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Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Drittes Vierteljahr.

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Zur Psychologie und Anthropologie

bart. Es ist aber nicht gleichgiltig, welches von beiden, den Geist oder die
Materie, man als das der Zeit nach erste auffaßt. Dem Materialismus
(eigentlich nur der materialistischen Abart des psychischen Parallelismus) hält
Hartmann a. a, O, Seite 432 entgegen: "Wenn der ganze Weltprozeß in
Natur und Geschichte sich genau ebenso hätte abspielen müssen durch den
bloßen Automatismus der Organismen ohne alle psychischen Begleiterschei¬
nungen, wenn alle dieselben Werke der Kunst und Wissenschaft auch ohne
Seelenleben hätten geschaffen werden müssen fwas freilich Kroell nicht be-
hauptetj, welchen Sinn hat dann die Existenz psychischer Parallelerscheiunngen
ans dem Gesichtspunkt der mechanistischen Weltanschauung?" Wie anders,
wenn wir einen mit Intelligenz und Willen ausgestatteten Geist (bei Kroell
ist der Wille nur ein Produkt von Hemmuugsvorrichtungen in gewissen Neu-
ronen) als das erste annehmen, der sich den Naturmcchanismus geschaffen hat
als ein Mittel, in den Jndividualgeistern, in die er sich spaltet, thätig zu sein!
Einmal entschlüpft dem Verfasser unwillkürlich die richtige Darstellung: Unsre
Sinne "liefern immer nur Wahrnehmungen, die für ein Wesen, das nicht mit
solchen Apparaten ausgestattet ist, gar nicht vorhanden sind." Statt Wesen
braucht man nur Seele oder Geist zu setzen. Nach Kroells gewöhnlicher Auf¬
fassung ist das Wahrnehmende nicht ein besondres Wesen, sondern einer der
Apparate, die Großhirnrinde.

Es ist leicht zu erkennen, was diesen vortrefflichen Forscher in die mate¬
rialistische Richtung hineingedrängt hat. Einmal der Gegensatz zu der für den
Mann der modernen wissenschaftlichen Erkenntnis unannehmbaren Kirchenlehre
und zu der Art und Weise, wie die Orthodoxie die Wissenschaft zu behandeln
pflegt. Das ist eben das alte Elend, daß die unberechtigten Eingriffe jeder
der beiden Parteien in das Gebiet der andern die Angegriffnen verbissen und
einseitig bis zum Fanatismus macheu. Die Wissenschaft kann nie entsittlichend
wirken, ruft Kroell den Wächtern des Glaubens zu. Gewiß uicht! Das Be¬
treiben der Wissenschaften, und das meint er doch wohl hier mit dem Worte
Wissenschaft, wirkt schon als anstrengende Arbeit notwendig versittlichend.
Aber verkündigt dem großen Haufen der Rohen, der Schwachen, der Ein¬
fältigen, der Erbitterten, der Verzweifelnden als unwidcrlcgliches Ergebnis der
wissenschaftlichen Forschung: Es giebt keinen liebenden Vater im Himmel und
auch keinen gerechten Richter, so wird das eben die Wirkungen üben, die jeder¬
mann kennt, und die jedenfalls weder erfreulich noch unbedenklich sind, mag
man sie versittlichend oder entsittlichend oder sonstwie nennen. "Wer, wie der
Arzt, heißt es Seite 232, täglich seine Beobachtungen aus dem vollen Strom
des Lebens schöpft, der sieht, daß keine Thräne und kein Flehen, kein Hände¬
ringen und kein Aufschrei aus Verzweiflung den gesetzmäßigen Gang der Dinge
aufhält, daß also kein allgütiger Wille, sondern das unerbittliche Gesetz der
allgemeinen Bewegungsumformuugen überall waltet." Es sind also zweitens
Pessimistische Lebenserfahrungen für seine Richtung bestimmend gewesen. Aber
diesen Erfahrungen stehn millionenfache Erfahrungen andrer gegenüber, die


Zur Psychologie und Anthropologie

bart. Es ist aber nicht gleichgiltig, welches von beiden, den Geist oder die
Materie, man als das der Zeit nach erste auffaßt. Dem Materialismus
(eigentlich nur der materialistischen Abart des psychischen Parallelismus) hält
Hartmann a. a, O, Seite 432 entgegen: „Wenn der ganze Weltprozeß in
Natur und Geschichte sich genau ebenso hätte abspielen müssen durch den
bloßen Automatismus der Organismen ohne alle psychischen Begleiterschei¬
nungen, wenn alle dieselben Werke der Kunst und Wissenschaft auch ohne
Seelenleben hätten geschaffen werden müssen fwas freilich Kroell nicht be-
hauptetj, welchen Sinn hat dann die Existenz psychischer Parallelerscheiunngen
ans dem Gesichtspunkt der mechanistischen Weltanschauung?" Wie anders,
wenn wir einen mit Intelligenz und Willen ausgestatteten Geist (bei Kroell
ist der Wille nur ein Produkt von Hemmuugsvorrichtungen in gewissen Neu-
ronen) als das erste annehmen, der sich den Naturmcchanismus geschaffen hat
als ein Mittel, in den Jndividualgeistern, in die er sich spaltet, thätig zu sein!
Einmal entschlüpft dem Verfasser unwillkürlich die richtige Darstellung: Unsre
Sinne „liefern immer nur Wahrnehmungen, die für ein Wesen, das nicht mit
solchen Apparaten ausgestattet ist, gar nicht vorhanden sind." Statt Wesen
braucht man nur Seele oder Geist zu setzen. Nach Kroells gewöhnlicher Auf¬
fassung ist das Wahrnehmende nicht ein besondres Wesen, sondern einer der
Apparate, die Großhirnrinde.

Es ist leicht zu erkennen, was diesen vortrefflichen Forscher in die mate¬
rialistische Richtung hineingedrängt hat. Einmal der Gegensatz zu der für den
Mann der modernen wissenschaftlichen Erkenntnis unannehmbaren Kirchenlehre
und zu der Art und Weise, wie die Orthodoxie die Wissenschaft zu behandeln
pflegt. Das ist eben das alte Elend, daß die unberechtigten Eingriffe jeder
der beiden Parteien in das Gebiet der andern die Angegriffnen verbissen und
einseitig bis zum Fanatismus macheu. Die Wissenschaft kann nie entsittlichend
wirken, ruft Kroell den Wächtern des Glaubens zu. Gewiß uicht! Das Be¬
treiben der Wissenschaften, und das meint er doch wohl hier mit dem Worte
Wissenschaft, wirkt schon als anstrengende Arbeit notwendig versittlichend.
Aber verkündigt dem großen Haufen der Rohen, der Schwachen, der Ein¬
fältigen, der Erbitterten, der Verzweifelnden als unwidcrlcgliches Ergebnis der
wissenschaftlichen Forschung: Es giebt keinen liebenden Vater im Himmel und
auch keinen gerechten Richter, so wird das eben die Wirkungen üben, die jeder¬
mann kennt, und die jedenfalls weder erfreulich noch unbedenklich sind, mag
man sie versittlichend oder entsittlichend oder sonstwie nennen. „Wer, wie der
Arzt, heißt es Seite 232, täglich seine Beobachtungen aus dem vollen Strom
des Lebens schöpft, der sieht, daß keine Thräne und kein Flehen, kein Hände¬
ringen und kein Aufschrei aus Verzweiflung den gesetzmäßigen Gang der Dinge
aufhält, daß also kein allgütiger Wille, sondern das unerbittliche Gesetz der
allgemeinen Bewegungsumformuugen überall waltet." Es sind also zweitens
Pessimistische Lebenserfahrungen für seine Richtung bestimmend gewesen. Aber
diesen Erfahrungen stehn millionenfache Erfahrungen andrer gegenüber, die


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_235171/367>, abgerufen am 28.09.2024.