Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Drittes Vierteljahr.Line Denkschrift des Ministers Witte "Widerstandsloser Gehorsam" -- den fordert Witte vor allein, und was er Line Denkschrift des Ministers Witte „Widerstandsloser Gehorsam" — den fordert Witte vor allein, und was er <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0322" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/235494"/> <fw type="header" place="top"> Line Denkschrift des Ministers Witte</fw><lb/> <p xml:id="ID_1518" prev="#ID_1517" next="#ID_1519"> „Widerstandsloser Gehorsam" — den fordert Witte vor allein, und was er<lb/> unter vernünftiger Selbstverwaltung versteht, das ist die selbständige Verwal¬<lb/> tung des Gutes durch den Gutsbesitzer, der Fabrik durch den Fabrikherrn,<lb/> kurz, der privaten Interessen durch private Personen und Gesellschaften. Das<lb/> Verständnis für Selbstverwaltung in öffentlichen Dingen, für die erziehende,<lb/> stärkende Kraft der politischen Selbstverwaltung, für die gewaltige Bedeutung,<lb/> die sie in allen Knlturstanten für Volk und Staat gehabt hat, vermissen wir.<lb/> Wir vermissen auch den Nachweis, daß die Landschaften ihre Pflichten nicht<lb/> erfüllt hätte», ihrer Aufgabe nicht wären gewachsen gewesen. Solcher Mängel<lb/> werden sie gar nicht beschuldigt, obwohl der Verfasser der Schrift ohne Zweifel<lb/> reiches Material hatte herbeischaffen können, um zu beweisen, welche Fehler<lb/> die Landschaften begangen haben. Denn daß ein junges Institut wie dieses<lb/> viele üble Erfahrungen durchmachen mußte in diesen bald vierzig Jahren seines<lb/> Bestchus, daß mancherlei Irrwege beschütten, Thorheiten begangen wurden,<lb/> kann man annehmen auch ohne Untersuchung und ist in der That geschehn.<lb/> Witte aber läßt dem Eifer, der Thätigkeit, den Erfolgen der Landschaften in<lb/> ihrer anfänglich freiern Stellung Gerechtigkeit widerfahren, nur daß es ihm<lb/> darauf gar nicht nukommt, was die Selbstverwaltung leistete und leisten könnte,<lb/> sondern nur darauf, daß sie durch ihre Tendenz zur Bildung einer Gesamt-<lb/> landschnft dieses Gespenst der Konstitution heraufbeschwört, vor dem der Minister<lb/> den Staat um jeden, sogar um den Preis des Verdorrens, schützen will, weil<lb/> der Bestand des Reichs, der äußere Riesenleib, dadurch vielleicht gefährdet<lb/> würde. Dieser Standpunkt scheint für jeden politisch denkenden Menschen ein<lb/> bedenklicher, ein fast verzweifelter zu sein, besonders in einer Zeit, wo derselbe<lb/> Minister alle Kräfte des Staats darau setzt, einen industriellen Mittelstand zu<lb/> schaffen. Glaubt der Minister wirklich, ein sich industriell und kommerziell<lb/> eutwickeludes Reich zwischen Eismeer und Stillen Ozean, zwischen Pamir und<lb/> Weichsel von Se. Petersburg aus mit dem „homogenen Prinzip" des staat¬<lb/> lichen Mechanismus dauernd regieren zu tonnen? Nach den Erfahrungen,<lb/> die uns andern Europäern zu Gebote stehn, ist das unmöglich. Gerade der<lb/> Minister, der sich mehr als einer vor ihn: bemüht, wirtschaftliches und geistiges<lb/> Leben in dem Reich zu wecken, müßte fürchten, daß mit der Rückkehr zur<lb/> vureankratischen Alleinherrschaft die eine Hand zerstöre, lähme, was die andre<lb/> schuf. Bureaukratische Alleinherrschaft würde weit mehr zu einem Shstem<lb/> Pobedvnoszcw passen, zur Niederhaltung der gnuzen geistigen Vvlksentwicklung.<lb/> Ju der Türkei ist dieses Shstem vielleicht passend, aber Witte thut ja mehr<lb/> als irgend jemand dazu, die Unühnlichteit Rußlands mit der Türkei zu ver¬<lb/> größern. Er holt eine ganze Bibliothek staatsrechtlicher Schriften zu seiner<lb/> Beweisführung heran, ja er stützt sich auf eine Menge vou Schriften, die,<lb/> wenn er sie vor Jahren besessen und gelesen Hütte, ihn vielleicht nach Sibirien<lb/> statt an die Spitze der Negierung gebracht Hütten: wenn er all diese Schriften<lb/> aber nicht bloß durch „Zusammensteller" seiner Denkschrift Hütte herbeiholen<lb/> lassen, sondern auch nur eine» geringen Teil davon selbst gelesen hätte, so</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0322]
Line Denkschrift des Ministers Witte
„Widerstandsloser Gehorsam" — den fordert Witte vor allein, und was er
unter vernünftiger Selbstverwaltung versteht, das ist die selbständige Verwal¬
tung des Gutes durch den Gutsbesitzer, der Fabrik durch den Fabrikherrn,
kurz, der privaten Interessen durch private Personen und Gesellschaften. Das
Verständnis für Selbstverwaltung in öffentlichen Dingen, für die erziehende,
stärkende Kraft der politischen Selbstverwaltung, für die gewaltige Bedeutung,
die sie in allen Knlturstanten für Volk und Staat gehabt hat, vermissen wir.
Wir vermissen auch den Nachweis, daß die Landschaften ihre Pflichten nicht
erfüllt hätte», ihrer Aufgabe nicht wären gewachsen gewesen. Solcher Mängel
werden sie gar nicht beschuldigt, obwohl der Verfasser der Schrift ohne Zweifel
reiches Material hatte herbeischaffen können, um zu beweisen, welche Fehler
die Landschaften begangen haben. Denn daß ein junges Institut wie dieses
viele üble Erfahrungen durchmachen mußte in diesen bald vierzig Jahren seines
Bestchus, daß mancherlei Irrwege beschütten, Thorheiten begangen wurden,
kann man annehmen auch ohne Untersuchung und ist in der That geschehn.
Witte aber läßt dem Eifer, der Thätigkeit, den Erfolgen der Landschaften in
ihrer anfänglich freiern Stellung Gerechtigkeit widerfahren, nur daß es ihm
darauf gar nicht nukommt, was die Selbstverwaltung leistete und leisten könnte,
sondern nur darauf, daß sie durch ihre Tendenz zur Bildung einer Gesamt-
landschnft dieses Gespenst der Konstitution heraufbeschwört, vor dem der Minister
den Staat um jeden, sogar um den Preis des Verdorrens, schützen will, weil
der Bestand des Reichs, der äußere Riesenleib, dadurch vielleicht gefährdet
würde. Dieser Standpunkt scheint für jeden politisch denkenden Menschen ein
bedenklicher, ein fast verzweifelter zu sein, besonders in einer Zeit, wo derselbe
Minister alle Kräfte des Staats darau setzt, einen industriellen Mittelstand zu
schaffen. Glaubt der Minister wirklich, ein sich industriell und kommerziell
eutwickeludes Reich zwischen Eismeer und Stillen Ozean, zwischen Pamir und
Weichsel von Se. Petersburg aus mit dem „homogenen Prinzip" des staat¬
lichen Mechanismus dauernd regieren zu tonnen? Nach den Erfahrungen,
die uns andern Europäern zu Gebote stehn, ist das unmöglich. Gerade der
Minister, der sich mehr als einer vor ihn: bemüht, wirtschaftliches und geistiges
Leben in dem Reich zu wecken, müßte fürchten, daß mit der Rückkehr zur
vureankratischen Alleinherrschaft die eine Hand zerstöre, lähme, was die andre
schuf. Bureaukratische Alleinherrschaft würde weit mehr zu einem Shstem
Pobedvnoszcw passen, zur Niederhaltung der gnuzen geistigen Vvlksentwicklung.
Ju der Türkei ist dieses Shstem vielleicht passend, aber Witte thut ja mehr
als irgend jemand dazu, die Unühnlichteit Rußlands mit der Türkei zu ver¬
größern. Er holt eine ganze Bibliothek staatsrechtlicher Schriften zu seiner
Beweisführung heran, ja er stützt sich auf eine Menge vou Schriften, die,
wenn er sie vor Jahren besessen und gelesen Hütte, ihn vielleicht nach Sibirien
statt an die Spitze der Negierung gebracht Hütten: wenn er all diese Schriften
aber nicht bloß durch „Zusammensteller" seiner Denkschrift Hütte herbeiholen
lassen, sondern auch nur eine» geringen Teil davon selbst gelesen hätte, so
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