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Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Drittes Vierteljahr.

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Die englische Lvkalverwaltung

Ihre Selbstverwaltung ist dem Muster der Städteordnung für die Boroughs
nachgebildet, mir daß ihr District Council keine Aldermen hat, und daß das
Passive Wahlrecht mit dem aktiven zusammenfällt, sodaß auch Frauen in den
Gemeinderat gewählt werden und sogar den Vorsitz führen können. Doch be¬
kleiden Fromm in diesem Falle nicht das Amt des Friedensrichters, das mit
der Würde des Chairmans verbunden ist. Praktisch und thatsächlich unter¬
scheiden sich namentlich die größern Urban Districts -- es giebt solche von
über 80000 Einwohnern -- fast in nichts von den Boroughs, nur daß sie
leine eigue Polizei haben, macht einen gewissen Unterschied aus. Auch ist hier
der Clerk mehr Verwaltnngsbeamter als juristischer Ratgeber und ähnelt einiger-
maßer unserm Bürgermeister oder ländlichen Ortsvorsteher, Die Gemeinde¬
rechnung wird vom District Auditor revidiert, der aus eignem Antrieb oder
auf Grund von Einwendungen eines beliebigen Steuerzahlers (alle diese eng¬
lischen Gemeinwesen bestehn nicht ans "Bürgern," sondern aus "Steuerzahlern"
oder "Wühleru") einzelne Posten bemängeln und dem, der diese Ausgabe ver¬
ursacht oder verfügt hat, die Pflicht der Rückzahlung auflegen kann. Hier
wird also die Regicrungsaufsicht noch strenger und einschneidender geübt als
in der Grafschaftsverwaltung.

Zur Grundlage für die Einteilung des Landes in Sanitätsbezirke hat
man die für die Armenpflege aus mehreren Kirchspielen gebildeten Nnions
genommen. Der städtisch angelegte Teil eiuer solchen Union wurde als Urban
District, und was übrig blieb, als Rural District organisiert. Der Unrat
District hat wiederum fast dieselbe Verfassung wie die Stadt, erfreut sich jedoch
des allerweitesten aktiven und passiven Wahlrechts; die Frauen, auch die ver¬
heirateten, sind den Männern völlig gleichgestellt. Auch hier darf der Chair-
man eine Chairwomcm, diese aber nicht Friedcnsrichteriu sein. Zu den
wichtigsten Obliegenheiten des Rural District Council gehört, die öffentlichen
Wegerechte zu schützen, die Commons (Gemeindeländereien) dem öffentlichen
Gebrauch zu erhalten und die Raine an den öffentlichen Straßen dem Publikum
zu sichern jsollte hier unter dem Worte Rain, das bei uns einen Rasenstreifen
zwischen zwei Feldern bezeichnet, nicht Fußsteig zu versteh" sein?j, "sämtlich
Befugnisse, deren Ausübung bei dein englischen Latifundienwesen und dem in
feudale Anschauungen tief verstrickten Jmmobiliarrechte Englands für die länd¬
liche Bevölkerung von großer Bedeutung ist."

Landgemeinden sind, nachdem die alten Dörfer samt ihren Bauern vor
Jahrhunderten untergegangen Ware", erst 1894 wieder durch ein Gesetz, die
Parish ,lud District Councils Bill, geschaffen worden im Anschluß an die
Kirchspiele. Als bei der Umwälzung der wirtschaftlichen und der Bcvölkernngs-
verhältnisse die alte Umgrenzung der Kirchspiele unhaltbar wurde, fingen Kirche
lind Staat gesondert an, zu teilen und zusammenzulegen, sodaß ein unentwirr¬
bares Gemenge von Civil, Ecclesiastical und Poor Law Parishes entstand, zu
denen auch noch einige Highwayparishes kamen -- man nannte eben jeden
für irgend einen beliebigen Zweck abgegrenzten kleinsten Verwaltungsbezirk


Die englische Lvkalverwaltung

Ihre Selbstverwaltung ist dem Muster der Städteordnung für die Boroughs
nachgebildet, mir daß ihr District Council keine Aldermen hat, und daß das
Passive Wahlrecht mit dem aktiven zusammenfällt, sodaß auch Frauen in den
Gemeinderat gewählt werden und sogar den Vorsitz führen können. Doch be¬
kleiden Fromm in diesem Falle nicht das Amt des Friedensrichters, das mit
der Würde des Chairmans verbunden ist. Praktisch und thatsächlich unter¬
scheiden sich namentlich die größern Urban Districts — es giebt solche von
über 80000 Einwohnern — fast in nichts von den Boroughs, nur daß sie
leine eigue Polizei haben, macht einen gewissen Unterschied aus. Auch ist hier
der Clerk mehr Verwaltnngsbeamter als juristischer Ratgeber und ähnelt einiger-
maßer unserm Bürgermeister oder ländlichen Ortsvorsteher, Die Gemeinde¬
rechnung wird vom District Auditor revidiert, der aus eignem Antrieb oder
auf Grund von Einwendungen eines beliebigen Steuerzahlers (alle diese eng¬
lischen Gemeinwesen bestehn nicht ans „Bürgern," sondern aus „Steuerzahlern"
oder „Wühleru") einzelne Posten bemängeln und dem, der diese Ausgabe ver¬
ursacht oder verfügt hat, die Pflicht der Rückzahlung auflegen kann. Hier
wird also die Regicrungsaufsicht noch strenger und einschneidender geübt als
in der Grafschaftsverwaltung.

Zur Grundlage für die Einteilung des Landes in Sanitätsbezirke hat
man die für die Armenpflege aus mehreren Kirchspielen gebildeten Nnions
genommen. Der städtisch angelegte Teil eiuer solchen Union wurde als Urban
District, und was übrig blieb, als Rural District organisiert. Der Unrat
District hat wiederum fast dieselbe Verfassung wie die Stadt, erfreut sich jedoch
des allerweitesten aktiven und passiven Wahlrechts; die Frauen, auch die ver¬
heirateten, sind den Männern völlig gleichgestellt. Auch hier darf der Chair-
man eine Chairwomcm, diese aber nicht Friedcnsrichteriu sein. Zu den
wichtigsten Obliegenheiten des Rural District Council gehört, die öffentlichen
Wegerechte zu schützen, die Commons (Gemeindeländereien) dem öffentlichen
Gebrauch zu erhalten und die Raine an den öffentlichen Straßen dem Publikum
zu sichern jsollte hier unter dem Worte Rain, das bei uns einen Rasenstreifen
zwischen zwei Feldern bezeichnet, nicht Fußsteig zu versteh« sein?j, „sämtlich
Befugnisse, deren Ausübung bei dein englischen Latifundienwesen und dem in
feudale Anschauungen tief verstrickten Jmmobiliarrechte Englands für die länd¬
liche Bevölkerung von großer Bedeutung ist."

Landgemeinden sind, nachdem die alten Dörfer samt ihren Bauern vor
Jahrhunderten untergegangen Ware«, erst 1894 wieder durch ein Gesetz, die
Parish ,lud District Councils Bill, geschaffen worden im Anschluß an die
Kirchspiele. Als bei der Umwälzung der wirtschaftlichen und der Bcvölkernngs-
verhältnisse die alte Umgrenzung der Kirchspiele unhaltbar wurde, fingen Kirche
lind Staat gesondert an, zu teilen und zusammenzulegen, sodaß ein unentwirr¬
bares Gemenge von Civil, Ecclesiastical und Poor Law Parishes entstand, zu
denen auch noch einige Highwayparishes kamen — man nannte eben jeden
für irgend einen beliebigen Zweck abgegrenzten kleinsten Verwaltungsbezirk


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_235171/555>, abgerufen am 22.07.2024.