Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Drittes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Zur Psychologie und Anthropologie

Ein sehr geistreiches Buch ist das von Hab erkalt, das eine geschlossene
Weltanschauung darbietet, die man als Ganzes neu nennen darf, obwohl die
einzelnen Bestandteile alle schon vorhanden waren. Er geht ebenfalls von der
Einheit der Kraft aus. Ihre bisherige Entwicklung ist in der Weise verlaufen,
daß sich der Organismus verfeinert und vervollkommnet und das Bewußtsein
gesteigert hat. Diese Art der Entwicklung hat mit dem Menschen ihren Ab¬
schluß erreicht. Von da ab schreitet sie auf dem Wege der Vervollkommnung
der menschlichen Technik fort. Die Technik ist aber nicht etwas Willkürliches,
Zufälliges, von der Entwicklung des Alls Losgetrenntes, sondern eine wirk¬
liche Fortsetzung der natürlichen Entwicklung. Denn die Werkzeuge sind Er¬
weiterungen, Verlängerungen, Verstärkungen der Organe und diesen nach¬
gebildet. In den einfachsten Werkzeugen: Hammer, Hacke, Schaufel, Rechen,
Zange kehrt die Hand wieder, als geballte Faust, oder hohl zum Schöpfen,
oder mit zum Greifen und Packen gekrümmten Fingern, allein oder in Ver¬
bindung mit dem Arme. Dasselbe gilt dann von den feinern Werkzeugen.
Der Phonograph z. B. ist dem Gehirn nachgebildet, das die empfangner Ein¬
drücke aufspeichert und sie seinerzeit wiedergiebt. Dasselbe Gesetz, daß der
Mensch unbewußt seine eigne Organisation nachbildet, oft lange vorher, ehe
er sie kennt, zeigt sich beim Bauen und in der künstlerischen Produktion.
Lange vor Entdeckung des goldnen Schnitts haben ihn die Künstler angewandt,
und das organische Vorbild der Hänge- und Sprengewerke ist erst vor kurzem
in der spongivsen Knochenmasse entdeckt worden. Es ist also dieselbe einheit¬
liche Kraft, die die Organismen aufgebaut und im Entwicklungsprozeß bis zum
Menschen vervollkommnet hat, und die von da ab den Fortschritt der Technik
leitet. Für die Beantwortung der Frage, wie in Zukunft die Entwicklung
weiter gehn werde, giebt folgende Thatsache einen Fingerzeig. Die neuere
und neuste Technik hat Apparate geschaffen, denen das organische Gegenstück
zu fehlen scheint. Das Teleskop verstärkt mir die Sehkraft unsers Auges,
fügt nur an unsre natürliche Linse noch eine künstliche an; das Spektroskop
dagegen verrät uns selbst auf Entfernungen von Millionen Meilen die che¬
mischen Bestandteile der Körper, die wir sonst mit keinem unsrer Sinne wahr¬
nehmen. Und dennoch giebt es auch hierfür organische Gegenstücke: die Sen¬
sibel" oder Somnambulen unterscheiden die chemischen Bestandteile der Körper
mit dem Gefühl und sehen Dinge, die den übrigen Menschen der Röntgen-
apparat vermittelt. Das Hellsehen ist eine Thatsache, die nicht geleugnet
werden kann; es ist ein Wahrnehmen von Gegenstünden und Vorgängen, die
sür den heutigen Durchschnittsmenschen unter der Schwelle des Bewußtseins
bleiben.

Dasselbe gilt von der Telepathie und den Fernwirkungen, die an sich
ebensowenig geleugnet werden können, wieviel Schwindel und Halluzination
sich auch an die sogenannten okkulten Vorgänge und Produktionen heften mag.
Beide können vom Standpunkt des Monismus aus leicht erklärt werden. Da
alle Wesen nur Teile des Alleinen sind und miteinander in innigster Ver-


Grcnzbote" ,!U 1W1 4ö
Zur Psychologie und Anthropologie

Ein sehr geistreiches Buch ist das von Hab erkalt, das eine geschlossene
Weltanschauung darbietet, die man als Ganzes neu nennen darf, obwohl die
einzelnen Bestandteile alle schon vorhanden waren. Er geht ebenfalls von der
Einheit der Kraft aus. Ihre bisherige Entwicklung ist in der Weise verlaufen,
daß sich der Organismus verfeinert und vervollkommnet und das Bewußtsein
gesteigert hat. Diese Art der Entwicklung hat mit dem Menschen ihren Ab¬
schluß erreicht. Von da ab schreitet sie auf dem Wege der Vervollkommnung
der menschlichen Technik fort. Die Technik ist aber nicht etwas Willkürliches,
Zufälliges, von der Entwicklung des Alls Losgetrenntes, sondern eine wirk¬
liche Fortsetzung der natürlichen Entwicklung. Denn die Werkzeuge sind Er¬
weiterungen, Verlängerungen, Verstärkungen der Organe und diesen nach¬
gebildet. In den einfachsten Werkzeugen: Hammer, Hacke, Schaufel, Rechen,
Zange kehrt die Hand wieder, als geballte Faust, oder hohl zum Schöpfen,
oder mit zum Greifen und Packen gekrümmten Fingern, allein oder in Ver¬
bindung mit dem Arme. Dasselbe gilt dann von den feinern Werkzeugen.
Der Phonograph z. B. ist dem Gehirn nachgebildet, das die empfangner Ein¬
drücke aufspeichert und sie seinerzeit wiedergiebt. Dasselbe Gesetz, daß der
Mensch unbewußt seine eigne Organisation nachbildet, oft lange vorher, ehe
er sie kennt, zeigt sich beim Bauen und in der künstlerischen Produktion.
Lange vor Entdeckung des goldnen Schnitts haben ihn die Künstler angewandt,
und das organische Vorbild der Hänge- und Sprengewerke ist erst vor kurzem
in der spongivsen Knochenmasse entdeckt worden. Es ist also dieselbe einheit¬
liche Kraft, die die Organismen aufgebaut und im Entwicklungsprozeß bis zum
Menschen vervollkommnet hat, und die von da ab den Fortschritt der Technik
leitet. Für die Beantwortung der Frage, wie in Zukunft die Entwicklung
weiter gehn werde, giebt folgende Thatsache einen Fingerzeig. Die neuere
und neuste Technik hat Apparate geschaffen, denen das organische Gegenstück
zu fehlen scheint. Das Teleskop verstärkt mir die Sehkraft unsers Auges,
fügt nur an unsre natürliche Linse noch eine künstliche an; das Spektroskop
dagegen verrät uns selbst auf Entfernungen von Millionen Meilen die che¬
mischen Bestandteile der Körper, die wir sonst mit keinem unsrer Sinne wahr¬
nehmen. Und dennoch giebt es auch hierfür organische Gegenstücke: die Sen¬
sibel» oder Somnambulen unterscheiden die chemischen Bestandteile der Körper
mit dem Gefühl und sehen Dinge, die den übrigen Menschen der Röntgen-
apparat vermittelt. Das Hellsehen ist eine Thatsache, die nicht geleugnet
werden kann; es ist ein Wahrnehmen von Gegenstünden und Vorgängen, die
sür den heutigen Durchschnittsmenschen unter der Schwelle des Bewußtseins
bleiben.

Dasselbe gilt von der Telepathie und den Fernwirkungen, die an sich
ebensowenig geleugnet werden können, wieviel Schwindel und Halluzination
sich auch an die sogenannten okkulten Vorgänge und Produktionen heften mag.
Beide können vom Standpunkt des Monismus aus leicht erklärt werden. Da
alle Wesen nur Teile des Alleinen sind und miteinander in innigster Ver-


Grcnzbote» ,!U 1W1 4ö
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0369" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/235541"/>
          <fw type="header" place="top"> Zur Psychologie und Anthropologie</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1678"> Ein sehr geistreiches Buch ist das von Hab erkalt, das eine geschlossene<lb/>
Weltanschauung darbietet, die man als Ganzes neu nennen darf, obwohl die<lb/>
einzelnen Bestandteile alle schon vorhanden waren. Er geht ebenfalls von der<lb/>
Einheit der Kraft aus. Ihre bisherige Entwicklung ist in der Weise verlaufen,<lb/>
daß sich der Organismus verfeinert und vervollkommnet und das Bewußtsein<lb/>
gesteigert hat. Diese Art der Entwicklung hat mit dem Menschen ihren Ab¬<lb/>
schluß erreicht. Von da ab schreitet sie auf dem Wege der Vervollkommnung<lb/>
der menschlichen Technik fort. Die Technik ist aber nicht etwas Willkürliches,<lb/>
Zufälliges, von der Entwicklung des Alls Losgetrenntes, sondern eine wirk¬<lb/>
liche Fortsetzung der natürlichen Entwicklung. Denn die Werkzeuge sind Er¬<lb/>
weiterungen, Verlängerungen, Verstärkungen der Organe und diesen nach¬<lb/>
gebildet. In den einfachsten Werkzeugen: Hammer, Hacke, Schaufel, Rechen,<lb/>
Zange kehrt die Hand wieder, als geballte Faust, oder hohl zum Schöpfen,<lb/>
oder mit zum Greifen und Packen gekrümmten Fingern, allein oder in Ver¬<lb/>
bindung mit dem Arme. Dasselbe gilt dann von den feinern Werkzeugen.<lb/>
Der Phonograph z. B. ist dem Gehirn nachgebildet, das die empfangner Ein¬<lb/>
drücke aufspeichert und sie seinerzeit wiedergiebt. Dasselbe Gesetz, daß der<lb/>
Mensch unbewußt seine eigne Organisation nachbildet, oft lange vorher, ehe<lb/>
er sie kennt, zeigt sich beim Bauen und in der künstlerischen Produktion.<lb/>
Lange vor Entdeckung des goldnen Schnitts haben ihn die Künstler angewandt,<lb/>
und das organische Vorbild der Hänge- und Sprengewerke ist erst vor kurzem<lb/>
in der spongivsen Knochenmasse entdeckt worden. Es ist also dieselbe einheit¬<lb/>
liche Kraft, die die Organismen aufgebaut und im Entwicklungsprozeß bis zum<lb/>
Menschen vervollkommnet hat, und die von da ab den Fortschritt der Technik<lb/>
leitet. Für die Beantwortung der Frage, wie in Zukunft die Entwicklung<lb/>
weiter gehn werde, giebt folgende Thatsache einen Fingerzeig. Die neuere<lb/>
und neuste Technik hat Apparate geschaffen, denen das organische Gegenstück<lb/>
zu fehlen scheint. Das Teleskop verstärkt mir die Sehkraft unsers Auges,<lb/>
fügt nur an unsre natürliche Linse noch eine künstliche an; das Spektroskop<lb/>
dagegen verrät uns selbst auf Entfernungen von Millionen Meilen die che¬<lb/>
mischen Bestandteile der Körper, die wir sonst mit keinem unsrer Sinne wahr¬<lb/>
nehmen. Und dennoch giebt es auch hierfür organische Gegenstücke: die Sen¬<lb/>
sibel» oder Somnambulen unterscheiden die chemischen Bestandteile der Körper<lb/>
mit dem Gefühl und sehen Dinge, die den übrigen Menschen der Röntgen-<lb/>
apparat vermittelt. Das Hellsehen ist eine Thatsache, die nicht geleugnet<lb/>
werden kann; es ist ein Wahrnehmen von Gegenstünden und Vorgängen, die<lb/>
sür den heutigen Durchschnittsmenschen unter der Schwelle des Bewußtseins<lb/>
bleiben.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1679" next="#ID_1680"> Dasselbe gilt von der Telepathie und den Fernwirkungen, die an sich<lb/>
ebensowenig geleugnet werden können, wieviel Schwindel und Halluzination<lb/>
sich auch an die sogenannten okkulten Vorgänge und Produktionen heften mag.<lb/>
Beide können vom Standpunkt des Monismus aus leicht erklärt werden. Da<lb/>
alle Wesen nur Teile des Alleinen sind und miteinander in innigster Ver-</p><lb/>
          <fw type="sig" place="bottom"> Grcnzbote» ,!U 1W1 4ö</fw><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0369] Zur Psychologie und Anthropologie Ein sehr geistreiches Buch ist das von Hab erkalt, das eine geschlossene Weltanschauung darbietet, die man als Ganzes neu nennen darf, obwohl die einzelnen Bestandteile alle schon vorhanden waren. Er geht ebenfalls von der Einheit der Kraft aus. Ihre bisherige Entwicklung ist in der Weise verlaufen, daß sich der Organismus verfeinert und vervollkommnet und das Bewußtsein gesteigert hat. Diese Art der Entwicklung hat mit dem Menschen ihren Ab¬ schluß erreicht. Von da ab schreitet sie auf dem Wege der Vervollkommnung der menschlichen Technik fort. Die Technik ist aber nicht etwas Willkürliches, Zufälliges, von der Entwicklung des Alls Losgetrenntes, sondern eine wirk¬ liche Fortsetzung der natürlichen Entwicklung. Denn die Werkzeuge sind Er¬ weiterungen, Verlängerungen, Verstärkungen der Organe und diesen nach¬ gebildet. In den einfachsten Werkzeugen: Hammer, Hacke, Schaufel, Rechen, Zange kehrt die Hand wieder, als geballte Faust, oder hohl zum Schöpfen, oder mit zum Greifen und Packen gekrümmten Fingern, allein oder in Ver¬ bindung mit dem Arme. Dasselbe gilt dann von den feinern Werkzeugen. Der Phonograph z. B. ist dem Gehirn nachgebildet, das die empfangner Ein¬ drücke aufspeichert und sie seinerzeit wiedergiebt. Dasselbe Gesetz, daß der Mensch unbewußt seine eigne Organisation nachbildet, oft lange vorher, ehe er sie kennt, zeigt sich beim Bauen und in der künstlerischen Produktion. Lange vor Entdeckung des goldnen Schnitts haben ihn die Künstler angewandt, und das organische Vorbild der Hänge- und Sprengewerke ist erst vor kurzem in der spongivsen Knochenmasse entdeckt worden. Es ist also dieselbe einheit¬ liche Kraft, die die Organismen aufgebaut und im Entwicklungsprozeß bis zum Menschen vervollkommnet hat, und die von da ab den Fortschritt der Technik leitet. Für die Beantwortung der Frage, wie in Zukunft die Entwicklung weiter gehn werde, giebt folgende Thatsache einen Fingerzeig. Die neuere und neuste Technik hat Apparate geschaffen, denen das organische Gegenstück zu fehlen scheint. Das Teleskop verstärkt mir die Sehkraft unsers Auges, fügt nur an unsre natürliche Linse noch eine künstliche an; das Spektroskop dagegen verrät uns selbst auf Entfernungen von Millionen Meilen die che¬ mischen Bestandteile der Körper, die wir sonst mit keinem unsrer Sinne wahr¬ nehmen. Und dennoch giebt es auch hierfür organische Gegenstücke: die Sen¬ sibel» oder Somnambulen unterscheiden die chemischen Bestandteile der Körper mit dem Gefühl und sehen Dinge, die den übrigen Menschen der Röntgen- apparat vermittelt. Das Hellsehen ist eine Thatsache, die nicht geleugnet werden kann; es ist ein Wahrnehmen von Gegenstünden und Vorgängen, die sür den heutigen Durchschnittsmenschen unter der Schwelle des Bewußtseins bleiben. Dasselbe gilt von der Telepathie und den Fernwirkungen, die an sich ebensowenig geleugnet werden können, wieviel Schwindel und Halluzination sich auch an die sogenannten okkulten Vorgänge und Produktionen heften mag. Beide können vom Standpunkt des Monismus aus leicht erklärt werden. Da alle Wesen nur Teile des Alleinen sind und miteinander in innigster Ver- Grcnzbote» ,!U 1W1 4ö

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_235171
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_235171/369
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_235171/369>, abgerufen am 22.07.2024.