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Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Drittes Vierteljahr.

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erweist, abzusehen und nach dem hinter ihr liegenden Sein zu fragen und zu
suchen. Der Mensch braucht, um seine menschlichen Lebensbedürfnisse, und
zwar sowohl die nur leiblichen wie die seine ganze innere Natur betreffenden,
eigentümlichen Bedürfnisse zu erfüllen, immer mehr aufs neue und in fort¬
schreitender Weise der Unterscheidung zwischen Erscheinung und Wesen der
Dinge, Nur dadurch tritt seine von der gesamten Natur um ihn her sich
unterscheidende Eigentümlichkeit an den Tag, seine innere Bestimmung duzn,
sich seiner selbst als des allein allein natürlichen überlegnen Ich bewußt zu
werden und sich das Natürliche zum Diener zu macheu." "Wohl bedarf es
dazu, fährt Ziegler fort is, 67), einer großen und sich immer erneuernden
Anstrengung: die Arbeit in der Bekämpfung aller ihm schädlichen Einflüsse und
in der Schaffung der Handgriffe, Werkzeuge und vor allem der dauernden
Ordnungen und Einrichtungen, durch die sich das menschliche Wesen mehr und
mehr zu seiner Befriedigung selbst kennzeichnet und von der gesamten übrigen
Natur abhebt, bildet die Hauptkraft und den Hauptinhalt seiner Vorwärts¬
bewegung," "Mag jedoch, so endet diese bedeutsame Auseinandersetzung, die
hierbei eintretende kämpfende, forschende, bauende, gliedernde Anstrengung der
Menschen noch so groß sein, ihr Erfolg, ja sie selbst hängt doch in letzter Be¬
ziehung nicht vom Menschen ab. Er hat die Verhältnisse nicht in seiner Hand,
und er hat noch weniger sich selbst in seiner Hand. Er erkennt bald die engen
Schranken, in die sein Leben und Wirken eingeschlossen ist, ja mehr, er blickt
bald weiter und sieht, daß sein Mitwirken bei der Ausgestaltung seines Lebens
und Wirkens nach außen lind nach innen im letzten Grunde von der in sich
selbständigen, von ihm gänzlich unabhängigen, über ihn schonungslos hinweg¬
gehenden Fügung der Umstände abhängt."

Mit andern Worten: Infolge des ihr von Gott auferlegten Kampfes ums
Dasei" ist die Menschheit im Laufe der Zeit zu immer richtigern Vorstellungen
vom Wesen der Welt gelangt. Der moderne Mensch -- oder besser: der auf
der Höhe der modernen Bildung stehende Mensch -- weiß, daß die Vorgänge
in der Natur nicht das Werk von Göttern oder Geistern sind, die er durch
Versagung oder Gewährung von Geschenke" und Dienstleistungen erzürne",
versöhnen oder sich dieustbnr machen kann, er hat erkannt, daß Gewitter,
Stürme und Erdbeben von Zeit z" Zeit eintreten müssen und deshalb nicht
als Zeichen des Zorns eines höhern Wesens betrachtet werden dürfen, er hegt
keinen Zweifel darüber, daß der Tod des Menschen im letzten Gründe nicht
durch sein oder seiner Vorfahren sittliches Verhalten, sondern durch die ewig
giltigen Strukturgesetze der organischen Welt bestimmt ist -- kurz, er weiß:
"Es sind von seinem Können und Wünschen ganz unabhängige, dagegen in
sich selbst streng zusammenhängende Vorgänge, es sind Gewalten, Ordnungen
und Gesetze des Geschehens, auf die er nie auch nur den geringsten Einfluß
gewinnt, die in ihrem>usnahmslosen Walten alles um ihn her und an ihm
selbst bestimmen" <S, 67). Darum, so schließen wir in Zieglers Sinne weiter,
sind die religiösen Bedürfnisse des modernen Menschen andre als die der


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erweist, abzusehen und nach dem hinter ihr liegenden Sein zu fragen und zu
suchen. Der Mensch braucht, um seine menschlichen Lebensbedürfnisse, und
zwar sowohl die nur leiblichen wie die seine ganze innere Natur betreffenden,
eigentümlichen Bedürfnisse zu erfüllen, immer mehr aufs neue und in fort¬
schreitender Weise der Unterscheidung zwischen Erscheinung und Wesen der
Dinge, Nur dadurch tritt seine von der gesamten Natur um ihn her sich
unterscheidende Eigentümlichkeit an den Tag, seine innere Bestimmung duzn,
sich seiner selbst als des allein allein natürlichen überlegnen Ich bewußt zu
werden und sich das Natürliche zum Diener zu macheu." „Wohl bedarf es
dazu, fährt Ziegler fort is, 67), einer großen und sich immer erneuernden
Anstrengung: die Arbeit in der Bekämpfung aller ihm schädlichen Einflüsse und
in der Schaffung der Handgriffe, Werkzeuge und vor allem der dauernden
Ordnungen und Einrichtungen, durch die sich das menschliche Wesen mehr und
mehr zu seiner Befriedigung selbst kennzeichnet und von der gesamten übrigen
Natur abhebt, bildet die Hauptkraft und den Hauptinhalt seiner Vorwärts¬
bewegung," „Mag jedoch, so endet diese bedeutsame Auseinandersetzung, die
hierbei eintretende kämpfende, forschende, bauende, gliedernde Anstrengung der
Menschen noch so groß sein, ihr Erfolg, ja sie selbst hängt doch in letzter Be¬
ziehung nicht vom Menschen ab. Er hat die Verhältnisse nicht in seiner Hand,
und er hat noch weniger sich selbst in seiner Hand. Er erkennt bald die engen
Schranken, in die sein Leben und Wirken eingeschlossen ist, ja mehr, er blickt
bald weiter und sieht, daß sein Mitwirken bei der Ausgestaltung seines Lebens
und Wirkens nach außen lind nach innen im letzten Grunde von der in sich
selbständigen, von ihm gänzlich unabhängigen, über ihn schonungslos hinweg¬
gehenden Fügung der Umstände abhängt."

Mit andern Worten: Infolge des ihr von Gott auferlegten Kampfes ums
Dasei» ist die Menschheit im Laufe der Zeit zu immer richtigern Vorstellungen
vom Wesen der Welt gelangt. Der moderne Mensch — oder besser: der auf
der Höhe der modernen Bildung stehende Mensch — weiß, daß die Vorgänge
in der Natur nicht das Werk von Göttern oder Geistern sind, die er durch
Versagung oder Gewährung von Geschenke» und Dienstleistungen erzürne»,
versöhnen oder sich dieustbnr machen kann, er hat erkannt, daß Gewitter,
Stürme und Erdbeben von Zeit z» Zeit eintreten müssen und deshalb nicht
als Zeichen des Zorns eines höhern Wesens betrachtet werden dürfen, er hegt
keinen Zweifel darüber, daß der Tod des Menschen im letzten Gründe nicht
durch sein oder seiner Vorfahren sittliches Verhalten, sondern durch die ewig
giltigen Strukturgesetze der organischen Welt bestimmt ist — kurz, er weiß:
„Es sind von seinem Können und Wünschen ganz unabhängige, dagegen in
sich selbst streng zusammenhängende Vorgänge, es sind Gewalten, Ordnungen
und Gesetze des Geschehens, auf die er nie auch nur den geringsten Einfluß
gewinnt, die in ihrem>usnahmslosen Walten alles um ihn her und an ihm
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_235171/510>, abgerufen am 22.07.2024.