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Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Drittes Vierteljahr.

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Die englische ^okalverwaltung

kommt also nicht vor, was z, B, in Österreich nicht selten sein soll, daß Über¬
tretungen der Arbeiterschiltzbestimmungen ungeahndet bleiben, daß die Polizei
das Koalitions- und Versammlungsrecht der Arbeiter als nicht vorhanden be¬
handelt, und daß die in ihren Rechten gekränkten Arbeiter bei den Gerichten
keinen oder keinen ausreichenden Schutz finden. Ungesetzlich ist überhaupt seit
der Vertreibung der Stuarts in England niemals mehr regiert und verwaltet
worden. Vor der großen Parlaments- und Verwaltungsreform hatten es die
Squires nicht nötig, Gesetzwidrigkeiten zu begehn, weil sie es waren, die die
Gesetze im eignen Interesse und nach ihrer Bequemlichkeit machten, und nach
vollzogner Reform wagen sie es nicht. Daß Arbeiter in den Grafschafts¬
rat gewählt werden, kommt nur selten vor, und zwar nur in den Industrie-
bezirken des Nordens, wo viele Fabrik- oder Grubenarbeiter auf dem Lande
wohnen.

Eine wirkliche Demokratisierung der landwirtschaftlichen Gebiete würde
eine Grundbesitzreform voraussetzen. Unter dieser Voraussetzung würde sie
aber auch, wie Redlich hervorhebt, möglich sein, weil eben alle Klassen streng
gesetzlich handeln, und weil die Vornehmen bei der bekannten Organisation
des englischen Adels und beim Fehlen eines privilegierten Beamtenstands keine
abgeschlossene Kaste bilden, vielmehr der soziale Aufstieg ganz ungehindert vor
sich geht, wo immer sich die wirtschaftliche" Bedingungen dafür finden. Diese
Bedingungen nun könnte der arbeitenden Landbevölkerung nur der "Freihandel
in Land" verschaffen. Das angeblich germanische Bodenbesitzrecht, das Recht
der naturalwirtschaftlichen Kulturstufe, hat in England den Bauernstand ver¬
nichten helfen, und das von manchen Bvdenbesitzreformern römisch gescholtne
Recht der freien Verfügung über Grund und Boden hat uns in Deutschland
einen noch immer sehr ansehnlichen und zum großen Teil wohlhabenden und
gebildeten Bauernstand erhalten. Um noch einmal auf die politische Partei¬
zugehörigkeit der Grafschaftsgewaltigeu zurückzukommen, so machen der in¬
dustrielle Norden und Wales eine Ausnahme. Beide wählen Liberale ins
Parlament; der Norden, weil dort auch auf dein Lande nicht die landwirt¬
schaftliche, sondern die industrielle Bevölkerung vorherrscht, Wales, weil hier
die nontvnsormistisch gesinnte Bevölkerung in einem konfessionellen Gegensatz
z" der hochkirchlichen Gentry steht.

Der Wirkungskreis der Grafschaftsräte umfaßt die Verwaltungsgeschäfte,
die ehemals von den Friedensrichtern in den Quarter Sessions erledigt
wurden, und die Aufgaben, die der Verwaltung durch die neuen Snnitäts-
uud Sozialgesetze gestellt werden, und deren Zahl sich durch die wachsende
Vervielfältigung der Bedürfnisse unaufhörlich mehrt. Wir nennen mir einige
von den vielen Obliegenheiten der Grafschaftsverwaltung: Kouzcssioniernug
von Vergnügungs-, Tanzlokalen und Rennplätzen, Errichtung und Erhaltung
von Zwangserziehnngsanstalten, Straßen- und Brückenbau, Abgrenzung der
Wahlbezirke, Durchführung der Veterinärgesetze, Schutz der Fische und Vogel,
Nußsanitätspolizei, d. h. Handhabung der Gesetze gegen die Verunreinigung


Grenzbolc" III 1901 69
Die englische ^okalverwaltung

kommt also nicht vor, was z, B, in Österreich nicht selten sein soll, daß Über¬
tretungen der Arbeiterschiltzbestimmungen ungeahndet bleiben, daß die Polizei
das Koalitions- und Versammlungsrecht der Arbeiter als nicht vorhanden be¬
handelt, und daß die in ihren Rechten gekränkten Arbeiter bei den Gerichten
keinen oder keinen ausreichenden Schutz finden. Ungesetzlich ist überhaupt seit
der Vertreibung der Stuarts in England niemals mehr regiert und verwaltet
worden. Vor der großen Parlaments- und Verwaltungsreform hatten es die
Squires nicht nötig, Gesetzwidrigkeiten zu begehn, weil sie es waren, die die
Gesetze im eignen Interesse und nach ihrer Bequemlichkeit machten, und nach
vollzogner Reform wagen sie es nicht. Daß Arbeiter in den Grafschafts¬
rat gewählt werden, kommt nur selten vor, und zwar nur in den Industrie-
bezirken des Nordens, wo viele Fabrik- oder Grubenarbeiter auf dem Lande
wohnen.

Eine wirkliche Demokratisierung der landwirtschaftlichen Gebiete würde
eine Grundbesitzreform voraussetzen. Unter dieser Voraussetzung würde sie
aber auch, wie Redlich hervorhebt, möglich sein, weil eben alle Klassen streng
gesetzlich handeln, und weil die Vornehmen bei der bekannten Organisation
des englischen Adels und beim Fehlen eines privilegierten Beamtenstands keine
abgeschlossene Kaste bilden, vielmehr der soziale Aufstieg ganz ungehindert vor
sich geht, wo immer sich die wirtschaftliche« Bedingungen dafür finden. Diese
Bedingungen nun könnte der arbeitenden Landbevölkerung nur der „Freihandel
in Land" verschaffen. Das angeblich germanische Bodenbesitzrecht, das Recht
der naturalwirtschaftlichen Kulturstufe, hat in England den Bauernstand ver¬
nichten helfen, und das von manchen Bvdenbesitzreformern römisch gescholtne
Recht der freien Verfügung über Grund und Boden hat uns in Deutschland
einen noch immer sehr ansehnlichen und zum großen Teil wohlhabenden und
gebildeten Bauernstand erhalten. Um noch einmal auf die politische Partei¬
zugehörigkeit der Grafschaftsgewaltigeu zurückzukommen, so machen der in¬
dustrielle Norden und Wales eine Ausnahme. Beide wählen Liberale ins
Parlament; der Norden, weil dort auch auf dein Lande nicht die landwirt¬
schaftliche, sondern die industrielle Bevölkerung vorherrscht, Wales, weil hier
die nontvnsormistisch gesinnte Bevölkerung in einem konfessionellen Gegensatz
z» der hochkirchlichen Gentry steht.

Der Wirkungskreis der Grafschaftsräte umfaßt die Verwaltungsgeschäfte,
die ehemals von den Friedensrichtern in den Quarter Sessions erledigt
wurden, und die Aufgaben, die der Verwaltung durch die neuen Snnitäts-
uud Sozialgesetze gestellt werden, und deren Zahl sich durch die wachsende
Vervielfältigung der Bedürfnisse unaufhörlich mehrt. Wir nennen mir einige
von den vielen Obliegenheiten der Grafschaftsverwaltung: Kouzcssioniernug
von Vergnügungs-, Tanzlokalen und Rennplätzen, Errichtung und Erhaltung
von Zwangserziehnngsanstalten, Straßen- und Brückenbau, Abgrenzung der
Wahlbezirke, Durchführung der Veterinärgesetze, Schutz der Fische und Vogel,
Nußsanitätspolizei, d. h. Handhabung der Gesetze gegen die Verunreinigung


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[0553] Die englische ^okalverwaltung kommt also nicht vor, was z, B, in Österreich nicht selten sein soll, daß Über¬ tretungen der Arbeiterschiltzbestimmungen ungeahndet bleiben, daß die Polizei das Koalitions- und Versammlungsrecht der Arbeiter als nicht vorhanden be¬ handelt, und daß die in ihren Rechten gekränkten Arbeiter bei den Gerichten keinen oder keinen ausreichenden Schutz finden. Ungesetzlich ist überhaupt seit der Vertreibung der Stuarts in England niemals mehr regiert und verwaltet worden. Vor der großen Parlaments- und Verwaltungsreform hatten es die Squires nicht nötig, Gesetzwidrigkeiten zu begehn, weil sie es waren, die die Gesetze im eignen Interesse und nach ihrer Bequemlichkeit machten, und nach vollzogner Reform wagen sie es nicht. Daß Arbeiter in den Grafschafts¬ rat gewählt werden, kommt nur selten vor, und zwar nur in den Industrie- bezirken des Nordens, wo viele Fabrik- oder Grubenarbeiter auf dem Lande wohnen. Eine wirkliche Demokratisierung der landwirtschaftlichen Gebiete würde eine Grundbesitzreform voraussetzen. Unter dieser Voraussetzung würde sie aber auch, wie Redlich hervorhebt, möglich sein, weil eben alle Klassen streng gesetzlich handeln, und weil die Vornehmen bei der bekannten Organisation des englischen Adels und beim Fehlen eines privilegierten Beamtenstands keine abgeschlossene Kaste bilden, vielmehr der soziale Aufstieg ganz ungehindert vor sich geht, wo immer sich die wirtschaftliche« Bedingungen dafür finden. Diese Bedingungen nun könnte der arbeitenden Landbevölkerung nur der „Freihandel in Land" verschaffen. Das angeblich germanische Bodenbesitzrecht, das Recht der naturalwirtschaftlichen Kulturstufe, hat in England den Bauernstand ver¬ nichten helfen, und das von manchen Bvdenbesitzreformern römisch gescholtne Recht der freien Verfügung über Grund und Boden hat uns in Deutschland einen noch immer sehr ansehnlichen und zum großen Teil wohlhabenden und gebildeten Bauernstand erhalten. Um noch einmal auf die politische Partei¬ zugehörigkeit der Grafschaftsgewaltigeu zurückzukommen, so machen der in¬ dustrielle Norden und Wales eine Ausnahme. Beide wählen Liberale ins Parlament; der Norden, weil dort auch auf dein Lande nicht die landwirt¬ schaftliche, sondern die industrielle Bevölkerung vorherrscht, Wales, weil hier die nontvnsormistisch gesinnte Bevölkerung in einem konfessionellen Gegensatz z» der hochkirchlichen Gentry steht. Der Wirkungskreis der Grafschaftsräte umfaßt die Verwaltungsgeschäfte, die ehemals von den Friedensrichtern in den Quarter Sessions erledigt wurden, und die Aufgaben, die der Verwaltung durch die neuen Snnitäts- uud Sozialgesetze gestellt werden, und deren Zahl sich durch die wachsende Vervielfältigung der Bedürfnisse unaufhörlich mehrt. Wir nennen mir einige von den vielen Obliegenheiten der Grafschaftsverwaltung: Kouzcssioniernug von Vergnügungs-, Tanzlokalen und Rennplätzen, Errichtung und Erhaltung von Zwangserziehnngsanstalten, Straßen- und Brückenbau, Abgrenzung der Wahlbezirke, Durchführung der Veterinärgesetze, Schutz der Fische und Vogel, Nußsanitätspolizei, d. h. Handhabung der Gesetze gegen die Verunreinigung Grenzbolc» III 1901 69

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_235171/553>, abgerufen am 22.07.2024.