Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Drittes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Die englische Tokalverwaltimg

schaftsrnt den Corvuer (Leicheubeschauer) an, der ehedem von den FreeholderS
der Grafschaft gewählt wurde. Ob das County Council einen Kreisphysikus
(Medical Officer of Health) wählen will, bleibt ihm freigestellt, weil das
Sauitätswesen Sache der Distrikte ist. Wer, schreibt Redlich, die Verhand¬
lungen der County Councils, wie sie ausführlich in den Jahrgängen der Countv
Council Times niedergelegt sind, aufmerksam liegt, oder Comiuittee Reports
einzelner Grafschaften studiert, macht immer wieder von neuem die Wahr¬
nehmung, lvie die Grafschaftsräte die ihnen zustehende" Obliegenheiten sachlich,
kurz, ohne Kompetenzstreitigkciten und büreaukratische Umschweife erfüllen.

Zu dieser Sachlichkeit mag nicht wenig der Umstand beitragen, daß es,
wie der Verfasser ausführlich darlegt, im Grafschaftsrnt weder soziale noch
politische Parteien giebt. Auf dem Lande sind, wie er es ausdruckt, Pitt und
Fox immer einig gewesen; hier herrschten die Gebildeten und Besitzenden in
voller Eintracht durch das Institut der Friedensrichter unumschränkt und ohne
Opposition. Die neue Grnfschaftsorduuug hat um zwar die Klassenherrschaft
in eine Hegemonie verwandelt, da die Besitzenden jetzt als Erwählte des Volks
regieren, aber die Wahl und das Vertrauen der Wähler sind, soweit die Besitz¬
losen in Betracht kommen, bloß Schein. Seit der Vernichtung des Bauern¬
stands giebt es auf dem Lande nur noch einen Gegensatz: den der Landnrbeiter
gegen die Grundherren und ihre kapitalistischen Großpüchtcr; von dieser Gentry
sind die auf dem Lande wohnenden Vertreter der Intelligenz wie Geistliche,
Ärzte, Ingenieure, Fabritdirektoren samt Krämern ein bloßes Anhängsel, sodaß
der Ausfall der politischen Wahlen ausschließlich durch das agrarische Interesse
bestimmt wird; das Land wählt also konservativ oder unionistisch. Die Land¬
arbeiter aber sind trotz aller Versuche der Sozialisten und Radikalen, sie ge¬
werkschaftlich zu organisieren, unwissend und roh geblieben und bei ihrer Ab¬
hängigkeit vom Pächter und Landlord zur Ohnmacht verurteilt. Wer anders
wählt, als sein Brodherr vorschreibt, der wird aus seiner Hütte gejagt und
findet kein Unterkommen mehr, da es "tausende von Landgemeinden giebt, in
denen jeder Zoll des Bodens einem oder zwei Menschen gehört." Die Folge
dieses Zustands ist die in England nicht weniger als in Ostelbien beklagte
Landflucht; was von? Landprvletarint soweit geistig geweckt ist, daß es sein
Elend empfindet, wandert aus oder in die Städte und Jndustriebczirke ab.
Nun suchen ja natürlich auch in England die Grundherren und die Landwirte
die Leute zu halten durch Mittel, von denen noch die Rede sein wird, und
auch die in den Sanitätsgesctzen enthaltne Sozialpolitik trägt dazu bei, den
Arbeitern das Leben angenehmer zu machen. Die Klugheit gebietet also den
herrschenden Klassen, sich dem Fortschritt der Sozialreform nicht zu wider¬
setzen. Solveit dieses dennoch geschieht, geschieht es nach Redlich nur im
Parlament. Ist die Reform einmal Gesetz geworden, so fügt sich die bis¬
herige Opposition, und daß einzelne oder vielleicht auch alle Mitglieder eines
Verwaltungskörpers zu den Gegnern einer arbeiterfreundlichen Maßregel ge¬
hören, hindert nicht die gewissenhafte Durchführung der Reformgesetze. Es


Die englische Tokalverwaltimg

schaftsrnt den Corvuer (Leicheubeschauer) an, der ehedem von den FreeholderS
der Grafschaft gewählt wurde. Ob das County Council einen Kreisphysikus
(Medical Officer of Health) wählen will, bleibt ihm freigestellt, weil das
Sauitätswesen Sache der Distrikte ist. Wer, schreibt Redlich, die Verhand¬
lungen der County Councils, wie sie ausführlich in den Jahrgängen der Countv
Council Times niedergelegt sind, aufmerksam liegt, oder Comiuittee Reports
einzelner Grafschaften studiert, macht immer wieder von neuem die Wahr¬
nehmung, lvie die Grafschaftsräte die ihnen zustehende» Obliegenheiten sachlich,
kurz, ohne Kompetenzstreitigkciten und büreaukratische Umschweife erfüllen.

Zu dieser Sachlichkeit mag nicht wenig der Umstand beitragen, daß es,
wie der Verfasser ausführlich darlegt, im Grafschaftsrnt weder soziale noch
politische Parteien giebt. Auf dem Lande sind, wie er es ausdruckt, Pitt und
Fox immer einig gewesen; hier herrschten die Gebildeten und Besitzenden in
voller Eintracht durch das Institut der Friedensrichter unumschränkt und ohne
Opposition. Die neue Grnfschaftsorduuug hat um zwar die Klassenherrschaft
in eine Hegemonie verwandelt, da die Besitzenden jetzt als Erwählte des Volks
regieren, aber die Wahl und das Vertrauen der Wähler sind, soweit die Besitz¬
losen in Betracht kommen, bloß Schein. Seit der Vernichtung des Bauern¬
stands giebt es auf dem Lande nur noch einen Gegensatz: den der Landnrbeiter
gegen die Grundherren und ihre kapitalistischen Großpüchtcr; von dieser Gentry
sind die auf dem Lande wohnenden Vertreter der Intelligenz wie Geistliche,
Ärzte, Ingenieure, Fabritdirektoren samt Krämern ein bloßes Anhängsel, sodaß
der Ausfall der politischen Wahlen ausschließlich durch das agrarische Interesse
bestimmt wird; das Land wählt also konservativ oder unionistisch. Die Land¬
arbeiter aber sind trotz aller Versuche der Sozialisten und Radikalen, sie ge¬
werkschaftlich zu organisieren, unwissend und roh geblieben und bei ihrer Ab¬
hängigkeit vom Pächter und Landlord zur Ohnmacht verurteilt. Wer anders
wählt, als sein Brodherr vorschreibt, der wird aus seiner Hütte gejagt und
findet kein Unterkommen mehr, da es „tausende von Landgemeinden giebt, in
denen jeder Zoll des Bodens einem oder zwei Menschen gehört." Die Folge
dieses Zustands ist die in England nicht weniger als in Ostelbien beklagte
Landflucht; was von? Landprvletarint soweit geistig geweckt ist, daß es sein
Elend empfindet, wandert aus oder in die Städte und Jndustriebczirke ab.
Nun suchen ja natürlich auch in England die Grundherren und die Landwirte
die Leute zu halten durch Mittel, von denen noch die Rede sein wird, und
auch die in den Sanitätsgesctzen enthaltne Sozialpolitik trägt dazu bei, den
Arbeitern das Leben angenehmer zu machen. Die Klugheit gebietet also den
herrschenden Klassen, sich dem Fortschritt der Sozialreform nicht zu wider¬
setzen. Solveit dieses dennoch geschieht, geschieht es nach Redlich nur im
Parlament. Ist die Reform einmal Gesetz geworden, so fügt sich die bis¬
herige Opposition, und daß einzelne oder vielleicht auch alle Mitglieder eines
Verwaltungskörpers zu den Gegnern einer arbeiterfreundlichen Maßregel ge¬
hören, hindert nicht die gewissenhafte Durchführung der Reformgesetze. Es


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0552" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/235724"/>
          <fw type="header" place="top"> Die englische Tokalverwaltimg</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_2262" prev="#ID_2261"> schaftsrnt den Corvuer (Leicheubeschauer) an, der ehedem von den FreeholderS<lb/>
der Grafschaft gewählt wurde. Ob das County Council einen Kreisphysikus<lb/>
(Medical Officer of Health) wählen will, bleibt ihm freigestellt, weil das<lb/>
Sauitätswesen Sache der Distrikte ist. Wer, schreibt Redlich, die Verhand¬<lb/>
lungen der County Councils, wie sie ausführlich in den Jahrgängen der Countv<lb/>
Council Times niedergelegt sind, aufmerksam liegt, oder Comiuittee Reports<lb/>
einzelner Grafschaften studiert, macht immer wieder von neuem die Wahr¬<lb/>
nehmung, lvie die Grafschaftsräte die ihnen zustehende» Obliegenheiten sachlich,<lb/>
kurz, ohne Kompetenzstreitigkciten und büreaukratische Umschweife erfüllen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_2263" next="#ID_2264"> Zu dieser Sachlichkeit mag nicht wenig der Umstand beitragen, daß es,<lb/>
wie der Verfasser ausführlich darlegt, im Grafschaftsrnt weder soziale noch<lb/>
politische Parteien giebt. Auf dem Lande sind, wie er es ausdruckt, Pitt und<lb/>
Fox immer einig gewesen; hier herrschten die Gebildeten und Besitzenden in<lb/>
voller Eintracht durch das Institut der Friedensrichter unumschränkt und ohne<lb/>
Opposition. Die neue Grnfschaftsorduuug hat um zwar die Klassenherrschaft<lb/>
in eine Hegemonie verwandelt, da die Besitzenden jetzt als Erwählte des Volks<lb/>
regieren, aber die Wahl und das Vertrauen der Wähler sind, soweit die Besitz¬<lb/>
losen in Betracht kommen, bloß Schein. Seit der Vernichtung des Bauern¬<lb/>
stands giebt es auf dem Lande nur noch einen Gegensatz: den der Landnrbeiter<lb/>
gegen die Grundherren und ihre kapitalistischen Großpüchtcr; von dieser Gentry<lb/>
sind die auf dem Lande wohnenden Vertreter der Intelligenz wie Geistliche,<lb/>
Ärzte, Ingenieure, Fabritdirektoren samt Krämern ein bloßes Anhängsel, sodaß<lb/>
der Ausfall der politischen Wahlen ausschließlich durch das agrarische Interesse<lb/>
bestimmt wird; das Land wählt also konservativ oder unionistisch. Die Land¬<lb/>
arbeiter aber sind trotz aller Versuche der Sozialisten und Radikalen, sie ge¬<lb/>
werkschaftlich zu organisieren, unwissend und roh geblieben und bei ihrer Ab¬<lb/>
hängigkeit vom Pächter und Landlord zur Ohnmacht verurteilt. Wer anders<lb/>
wählt, als sein Brodherr vorschreibt, der wird aus seiner Hütte gejagt und<lb/>
findet kein Unterkommen mehr, da es &#x201E;tausende von Landgemeinden giebt, in<lb/>
denen jeder Zoll des Bodens einem oder zwei Menschen gehört." Die Folge<lb/>
dieses Zustands ist die in England nicht weniger als in Ostelbien beklagte<lb/>
Landflucht; was von? Landprvletarint soweit geistig geweckt ist, daß es sein<lb/>
Elend empfindet, wandert aus oder in die Städte und Jndustriebczirke ab.<lb/>
Nun suchen ja natürlich auch in England die Grundherren und die Landwirte<lb/>
die Leute zu halten durch Mittel, von denen noch die Rede sein wird, und<lb/>
auch die in den Sanitätsgesctzen enthaltne Sozialpolitik trägt dazu bei, den<lb/>
Arbeitern das Leben angenehmer zu machen. Die Klugheit gebietet also den<lb/>
herrschenden Klassen, sich dem Fortschritt der Sozialreform nicht zu wider¬<lb/>
setzen. Solveit dieses dennoch geschieht, geschieht es nach Redlich nur im<lb/>
Parlament. Ist die Reform einmal Gesetz geworden, so fügt sich die bis¬<lb/>
herige Opposition, und daß einzelne oder vielleicht auch alle Mitglieder eines<lb/>
Verwaltungskörpers zu den Gegnern einer arbeiterfreundlichen Maßregel ge¬<lb/>
hören, hindert nicht die gewissenhafte Durchführung der Reformgesetze. Es</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0552] Die englische Tokalverwaltimg schaftsrnt den Corvuer (Leicheubeschauer) an, der ehedem von den FreeholderS der Grafschaft gewählt wurde. Ob das County Council einen Kreisphysikus (Medical Officer of Health) wählen will, bleibt ihm freigestellt, weil das Sauitätswesen Sache der Distrikte ist. Wer, schreibt Redlich, die Verhand¬ lungen der County Councils, wie sie ausführlich in den Jahrgängen der Countv Council Times niedergelegt sind, aufmerksam liegt, oder Comiuittee Reports einzelner Grafschaften studiert, macht immer wieder von neuem die Wahr¬ nehmung, lvie die Grafschaftsräte die ihnen zustehende» Obliegenheiten sachlich, kurz, ohne Kompetenzstreitigkciten und büreaukratische Umschweife erfüllen. Zu dieser Sachlichkeit mag nicht wenig der Umstand beitragen, daß es, wie der Verfasser ausführlich darlegt, im Grafschaftsrnt weder soziale noch politische Parteien giebt. Auf dem Lande sind, wie er es ausdruckt, Pitt und Fox immer einig gewesen; hier herrschten die Gebildeten und Besitzenden in voller Eintracht durch das Institut der Friedensrichter unumschränkt und ohne Opposition. Die neue Grnfschaftsorduuug hat um zwar die Klassenherrschaft in eine Hegemonie verwandelt, da die Besitzenden jetzt als Erwählte des Volks regieren, aber die Wahl und das Vertrauen der Wähler sind, soweit die Besitz¬ losen in Betracht kommen, bloß Schein. Seit der Vernichtung des Bauern¬ stands giebt es auf dem Lande nur noch einen Gegensatz: den der Landnrbeiter gegen die Grundherren und ihre kapitalistischen Großpüchtcr; von dieser Gentry sind die auf dem Lande wohnenden Vertreter der Intelligenz wie Geistliche, Ärzte, Ingenieure, Fabritdirektoren samt Krämern ein bloßes Anhängsel, sodaß der Ausfall der politischen Wahlen ausschließlich durch das agrarische Interesse bestimmt wird; das Land wählt also konservativ oder unionistisch. Die Land¬ arbeiter aber sind trotz aller Versuche der Sozialisten und Radikalen, sie ge¬ werkschaftlich zu organisieren, unwissend und roh geblieben und bei ihrer Ab¬ hängigkeit vom Pächter und Landlord zur Ohnmacht verurteilt. Wer anders wählt, als sein Brodherr vorschreibt, der wird aus seiner Hütte gejagt und findet kein Unterkommen mehr, da es „tausende von Landgemeinden giebt, in denen jeder Zoll des Bodens einem oder zwei Menschen gehört." Die Folge dieses Zustands ist die in England nicht weniger als in Ostelbien beklagte Landflucht; was von? Landprvletarint soweit geistig geweckt ist, daß es sein Elend empfindet, wandert aus oder in die Städte und Jndustriebczirke ab. Nun suchen ja natürlich auch in England die Grundherren und die Landwirte die Leute zu halten durch Mittel, von denen noch die Rede sein wird, und auch die in den Sanitätsgesctzen enthaltne Sozialpolitik trägt dazu bei, den Arbeitern das Leben angenehmer zu machen. Die Klugheit gebietet also den herrschenden Klassen, sich dem Fortschritt der Sozialreform nicht zu wider¬ setzen. Solveit dieses dennoch geschieht, geschieht es nach Redlich nur im Parlament. Ist die Reform einmal Gesetz geworden, so fügt sich die bis¬ herige Opposition, und daß einzelne oder vielleicht auch alle Mitglieder eines Verwaltungskörpers zu den Gegnern einer arbeiterfreundlichen Maßregel ge¬ hören, hindert nicht die gewissenhafte Durchführung der Reformgesetze. Es

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_235171
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_235171/552
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_235171/552>, abgerufen am 22.07.2024.