Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Drittes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite

zentralisierten Staats-Tschinownit'tum, und daß deshalb die Selbstverwaltung
in Rußland ein Unding sei.

Wenn das wissenschaftliche Turnier der beiden Minister uns allenfalls
als Kennzeichen für die Art der Kriegführung zwischen russischen leitenden
Staatsmännern interessiert, so wird doch unsre Aufmerksamkeit weit stärker in
Anspruch genommen von den Abschnitten der Schrift, in denen uns eine kurze
Geschichte der Kämpfe geboten wird, die von 1864 bis 1900 zwischen den
Landschaften und der Staatsregierung ausgefochten wurden <S, 63 ff,). Und
man wird die Objektivität anerkennen müssen, mit der der Minister diese
Kämpfe darlegt, indem er, die Fehler der Landschaften wenig beachtend, hnnpt-
sächlich ans das gewaltsame Vorgehn der Stantsregieruug hinweist. Wir folgen
seinen Darlegungen in gedrängter Kürze,

Das allständische Prinzip, sagt der Minister, erschien in unseru Institu¬
tionen plötzlich, ohne einen ihm vorausgehenden langen historischen Prozeß,
der die gesellschaftliche" und ständischen Unterschiede schrittweise ausgeglichen
hätte. In dem Rußland des Anfangs der sechziger Jahre vollzog sich ein
tiefer Umschwung in den Anschauungen von Regierung und Gesellschaft. Die
alten Ordnungen brachen zusammen; der politische Bau des Reiches, der so
lauge auf der ständischen Organisation und der Hierarchie der örtlichen Gesell¬
schaften geruht hatte, fand sich Auge in Ange dem altständischen Prinzip gegen¬
übergestellt; mau mußte das System der örtlichen Verwaltung radikal ändern.
Die allgemeine Strömung war auf eine politische Änderung gerichtet und hatte
ihren Brennpunkt in der "Glocke" Herzens. Die liberalen Ideen und der
Konstitutionalismus waren damals so stark, daß sogar Katkow die Berufung
einer altrussischen Landschaftsversammlung zur Organisierung der öffentlichen
Meinung befürwortete. Unter den Männern, die das Gesetz über die Organi¬
sation der Landschaften vorbereiteten, waren viele, die mit dem Führer in
dieser Sache, Milntin, meinten, daß die Einführung einer Konstitution verfrüht,
aber prinzipiell zu wünschen sei. Milntin wollte den Bau von unten beginnen,
mit örtlichen Wahlkörpern, in denen das Land zur Selbstverwaltung erzogen
werden würde; die Wahlkörper sollten die Keime für eine kräftige repräsen¬
tative Reichsregierung werden. Es ist bemerkenswert, wie objektiv nud warm
Witte an dieser Stelle die "hervorragenden Staatsmänner der sechziger Jahre"
gegen Angriffe Goremykins verteidigt, die "ihrer Zeit so viel Großes voll¬
brachten, wie ihre Nachfolger nicht leisteten, die sich um die Erneuerung
unsers staatlichen und gesellschaftlichen Baues nach ihren innigen Überzeugungen
mit freier Ergebenheit gegenüber ihrem Herrscher und nicht gegen sein Streben
bemühten." Rechnet Witte sich zu ihren Gesinnungsgenossen?

In dem die Landschaftsinstitntionen ankündcnden Manifest vom 31. März
1863 bezeichnete Alexander II. die vernünftige Ordnung der örtlichen Selbst¬
verwaltung als die Grundlage des gesamten gesellschaftlichen Baues. Weiter
hieß es: "Indem wir diese Einrichtungen bewahren, behalten wir uns vor,
wenn sie durch die Praxis erprobt sein werden, an ihre weitere Entwicklung


zentralisierten Staats-Tschinownit'tum, und daß deshalb die Selbstverwaltung
in Rußland ein Unding sei.

Wenn das wissenschaftliche Turnier der beiden Minister uns allenfalls
als Kennzeichen für die Art der Kriegführung zwischen russischen leitenden
Staatsmännern interessiert, so wird doch unsre Aufmerksamkeit weit stärker in
Anspruch genommen von den Abschnitten der Schrift, in denen uns eine kurze
Geschichte der Kämpfe geboten wird, die von 1864 bis 1900 zwischen den
Landschaften und der Staatsregierung ausgefochten wurden <S, 63 ff,). Und
man wird die Objektivität anerkennen müssen, mit der der Minister diese
Kämpfe darlegt, indem er, die Fehler der Landschaften wenig beachtend, hnnpt-
sächlich ans das gewaltsame Vorgehn der Stantsregieruug hinweist. Wir folgen
seinen Darlegungen in gedrängter Kürze,

Das allständische Prinzip, sagt der Minister, erschien in unseru Institu¬
tionen plötzlich, ohne einen ihm vorausgehenden langen historischen Prozeß,
der die gesellschaftliche» und ständischen Unterschiede schrittweise ausgeglichen
hätte. In dem Rußland des Anfangs der sechziger Jahre vollzog sich ein
tiefer Umschwung in den Anschauungen von Regierung und Gesellschaft. Die
alten Ordnungen brachen zusammen; der politische Bau des Reiches, der so
lauge auf der ständischen Organisation und der Hierarchie der örtlichen Gesell¬
schaften geruht hatte, fand sich Auge in Ange dem altständischen Prinzip gegen¬
übergestellt; mau mußte das System der örtlichen Verwaltung radikal ändern.
Die allgemeine Strömung war auf eine politische Änderung gerichtet und hatte
ihren Brennpunkt in der „Glocke" Herzens. Die liberalen Ideen und der
Konstitutionalismus waren damals so stark, daß sogar Katkow die Berufung
einer altrussischen Landschaftsversammlung zur Organisierung der öffentlichen
Meinung befürwortete. Unter den Männern, die das Gesetz über die Organi¬
sation der Landschaften vorbereiteten, waren viele, die mit dem Führer in
dieser Sache, Milntin, meinten, daß die Einführung einer Konstitution verfrüht,
aber prinzipiell zu wünschen sei. Milntin wollte den Bau von unten beginnen,
mit örtlichen Wahlkörpern, in denen das Land zur Selbstverwaltung erzogen
werden würde; die Wahlkörper sollten die Keime für eine kräftige repräsen¬
tative Reichsregierung werden. Es ist bemerkenswert, wie objektiv nud warm
Witte an dieser Stelle die „hervorragenden Staatsmänner der sechziger Jahre"
gegen Angriffe Goremykins verteidigt, die „ihrer Zeit so viel Großes voll¬
brachten, wie ihre Nachfolger nicht leisteten, die sich um die Erneuerung
unsers staatlichen und gesellschaftlichen Baues nach ihren innigen Überzeugungen
mit freier Ergebenheit gegenüber ihrem Herrscher und nicht gegen sein Streben
bemühten." Rechnet Witte sich zu ihren Gesinnungsgenossen?

In dem die Landschaftsinstitntionen ankündcnden Manifest vom 31. März
1863 bezeichnete Alexander II. die vernünftige Ordnung der örtlichen Selbst¬
verwaltung als die Grundlage des gesamten gesellschaftlichen Baues. Weiter
hieß es: „Indem wir diese Einrichtungen bewahren, behalten wir uns vor,
wenn sie durch die Praxis erprobt sein werden, an ihre weitere Entwicklung


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0254" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/235426"/>
          <fw type="header" place="top"/><lb/>
          <p xml:id="ID_1223" prev="#ID_1222"> zentralisierten Staats-Tschinownit'tum, und daß deshalb die Selbstverwaltung<lb/>
in Rußland ein Unding sei.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1224"> Wenn das wissenschaftliche Turnier der beiden Minister uns allenfalls<lb/>
als Kennzeichen für die Art der Kriegführung zwischen russischen leitenden<lb/>
Staatsmännern interessiert, so wird doch unsre Aufmerksamkeit weit stärker in<lb/>
Anspruch genommen von den Abschnitten der Schrift, in denen uns eine kurze<lb/>
Geschichte der Kämpfe geboten wird, die von 1864 bis 1900 zwischen den<lb/>
Landschaften und der Staatsregierung ausgefochten wurden &lt;S, 63 ff,). Und<lb/>
man wird die Objektivität anerkennen müssen, mit der der Minister diese<lb/>
Kämpfe darlegt, indem er, die Fehler der Landschaften wenig beachtend, hnnpt-<lb/>
sächlich ans das gewaltsame Vorgehn der Stantsregieruug hinweist. Wir folgen<lb/>
seinen Darlegungen in gedrängter Kürze,</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1225"> Das allständische Prinzip, sagt der Minister, erschien in unseru Institu¬<lb/>
tionen plötzlich, ohne einen ihm vorausgehenden langen historischen Prozeß,<lb/>
der die gesellschaftliche» und ständischen Unterschiede schrittweise ausgeglichen<lb/>
hätte. In dem Rußland des Anfangs der sechziger Jahre vollzog sich ein<lb/>
tiefer Umschwung in den Anschauungen von Regierung und Gesellschaft. Die<lb/>
alten Ordnungen brachen zusammen; der politische Bau des Reiches, der so<lb/>
lauge auf der ständischen Organisation und der Hierarchie der örtlichen Gesell¬<lb/>
schaften geruht hatte, fand sich Auge in Ange dem altständischen Prinzip gegen¬<lb/>
übergestellt; mau mußte das System der örtlichen Verwaltung radikal ändern.<lb/>
Die allgemeine Strömung war auf eine politische Änderung gerichtet und hatte<lb/>
ihren Brennpunkt in der &#x201E;Glocke" Herzens. Die liberalen Ideen und der<lb/>
Konstitutionalismus waren damals so stark, daß sogar Katkow die Berufung<lb/>
einer altrussischen Landschaftsversammlung zur Organisierung der öffentlichen<lb/>
Meinung befürwortete. Unter den Männern, die das Gesetz über die Organi¬<lb/>
sation der Landschaften vorbereiteten, waren viele, die mit dem Führer in<lb/>
dieser Sache, Milntin, meinten, daß die Einführung einer Konstitution verfrüht,<lb/>
aber prinzipiell zu wünschen sei. Milntin wollte den Bau von unten beginnen,<lb/>
mit örtlichen Wahlkörpern, in denen das Land zur Selbstverwaltung erzogen<lb/>
werden würde; die Wahlkörper sollten die Keime für eine kräftige repräsen¬<lb/>
tative Reichsregierung werden. Es ist bemerkenswert, wie objektiv nud warm<lb/>
Witte an dieser Stelle die &#x201E;hervorragenden Staatsmänner der sechziger Jahre"<lb/>
gegen Angriffe Goremykins verteidigt, die &#x201E;ihrer Zeit so viel Großes voll¬<lb/>
brachten, wie ihre Nachfolger nicht leisteten, die sich um die Erneuerung<lb/>
unsers staatlichen und gesellschaftlichen Baues nach ihren innigen Überzeugungen<lb/>
mit freier Ergebenheit gegenüber ihrem Herrscher und nicht gegen sein Streben<lb/>
bemühten."  Rechnet Witte sich zu ihren Gesinnungsgenossen?</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1226" next="#ID_1227"> In dem die Landschaftsinstitntionen ankündcnden Manifest vom 31. März<lb/>
1863 bezeichnete Alexander II. die vernünftige Ordnung der örtlichen Selbst¬<lb/>
verwaltung als die Grundlage des gesamten gesellschaftlichen Baues. Weiter<lb/>
hieß es: &#x201E;Indem wir diese Einrichtungen bewahren, behalten wir uns vor,<lb/>
wenn sie durch die Praxis erprobt sein werden, an ihre weitere Entwicklung</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0254] zentralisierten Staats-Tschinownit'tum, und daß deshalb die Selbstverwaltung in Rußland ein Unding sei. Wenn das wissenschaftliche Turnier der beiden Minister uns allenfalls als Kennzeichen für die Art der Kriegführung zwischen russischen leitenden Staatsmännern interessiert, so wird doch unsre Aufmerksamkeit weit stärker in Anspruch genommen von den Abschnitten der Schrift, in denen uns eine kurze Geschichte der Kämpfe geboten wird, die von 1864 bis 1900 zwischen den Landschaften und der Staatsregierung ausgefochten wurden <S, 63 ff,). Und man wird die Objektivität anerkennen müssen, mit der der Minister diese Kämpfe darlegt, indem er, die Fehler der Landschaften wenig beachtend, hnnpt- sächlich ans das gewaltsame Vorgehn der Stantsregieruug hinweist. Wir folgen seinen Darlegungen in gedrängter Kürze, Das allständische Prinzip, sagt der Minister, erschien in unseru Institu¬ tionen plötzlich, ohne einen ihm vorausgehenden langen historischen Prozeß, der die gesellschaftliche» und ständischen Unterschiede schrittweise ausgeglichen hätte. In dem Rußland des Anfangs der sechziger Jahre vollzog sich ein tiefer Umschwung in den Anschauungen von Regierung und Gesellschaft. Die alten Ordnungen brachen zusammen; der politische Bau des Reiches, der so lauge auf der ständischen Organisation und der Hierarchie der örtlichen Gesell¬ schaften geruht hatte, fand sich Auge in Ange dem altständischen Prinzip gegen¬ übergestellt; mau mußte das System der örtlichen Verwaltung radikal ändern. Die allgemeine Strömung war auf eine politische Änderung gerichtet und hatte ihren Brennpunkt in der „Glocke" Herzens. Die liberalen Ideen und der Konstitutionalismus waren damals so stark, daß sogar Katkow die Berufung einer altrussischen Landschaftsversammlung zur Organisierung der öffentlichen Meinung befürwortete. Unter den Männern, die das Gesetz über die Organi¬ sation der Landschaften vorbereiteten, waren viele, die mit dem Führer in dieser Sache, Milntin, meinten, daß die Einführung einer Konstitution verfrüht, aber prinzipiell zu wünschen sei. Milntin wollte den Bau von unten beginnen, mit örtlichen Wahlkörpern, in denen das Land zur Selbstverwaltung erzogen werden würde; die Wahlkörper sollten die Keime für eine kräftige repräsen¬ tative Reichsregierung werden. Es ist bemerkenswert, wie objektiv nud warm Witte an dieser Stelle die „hervorragenden Staatsmänner der sechziger Jahre" gegen Angriffe Goremykins verteidigt, die „ihrer Zeit so viel Großes voll¬ brachten, wie ihre Nachfolger nicht leisteten, die sich um die Erneuerung unsers staatlichen und gesellschaftlichen Baues nach ihren innigen Überzeugungen mit freier Ergebenheit gegenüber ihrem Herrscher und nicht gegen sein Streben bemühten." Rechnet Witte sich zu ihren Gesinnungsgenossen? In dem die Landschaftsinstitntionen ankündcnden Manifest vom 31. März 1863 bezeichnete Alexander II. die vernünftige Ordnung der örtlichen Selbst¬ verwaltung als die Grundlage des gesamten gesellschaftlichen Baues. Weiter hieß es: „Indem wir diese Einrichtungen bewahren, behalten wir uns vor, wenn sie durch die Praxis erprobt sein werden, an ihre weitere Entwicklung

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_235171
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_235171/254
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_235171/254>, abgerufen am 23.07.2024.