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Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Drittes Vierteljahr.

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Zur Psychologie und Anthropologie

bewegungen hin als Umformung auffaßt, so ist für ihn der Fortschritt, deu
die Wissenschaft in Cartesius, Kant, Lotze und Hartmann gemacht hat, verloren.
Eine körperliche Bewegung kam: nie und nimmer in etwas andres als in eine
andre körperliche Bewegung umgesetzt oder umgeformt werden. Die Bewußt¬
seinserscheinungen, die wir aus Erfahrung kennen, also die auf unsrer Erde
vorkommenden, sind ohne Molekularbewegungen einer Nervensubstanz nicht
möglich, aber sie sind nicht das Äquivalent dieser Molekularbewegung, Die
geistigen Erscheinungen bilden deshalb auch nicht einen Teil der Kette von
Wirkungen, für die das Gesetz der Erhaltung der Kraft gilt, obwohl sie mit
ihr verflochten sind, wie denn überhaupt in der Welt jedes mit jedem ver¬
flochten ist. Kroell schreibt, nicht in Beziehung auf die Bewußtseinsvorgänge,
sondern in Beziehung auf das organische Leben: "Mag man dem verwickelten
Spiel der Kräfte in der Zelle und dem wunderbaren Aufbau der Moleküle
noch so staunend gegenüberstehn -- es widerstrebt den grundlegenden Natur¬
gesetzen, aus der einheitlichen, alles bewegenden Kraft eine besondre Lebens
kraft in dem Sinne abzuscheiden, daß eine solche mit den andern Kräften nichts
gemein habe," Welcher idealistische Metaphhsiker heutiger Zeit behauptet denn,
daß die geistigen und organischen Kräfte mit den mechanischen nichts gemein
hätten? Aber die geistigen, die organischen, die mechanischen Kräfte, ein¬
schließlich der chemischen, bilden jedes eine Gruppe, und ihre Wirkungen ein
Gewebe für sich, das seinen eignen Gesetzen folgt, obwohl sie alle in der ge¬
meinsamen Urkraft wurzeln, die sie zu harmonischem Wirken zusammenfügt.
Von dem für den Naturmechanismus in Betracht kommenden Energiegesetz
schreibt Hartmann Seite 414 seiner Psychologie, es könne nicht a priori deduziert
werden, sondern sei nur aus der Erfahrung induziert, und könne nur soweit
Giltigkeit beanspruchen, als es durch die Erfahrung beglaubigt werde.

Ein Hauptargument der Materialisten gegen die "Welt als Vorstellung"
der idealistischen Philosophie ist die Thatsache, daß ja Tiere, Pflanzen,
Ströme, Gestirne, kurz alle Bestandteile des Universums vor dem Menschen,
also ohne ihn und seine Vorstellung vorhanden gewesen sind. Auch Kroell
bedient sich seiner, macht es aber selbst zu nichte, indem er schreibt: "Das
zarte Grün der Wiesen und die murmelnde Quelle, der rauschende Strom
und das Lispeln des Windes im Geäst der blüttergeschmückten Riesen des
Waldes erstanden in ihrer Lieblichkeit, Pracht und Macht, als die von
ihnen ausgehenden Bewegungen zum erstenmal die Zentralneurone der Hirn¬
rinde berührten," Da haben wir die Welt als Vorstellung und als nichts
andres! Deal schwingende qualitätslose Atome für sich allein sind non sulln,
und keine Welt. Und auch die Hirnneurone sind, in ihrer Körperlichkeit be¬
trachtet, solche mein Sillig. Wenn einer von ihnen die Kraft zukommt, auf
äußere Anstöße hin bewußt zu werden und die Welt vorstellend zu schaffen,
so leistet sie das nicht als eine Gruppe von Molekeln, sondern als Geist.
Nach monistischer Ansicht ist es eben dasselbe Wesen, was sich durch sein Innen¬
leben als Geist, durch Bewegung im Raume als Glied der Körperwelt offen-


Zur Psychologie und Anthropologie

bewegungen hin als Umformung auffaßt, so ist für ihn der Fortschritt, deu
die Wissenschaft in Cartesius, Kant, Lotze und Hartmann gemacht hat, verloren.
Eine körperliche Bewegung kam: nie und nimmer in etwas andres als in eine
andre körperliche Bewegung umgesetzt oder umgeformt werden. Die Bewußt¬
seinserscheinungen, die wir aus Erfahrung kennen, also die auf unsrer Erde
vorkommenden, sind ohne Molekularbewegungen einer Nervensubstanz nicht
möglich, aber sie sind nicht das Äquivalent dieser Molekularbewegung, Die
geistigen Erscheinungen bilden deshalb auch nicht einen Teil der Kette von
Wirkungen, für die das Gesetz der Erhaltung der Kraft gilt, obwohl sie mit
ihr verflochten sind, wie denn überhaupt in der Welt jedes mit jedem ver¬
flochten ist. Kroell schreibt, nicht in Beziehung auf die Bewußtseinsvorgänge,
sondern in Beziehung auf das organische Leben: „Mag man dem verwickelten
Spiel der Kräfte in der Zelle und dem wunderbaren Aufbau der Moleküle
noch so staunend gegenüberstehn — es widerstrebt den grundlegenden Natur¬
gesetzen, aus der einheitlichen, alles bewegenden Kraft eine besondre Lebens
kraft in dem Sinne abzuscheiden, daß eine solche mit den andern Kräften nichts
gemein habe," Welcher idealistische Metaphhsiker heutiger Zeit behauptet denn,
daß die geistigen und organischen Kräfte mit den mechanischen nichts gemein
hätten? Aber die geistigen, die organischen, die mechanischen Kräfte, ein¬
schließlich der chemischen, bilden jedes eine Gruppe, und ihre Wirkungen ein
Gewebe für sich, das seinen eignen Gesetzen folgt, obwohl sie alle in der ge¬
meinsamen Urkraft wurzeln, die sie zu harmonischem Wirken zusammenfügt.
Von dem für den Naturmechanismus in Betracht kommenden Energiegesetz
schreibt Hartmann Seite 414 seiner Psychologie, es könne nicht a priori deduziert
werden, sondern sei nur aus der Erfahrung induziert, und könne nur soweit
Giltigkeit beanspruchen, als es durch die Erfahrung beglaubigt werde.

Ein Hauptargument der Materialisten gegen die „Welt als Vorstellung"
der idealistischen Philosophie ist die Thatsache, daß ja Tiere, Pflanzen,
Ströme, Gestirne, kurz alle Bestandteile des Universums vor dem Menschen,
also ohne ihn und seine Vorstellung vorhanden gewesen sind. Auch Kroell
bedient sich seiner, macht es aber selbst zu nichte, indem er schreibt: „Das
zarte Grün der Wiesen und die murmelnde Quelle, der rauschende Strom
und das Lispeln des Windes im Geäst der blüttergeschmückten Riesen des
Waldes erstanden in ihrer Lieblichkeit, Pracht und Macht, als die von
ihnen ausgehenden Bewegungen zum erstenmal die Zentralneurone der Hirn¬
rinde berührten," Da haben wir die Welt als Vorstellung und als nichts
andres! Deal schwingende qualitätslose Atome für sich allein sind non sulln,
und keine Welt. Und auch die Hirnneurone sind, in ihrer Körperlichkeit be¬
trachtet, solche mein Sillig. Wenn einer von ihnen die Kraft zukommt, auf
äußere Anstöße hin bewußt zu werden und die Welt vorstellend zu schaffen,
so leistet sie das nicht als eine Gruppe von Molekeln, sondern als Geist.
Nach monistischer Ansicht ist es eben dasselbe Wesen, was sich durch sein Innen¬
leben als Geist, durch Bewegung im Raume als Glied der Körperwelt offen-


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[0366] Zur Psychologie und Anthropologie bewegungen hin als Umformung auffaßt, so ist für ihn der Fortschritt, deu die Wissenschaft in Cartesius, Kant, Lotze und Hartmann gemacht hat, verloren. Eine körperliche Bewegung kam: nie und nimmer in etwas andres als in eine andre körperliche Bewegung umgesetzt oder umgeformt werden. Die Bewußt¬ seinserscheinungen, die wir aus Erfahrung kennen, also die auf unsrer Erde vorkommenden, sind ohne Molekularbewegungen einer Nervensubstanz nicht möglich, aber sie sind nicht das Äquivalent dieser Molekularbewegung, Die geistigen Erscheinungen bilden deshalb auch nicht einen Teil der Kette von Wirkungen, für die das Gesetz der Erhaltung der Kraft gilt, obwohl sie mit ihr verflochten sind, wie denn überhaupt in der Welt jedes mit jedem ver¬ flochten ist. Kroell schreibt, nicht in Beziehung auf die Bewußtseinsvorgänge, sondern in Beziehung auf das organische Leben: „Mag man dem verwickelten Spiel der Kräfte in der Zelle und dem wunderbaren Aufbau der Moleküle noch so staunend gegenüberstehn — es widerstrebt den grundlegenden Natur¬ gesetzen, aus der einheitlichen, alles bewegenden Kraft eine besondre Lebens kraft in dem Sinne abzuscheiden, daß eine solche mit den andern Kräften nichts gemein habe," Welcher idealistische Metaphhsiker heutiger Zeit behauptet denn, daß die geistigen und organischen Kräfte mit den mechanischen nichts gemein hätten? Aber die geistigen, die organischen, die mechanischen Kräfte, ein¬ schließlich der chemischen, bilden jedes eine Gruppe, und ihre Wirkungen ein Gewebe für sich, das seinen eignen Gesetzen folgt, obwohl sie alle in der ge¬ meinsamen Urkraft wurzeln, die sie zu harmonischem Wirken zusammenfügt. Von dem für den Naturmechanismus in Betracht kommenden Energiegesetz schreibt Hartmann Seite 414 seiner Psychologie, es könne nicht a priori deduziert werden, sondern sei nur aus der Erfahrung induziert, und könne nur soweit Giltigkeit beanspruchen, als es durch die Erfahrung beglaubigt werde. Ein Hauptargument der Materialisten gegen die „Welt als Vorstellung" der idealistischen Philosophie ist die Thatsache, daß ja Tiere, Pflanzen, Ströme, Gestirne, kurz alle Bestandteile des Universums vor dem Menschen, also ohne ihn und seine Vorstellung vorhanden gewesen sind. Auch Kroell bedient sich seiner, macht es aber selbst zu nichte, indem er schreibt: „Das zarte Grün der Wiesen und die murmelnde Quelle, der rauschende Strom und das Lispeln des Windes im Geäst der blüttergeschmückten Riesen des Waldes erstanden in ihrer Lieblichkeit, Pracht und Macht, als die von ihnen ausgehenden Bewegungen zum erstenmal die Zentralneurone der Hirn¬ rinde berührten," Da haben wir die Welt als Vorstellung und als nichts andres! Deal schwingende qualitätslose Atome für sich allein sind non sulln, und keine Welt. Und auch die Hirnneurone sind, in ihrer Körperlichkeit be¬ trachtet, solche mein Sillig. Wenn einer von ihnen die Kraft zukommt, auf äußere Anstöße hin bewußt zu werden und die Welt vorstellend zu schaffen, so leistet sie das nicht als eine Gruppe von Molekeln, sondern als Geist. Nach monistischer Ansicht ist es eben dasselbe Wesen, was sich durch sein Innen¬ leben als Geist, durch Bewegung im Raume als Glied der Körperwelt offen-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_235171/366>, abgerufen am 25.06.2024.