nachschaffenden Aneignung dieser eben hervorgehobnen Stücke des Werks Christi liegt um nach Ziegler für den modernen Menschen die einzige Möglichkeit, zu wirklicher Befriedigung, zum „Glauben" zu gelange», d. h. zu einem Wesen zu werden, „in dem das änßere und das innere Leben zu einer in sich selbst beruhenden Harmonie gelangt" is. 21). Wer sich, dem Vorbilde Christi folgend, zu der Auffassung durchringt, daß der Gott, von dem er sich unbedingt abhängig weiß, sein liebender Vater ist, der ihn und die ganze Welt aus „lauter väterlicher göttlicher Güte und Barmherzigkeit" ge¬ schaffen hat, regiert und erhält, muß zu dem beseligenden Bewußtsein gelangen, daß — wie Luther es ausdrückt — ein Christenmensch ein Herr aller Dinge ist, er muß erkennen: „nicht der Mensch ist zum Werkzeug für die Natur¬ gesetze und Naturerscheinungen bestimmt, sondern umgekehrt: die Natur¬ erscheinungen und Ordnungen sind für den Menschen da, und es liegt in seiner Bestimmung, daß er fortschreitend tiefer in sie eindringe, um auf diesem Felde und in ihrer Benutzung an seinen: ihm eigentümlichen und über die Er¬ scheinungswelt hinausgehenden innern Beruf zu arbeiten," er muß zu der Über¬ zeugung gelangen, daß „alle einzelnen Erscheinungen des natürlichen Lebens kein andres Ziel" haben, „als sein persönliches Leben und das Gemeinschafts¬ leben der Menschen mit seinen von ihm allein empfundnen Zielen" (S, 35). Diese Überzeugung ist aber angesichts der vielen ihr widersprechenden Naturbeobachtungen und Lebenserfahrungen nur dadurch zu gewinnen und fest¬ zuhalten, daß man — wiederum dem Beispiele Jesu folgend — mit dem Gefühl der Abhängigkeit von Gott wirklich Ernst macht, daß man sich durch Christus von dem Wahne heilen läßt, als könne und dürfe man wie der Welt so auch dem allmächtigen Gotte im Vertrauen auf die eigne Kraft und Leistung, auf

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_235171
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_235171/566
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_235171/566>, abgerufen am 22.07.2024.