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Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Drittes Vierteljahr.

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Zur Psychologie und Anthropologie

Versichern, daß sie die Liebe Gottes erfahren haben, und daß diese sich ohne
Aufhebung der Naturgesetze zu äußern vermag. Kroell selbst ist nun zwar
durch seine Erfahrungen nicht Pessimist geworden; ihn beglückt das großartige
Schauspiel der Einheit der Kraft in ihren tausendfältigen wunderbaren Wir¬
kungen. Aber wie will er dieses Glück, das er sich in vielleicht vierzigjährigen
Studium errungen hat, in fünf Minuten einem jungen Burschen vermitteln,
der, durch Elend zur Verzweiflung getrieben, seinem Grimm in einem anar¬
chistischen Verbrechen Luft zu machen entschlossen ist? oder einem ungebildeten
Kranken auf seinem Schmerzenslager? Kroclls Ethik ist natürlich evolutio-
nistische Sozialethik, und er irrt sich gleich allen seinen Glaubensgenossen in
betreff ihrer Entstehung. Wenn die Molekularbewegung seiner Hirnneuronen
auf das Schöne, Gute und Wahre gestimmt ist, so hat er das nicht der mecha¬
nischen Entwicklung zu danken, auch nicht ihrem letzten Stadium, der Gesell¬
schaftsbildung, auch nicht dem gesellschaftlichen Zwange, der höchstens Kriminal¬
studenten hervorbringt, sondern den eingebornen Ideen und ihrer Entfaltung
durch Katechismus, Bibel und idealistische Philosophie. Er spricht von der
"langsamen Veredlung" der ursprünglichen, unvermittelter, egoistischen Forde¬
rungen. Aber das Wort Veredlung hat vom Standpunkt des Naturmecha-
nismus aus so wenig einen Sinn wie die Worte schön, gut und wahr. Werden
die Handlungen des Menschen nur als eine besondre Form der allgemeinen
Stoffbewegung aufgefaßt, dann kann bei ihnen immer nur von schnell oder
langsam, von senkrechter oder schiefer Richtung, von geradlinig oder rotierend,
dagegen von gut und böse, edel und unedel so wenig die Rede sein wie beim
elektrischen Strom der Großen Berliner, der je nachdem Menschen befördert
oder verbrennt oder totschlägt oder rädert. Alle solche ethischen Vorstellungen
sind vom Standpunkt des evvlutionistischen Mechanismus ganz ebenso un¬
berechtigte Vorurteile und Einbildungen wie nach Kroell der immaterielle Geist,
die angebornen Ideen und Gott. Natürlich sucht auch er das Ethische als
das Gesunde und das Erhaltende zu erklären. Das ist aber eben, wie wir
oft gezeigt haben, zwar im großen und ganzen, jedoch nicht im einzelnen richtig
und verhilft uns also nicht zu sittlichen Urteilen, wie wir sie zu Entscheidungen
täglich brauchen; kein Mensch kaun heute sagen, ob die Chinesen durch Ab-
schlachtung von Missionaren und andern Europäern der Zerstörung ihres
Volkstums vorgebeugt oder sie beschleunigt haben. Machen wir gar das sitt¬
liche Urteil vom Weltzweck abhängig, so müssen wir bis zum jüngsten Tage
damit warten, und nach der materialistischen Ansicht erfahren wir ihn auch
dann noch nicht, weil ja mit dem Weltuntergange alles aus sein soll. sitt¬
liches Handeln ist nicht möglich ohne eine absolute Norm, die weder den
Gehirnneuronen noch den Forderungen der Gesellschaft, sondern nur dem im
Geiste lebenden sittlichen Gefühl entnommen werden kann. Der Wille soll
nach Kroell eine durch die Gesamtbewegung in den Reflexbogen bewirkte
Selbststeuerung sein, und diese sich mit der Selbsterhnltung decken; wie läßt
sich denn da der Selbstmord erklären?


Zur Psychologie und Anthropologie

Versichern, daß sie die Liebe Gottes erfahren haben, und daß diese sich ohne
Aufhebung der Naturgesetze zu äußern vermag. Kroell selbst ist nun zwar
durch seine Erfahrungen nicht Pessimist geworden; ihn beglückt das großartige
Schauspiel der Einheit der Kraft in ihren tausendfältigen wunderbaren Wir¬
kungen. Aber wie will er dieses Glück, das er sich in vielleicht vierzigjährigen
Studium errungen hat, in fünf Minuten einem jungen Burschen vermitteln,
der, durch Elend zur Verzweiflung getrieben, seinem Grimm in einem anar¬
chistischen Verbrechen Luft zu machen entschlossen ist? oder einem ungebildeten
Kranken auf seinem Schmerzenslager? Kroclls Ethik ist natürlich evolutio-
nistische Sozialethik, und er irrt sich gleich allen seinen Glaubensgenossen in
betreff ihrer Entstehung. Wenn die Molekularbewegung seiner Hirnneuronen
auf das Schöne, Gute und Wahre gestimmt ist, so hat er das nicht der mecha¬
nischen Entwicklung zu danken, auch nicht ihrem letzten Stadium, der Gesell¬
schaftsbildung, auch nicht dem gesellschaftlichen Zwange, der höchstens Kriminal¬
studenten hervorbringt, sondern den eingebornen Ideen und ihrer Entfaltung
durch Katechismus, Bibel und idealistische Philosophie. Er spricht von der
„langsamen Veredlung" der ursprünglichen, unvermittelter, egoistischen Forde¬
rungen. Aber das Wort Veredlung hat vom Standpunkt des Naturmecha-
nismus aus so wenig einen Sinn wie die Worte schön, gut und wahr. Werden
die Handlungen des Menschen nur als eine besondre Form der allgemeinen
Stoffbewegung aufgefaßt, dann kann bei ihnen immer nur von schnell oder
langsam, von senkrechter oder schiefer Richtung, von geradlinig oder rotierend,
dagegen von gut und böse, edel und unedel so wenig die Rede sein wie beim
elektrischen Strom der Großen Berliner, der je nachdem Menschen befördert
oder verbrennt oder totschlägt oder rädert. Alle solche ethischen Vorstellungen
sind vom Standpunkt des evvlutionistischen Mechanismus ganz ebenso un¬
berechtigte Vorurteile und Einbildungen wie nach Kroell der immaterielle Geist,
die angebornen Ideen und Gott. Natürlich sucht auch er das Ethische als
das Gesunde und das Erhaltende zu erklären. Das ist aber eben, wie wir
oft gezeigt haben, zwar im großen und ganzen, jedoch nicht im einzelnen richtig
und verhilft uns also nicht zu sittlichen Urteilen, wie wir sie zu Entscheidungen
täglich brauchen; kein Mensch kaun heute sagen, ob die Chinesen durch Ab-
schlachtung von Missionaren und andern Europäern der Zerstörung ihres
Volkstums vorgebeugt oder sie beschleunigt haben. Machen wir gar das sitt¬
liche Urteil vom Weltzweck abhängig, so müssen wir bis zum jüngsten Tage
damit warten, und nach der materialistischen Ansicht erfahren wir ihn auch
dann noch nicht, weil ja mit dem Weltuntergange alles aus sein soll. sitt¬
liches Handeln ist nicht möglich ohne eine absolute Norm, die weder den
Gehirnneuronen noch den Forderungen der Gesellschaft, sondern nur dem im
Geiste lebenden sittlichen Gefühl entnommen werden kann. Der Wille soll
nach Kroell eine durch die Gesamtbewegung in den Reflexbogen bewirkte
Selbststeuerung sein, und diese sich mit der Selbsterhnltung decken; wie läßt
sich denn da der Selbstmord erklären?


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[0368] Zur Psychologie und Anthropologie Versichern, daß sie die Liebe Gottes erfahren haben, und daß diese sich ohne Aufhebung der Naturgesetze zu äußern vermag. Kroell selbst ist nun zwar durch seine Erfahrungen nicht Pessimist geworden; ihn beglückt das großartige Schauspiel der Einheit der Kraft in ihren tausendfältigen wunderbaren Wir¬ kungen. Aber wie will er dieses Glück, das er sich in vielleicht vierzigjährigen Studium errungen hat, in fünf Minuten einem jungen Burschen vermitteln, der, durch Elend zur Verzweiflung getrieben, seinem Grimm in einem anar¬ chistischen Verbrechen Luft zu machen entschlossen ist? oder einem ungebildeten Kranken auf seinem Schmerzenslager? Kroclls Ethik ist natürlich evolutio- nistische Sozialethik, und er irrt sich gleich allen seinen Glaubensgenossen in betreff ihrer Entstehung. Wenn die Molekularbewegung seiner Hirnneuronen auf das Schöne, Gute und Wahre gestimmt ist, so hat er das nicht der mecha¬ nischen Entwicklung zu danken, auch nicht ihrem letzten Stadium, der Gesell¬ schaftsbildung, auch nicht dem gesellschaftlichen Zwange, der höchstens Kriminal¬ studenten hervorbringt, sondern den eingebornen Ideen und ihrer Entfaltung durch Katechismus, Bibel und idealistische Philosophie. Er spricht von der „langsamen Veredlung" der ursprünglichen, unvermittelter, egoistischen Forde¬ rungen. Aber das Wort Veredlung hat vom Standpunkt des Naturmecha- nismus aus so wenig einen Sinn wie die Worte schön, gut und wahr. Werden die Handlungen des Menschen nur als eine besondre Form der allgemeinen Stoffbewegung aufgefaßt, dann kann bei ihnen immer nur von schnell oder langsam, von senkrechter oder schiefer Richtung, von geradlinig oder rotierend, dagegen von gut und böse, edel und unedel so wenig die Rede sein wie beim elektrischen Strom der Großen Berliner, der je nachdem Menschen befördert oder verbrennt oder totschlägt oder rädert. Alle solche ethischen Vorstellungen sind vom Standpunkt des evvlutionistischen Mechanismus ganz ebenso un¬ berechtigte Vorurteile und Einbildungen wie nach Kroell der immaterielle Geist, die angebornen Ideen und Gott. Natürlich sucht auch er das Ethische als das Gesunde und das Erhaltende zu erklären. Das ist aber eben, wie wir oft gezeigt haben, zwar im großen und ganzen, jedoch nicht im einzelnen richtig und verhilft uns also nicht zu sittlichen Urteilen, wie wir sie zu Entscheidungen täglich brauchen; kein Mensch kaun heute sagen, ob die Chinesen durch Ab- schlachtung von Missionaren und andern Europäern der Zerstörung ihres Volkstums vorgebeugt oder sie beschleunigt haben. Machen wir gar das sitt¬ liche Urteil vom Weltzweck abhängig, so müssen wir bis zum jüngsten Tage damit warten, und nach der materialistischen Ansicht erfahren wir ihn auch dann noch nicht, weil ja mit dem Weltuntergange alles aus sein soll. sitt¬ liches Handeln ist nicht möglich ohne eine absolute Norm, die weder den Gehirnneuronen noch den Forderungen der Gesellschaft, sondern nur dem im Geiste lebenden sittlichen Gefühl entnommen werden kann. Der Wille soll nach Kroell eine durch die Gesamtbewegung in den Reflexbogen bewirkte Selbststeuerung sein, und diese sich mit der Selbsterhnltung decken; wie läßt sich denn da der Selbstmord erklären?

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_235171/368>, abgerufen am 23.07.2024.