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Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Drittes Vierteljahr.

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Line Denkschrift des Ministers Witte

konnte es bei einem so bedeutenden Geist nicht ausbleiben, daß eine mehr
staatsmännische Auffassung von den sittlichen Kräften des Volks und den poli¬
tischen Aufgaben des Staats aus solchem Studium hervorgegangen wäre.
Diesem Verfasser der Denkschrift hätte es nicht entgehn sollen, daß die vielen
wissenschaftlichen Autoritäten, die er nennt, an der Verdcrülichkeit einer staat¬
lichen Uniformitüt und bureaukratischen Zentraliscition von der Art und Aus¬
dehnung, wie der Minister sie im Auge hat, keinen Zweifel lassen. Wissen¬
schaftlich für diese zum Gemeinplatz gewordne Erfahrung des europäischen
staatlichen Lebens noch ein Wort zu verlieren, ist überflüssig. All der Ge¬
lehrsamkeit -- nicht des Herrn Ministers, dem die Verantwortung zuzuweisen
vermessen wäre, sondern des "ZusammenstellerS" -- erlaube ich mir nun ein
Zitat ans einem Roman entgegenzustellen. Bulwer sagt in seiner Allee,
Buch 6, Kapitel 2 von der staatlichen Zentralisntivn der Franzosen: "Ein
Grundsatz, der augenblickliche Kraft sichert, aber jedesmal mit plötzlicher Ver¬
nichtung der Staaten endet. Die Zentralisation ist wirklich ein gefährliches
komisches Mittel, das zwar das System zu stärken scheint, aber das Blut zu
Kopf treibt und Schlagfluß oder Tollheit hervorzurufen pflegt. Durch Zen¬
tralisation werden die Provinzen geschwächt. ..." Der Herr Minister hätte
nur diese Alice zu lesen brauchen. Da er sich aber zu sehr auf seinen "Zu-
sammensteller" verlassen hat, so ist das Ergebnis seiner Forschungen eine so
flach mechanische Auffassung -- soweit Auffassung und Programm innerlich
Gereinstimmen --, wie sie allenfalls dem Gesichtskreise eines Kreispvlizeichefs,
nicht aber dem des leitenden Ministers eines großen Reichs entspricht. Hätte
der Minister selbst auch nur die russische Geschichte bis zu den Reformen
Alexanders II. selbst studiert, so wüßte er, daß das, was er als die allem
segensreiche Grundlage der Regierung Rußlands neu festigen will, eben das
abgewirtschaftete System ist, das zu den Reformen nötigte. Die reine Bureau¬
kratie ist in Rußland bankerott, und sie neu errichten, heißt ein gefährliches
Spiel spielen. Aber der Minister will ja auch nur einem nach seiner Mei¬
nung noch gefährlichern Spiel entgehn. Es ist, wem, die Frage so scharf
gestellt wird, allerdings nicht ganz leicht, sich zu einer Antwort zu entschließen.
Und auch dem Minister ist sie, wie ich schon oben vermutete, schwer genug
gefallen. Aber sie ist doch gefallen.

Er will mit Selbstherrschaft und administrativer Zentralisation die Einheit
Rußlands retten. Er kennt mir zwei Möglichkeiten: Selbstherrschaft oder
Konstitutionalismus. Er bemerkt nicht, daß es auch Mittelwege giebt, daß
z. B. die bestverwalteten Teile Rußlands, nämlich die Ostseeprovinzen und
Finnland, ihre Blüte durch mehr oder minder freiheitliche Selbstverwaltung
erreicht haben unter der Selbstherrschaft und ohne eine russische Konstitution.
Er bemerkt nicht, daß er aus Furcht vor einem Zerfall des Ganzen einem
Zustande zustrebt, der eine Paralyse oder eine Explosion zur Folge haben
muß. Er bemerkt nicht, daß, wenn seine Schultern vielleicht einer solchen
Last, wie er sie schon heute trägt, noch gewachsen sind, die künftige Last des


Line Denkschrift des Ministers Witte

konnte es bei einem so bedeutenden Geist nicht ausbleiben, daß eine mehr
staatsmännische Auffassung von den sittlichen Kräften des Volks und den poli¬
tischen Aufgaben des Staats aus solchem Studium hervorgegangen wäre.
Diesem Verfasser der Denkschrift hätte es nicht entgehn sollen, daß die vielen
wissenschaftlichen Autoritäten, die er nennt, an der Verdcrülichkeit einer staat¬
lichen Uniformitüt und bureaukratischen Zentraliscition von der Art und Aus¬
dehnung, wie der Minister sie im Auge hat, keinen Zweifel lassen. Wissen¬
schaftlich für diese zum Gemeinplatz gewordne Erfahrung des europäischen
staatlichen Lebens noch ein Wort zu verlieren, ist überflüssig. All der Ge¬
lehrsamkeit — nicht des Herrn Ministers, dem die Verantwortung zuzuweisen
vermessen wäre, sondern des „ZusammenstellerS" — erlaube ich mir nun ein
Zitat ans einem Roman entgegenzustellen. Bulwer sagt in seiner Allee,
Buch 6, Kapitel 2 von der staatlichen Zentralisntivn der Franzosen: „Ein
Grundsatz, der augenblickliche Kraft sichert, aber jedesmal mit plötzlicher Ver¬
nichtung der Staaten endet. Die Zentralisation ist wirklich ein gefährliches
komisches Mittel, das zwar das System zu stärken scheint, aber das Blut zu
Kopf treibt und Schlagfluß oder Tollheit hervorzurufen pflegt. Durch Zen¬
tralisation werden die Provinzen geschwächt. ..." Der Herr Minister hätte
nur diese Alice zu lesen brauchen. Da er sich aber zu sehr auf seinen „Zu-
sammensteller" verlassen hat, so ist das Ergebnis seiner Forschungen eine so
flach mechanische Auffassung — soweit Auffassung und Programm innerlich
Gereinstimmen —, wie sie allenfalls dem Gesichtskreise eines Kreispvlizeichefs,
nicht aber dem des leitenden Ministers eines großen Reichs entspricht. Hätte
der Minister selbst auch nur die russische Geschichte bis zu den Reformen
Alexanders II. selbst studiert, so wüßte er, daß das, was er als die allem
segensreiche Grundlage der Regierung Rußlands neu festigen will, eben das
abgewirtschaftete System ist, das zu den Reformen nötigte. Die reine Bureau¬
kratie ist in Rußland bankerott, und sie neu errichten, heißt ein gefährliches
Spiel spielen. Aber der Minister will ja auch nur einem nach seiner Mei¬
nung noch gefährlichern Spiel entgehn. Es ist, wem, die Frage so scharf
gestellt wird, allerdings nicht ganz leicht, sich zu einer Antwort zu entschließen.
Und auch dem Minister ist sie, wie ich schon oben vermutete, schwer genug
gefallen. Aber sie ist doch gefallen.

Er will mit Selbstherrschaft und administrativer Zentralisation die Einheit
Rußlands retten. Er kennt mir zwei Möglichkeiten: Selbstherrschaft oder
Konstitutionalismus. Er bemerkt nicht, daß es auch Mittelwege giebt, daß
z. B. die bestverwalteten Teile Rußlands, nämlich die Ostseeprovinzen und
Finnland, ihre Blüte durch mehr oder minder freiheitliche Selbstverwaltung
erreicht haben unter der Selbstherrschaft und ohne eine russische Konstitution.
Er bemerkt nicht, daß er aus Furcht vor einem Zerfall des Ganzen einem
Zustande zustrebt, der eine Paralyse oder eine Explosion zur Folge haben
muß. Er bemerkt nicht, daß, wenn seine Schultern vielleicht einer solchen
Last, wie er sie schon heute trägt, noch gewachsen sind, die künftige Last des


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_235171/323>, abgerufen am 22.07.2024.