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Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Drittes Vierteljahr.

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Line neue Glaubenslehre

Widerstreben gegen unsre sittliche Einsicht, sondern auch jede Niederlage im
Kampfe gegen andre in uns wirksame Triebe und Anschauungen zur Sünde
stempelt; erkenne aber gern an, daß Zieglers Auffassung der Sünde trotzdem
einen bedeutenden wissenschaftlichen und religiösen Fortschritt darstellt.

Unsre beiden Reformatoren gingen von den, Grundsatze aus, daß dein ein¬
zelnen Menschen das Gefühl der Erlvsimgsbedürftigkeit durch das Sittengesetz
vermittelt werde. Dieses aber betrachteten sie -- in Übereinstimmung mit Paulus
und der platonisch-aristotelischen Philosophie -- als allen Menschen in der
Weise angeboren, daß jeder Einzelne nur sein Gewissen zu befragen brauche,
wenn er in unzweideutiger Weise erfahren wolle, was objektiv gut und böse sei,
Nun hat aber die moderne Psychologie nachgewiesen, daß die Entscheidungen des
Gewissens nur subjektiven Wert haben, weil sie von dein Vorstellungskreise
des einzelnen Individuums abhängig sind, d, h, daß sie zwar jedem Einzelnen
mit absoluter Sicherheit sagen, was er nach seiner ganzen -- durch Anlage,
Erziehung, Milieu und Erfahrung bedingten -- Denkweise für gut oder böse
hält, die Frage dagegen, ob seine moralischen Anschauungen richtig sind, völlig
unbeantwortet lassen. Deshalb können wir nicht nur dadurch Böses thun, daß
wir der Stimme des Gewissens absichtlich widerstreben oder ihr aus Schwäche
entgegenhandeln, sondern anch, indem wir einem durch falsche Anschauungen
verursachte" Urteile unsers Gewissens folgen, und darum hat Ziegler völlig
Recht, wenn er uns die unausgesetzte Bemühung um die Erweiterung, Ver¬
tiefung und Berichtigung unsrer Vorstellungen zur religiösen Pflicht macht,
wenn er das "Widerstreben gegen Gott und seine Wahrheit" oder, wie er an
einer andern Stelle sagt, den "Wahn" und die "Lüge," d, h, die Gleichgiltig-
keit oder unlautre Opposition gegen den Fortschritt der menschlichen Erkenntnis
als Sünde und Haupthindernis der Ausbreitung des Reiches Gottes bezeichnet
(S. "5 ff,).

Von diese" Vornnssetznngen aus wird es verständlich, weshalb Ziegler
-- wie wir oben gesehen haben -- meint, dem einzelnen Menschen werde das
Gefühl der Erlösimgsbedürftigkeit nicht dnrch das Gewissen, sondern durch die
Erkenntnis seiner wirklichen Stellung in der Welt vermittelt; besondre An¬
erkennung aber verdient es, daß er die Erlangung dieser Erkenntnis nicht auf
den philosophischen Trieb nach Wahrheit, sondern ans das praktische Bedürfnis
der Selbsterhaltung zurückführt und damit die Erkenntnis der fundamentalen
Bedeutung des Kampfes ums Dasein auch für die Entwicklung der Religion
in nicht zu unterschätzender Weise erweitert,

"Das ganze Heranwachsen des menschlichen Bewußtseins, sagt er (S. 65 f.),
ist ein stetiges Fortschreiten ans dem Schein, der es stets aufs neue weckt, zu
einem immer mehr sich ausbreitenden oder sich herausarbeitenden Erkennen
des dahinterliegenden Seins, zur Wahrheit über die Welt, in der er sich be¬
findet, und seine eigne Lage in ihr," "In Bezug auf die ganze äußere Welt,
heißt es kurz darauf weiter, ist es zunächst nur die Selbsterhaltung, welche
den Menschen zwingt, von der bloßen Erscheinung, wo sie sich als unhaltbar


Line neue Glaubenslehre

Widerstreben gegen unsre sittliche Einsicht, sondern auch jede Niederlage im
Kampfe gegen andre in uns wirksame Triebe und Anschauungen zur Sünde
stempelt; erkenne aber gern an, daß Zieglers Auffassung der Sünde trotzdem
einen bedeutenden wissenschaftlichen und religiösen Fortschritt darstellt.

Unsre beiden Reformatoren gingen von den, Grundsatze aus, daß dein ein¬
zelnen Menschen das Gefühl der Erlvsimgsbedürftigkeit durch das Sittengesetz
vermittelt werde. Dieses aber betrachteten sie — in Übereinstimmung mit Paulus
und der platonisch-aristotelischen Philosophie — als allen Menschen in der
Weise angeboren, daß jeder Einzelne nur sein Gewissen zu befragen brauche,
wenn er in unzweideutiger Weise erfahren wolle, was objektiv gut und böse sei,
Nun hat aber die moderne Psychologie nachgewiesen, daß die Entscheidungen des
Gewissens nur subjektiven Wert haben, weil sie von dein Vorstellungskreise
des einzelnen Individuums abhängig sind, d, h, daß sie zwar jedem Einzelnen
mit absoluter Sicherheit sagen, was er nach seiner ganzen — durch Anlage,
Erziehung, Milieu und Erfahrung bedingten — Denkweise für gut oder böse
hält, die Frage dagegen, ob seine moralischen Anschauungen richtig sind, völlig
unbeantwortet lassen. Deshalb können wir nicht nur dadurch Böses thun, daß
wir der Stimme des Gewissens absichtlich widerstreben oder ihr aus Schwäche
entgegenhandeln, sondern anch, indem wir einem durch falsche Anschauungen
verursachte» Urteile unsers Gewissens folgen, und darum hat Ziegler völlig
Recht, wenn er uns die unausgesetzte Bemühung um die Erweiterung, Ver¬
tiefung und Berichtigung unsrer Vorstellungen zur religiösen Pflicht macht,
wenn er das „Widerstreben gegen Gott und seine Wahrheit" oder, wie er an
einer andern Stelle sagt, den „Wahn" und die „Lüge," d, h, die Gleichgiltig-
keit oder unlautre Opposition gegen den Fortschritt der menschlichen Erkenntnis
als Sünde und Haupthindernis der Ausbreitung des Reiches Gottes bezeichnet
(S. «5 ff,).

Von diese» Vornnssetznngen aus wird es verständlich, weshalb Ziegler
— wie wir oben gesehen haben — meint, dem einzelnen Menschen werde das
Gefühl der Erlösimgsbedürftigkeit nicht dnrch das Gewissen, sondern durch die
Erkenntnis seiner wirklichen Stellung in der Welt vermittelt; besondre An¬
erkennung aber verdient es, daß er die Erlangung dieser Erkenntnis nicht auf
den philosophischen Trieb nach Wahrheit, sondern ans das praktische Bedürfnis
der Selbsterhaltung zurückführt und damit die Erkenntnis der fundamentalen
Bedeutung des Kampfes ums Dasein auch für die Entwicklung der Religion
in nicht zu unterschätzender Weise erweitert,

„Das ganze Heranwachsen des menschlichen Bewußtseins, sagt er (S. 65 f.),
ist ein stetiges Fortschreiten ans dem Schein, der es stets aufs neue weckt, zu
einem immer mehr sich ausbreitenden oder sich herausarbeitenden Erkennen
des dahinterliegenden Seins, zur Wahrheit über die Welt, in der er sich be¬
findet, und seine eigne Lage in ihr," „In Bezug auf die ganze äußere Welt,
heißt es kurz darauf weiter, ist es zunächst nur die Selbsterhaltung, welche
den Menschen zwingt, von der bloßen Erscheinung, wo sie sich als unhaltbar


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_235171/509>, abgerufen am 22.07.2024.