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Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Drittes Vierteljahr.

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Line Denkschrift des Ministers Witte

nach Maßgabe des nach Zeit und Ort Nötigen zu gehn/' Und in einer
Depesche vom 14, April desselben Jahres an den russischen Botschafter in London
sagte der Reichskanzler Fürst Gortschat'vo: "Das von nnserm allerhöchsten
Monarchen angenommne System enthält in sich den Keim, der durch Zeit und
Erfahrung entwickelt werden soll. Es hat die Bestimmung, auf Grund pro¬
vinzieller und munizipaler Einrichtungen, die in England der Ausgangspunkt
und die Grundlage von Größe und Wohlfahrt gewesen sind, zur administra¬
tiven Autonomie zu sichren," In demselben Sinne sprach sich der Zar im
August gegen Milutiu aus: er habe keine Abneigung gegen eine repräsentative
Staatsleitung, aber die Russen seien für eine Konstitution noch nicht reif.

In der Kommission, die das Landschaftsgesetz von 1864 ausarbeitete,
Präsidierte ein so konstitutionell denkender Manu wie Milutin, und arbeitete
mau im Geist und in den Formen konstitutionellen Lebens, Aber sehr bald
erstarkte neben der liberalen Strömung das Mißtrauen, die Furcht vor dem
Reformeifer, besonders in dem von der Aufhebung der Leibeigenschaft er¬
schütterten Adel und bald auch in den Regiernngskreisen, Der neue Minister
des Innern, Walujew, übernahm an Stelle Milutins den Borsitz in der Koni¬
mission, und man begann in ihr zu kavieren, zwischen den beiden Prinzipien
Ausgleiche zu suchen. Die Selbständigkeit der Landschaften wurde nicht mehr
das klare Ziel der Arbeiten, sondern die ohne Gefährdung der staatlichen
Autorität mögliche Befriedigung der hoch gespannten Erwartungen der liberalen
Menge, Das Landschaftsgesetz bekam den unbestimmten Charakter, der das
Ergebnis des Bestrebens war, sowohl die Aichänger als die Gegner der Reform
zufrieden zu stellen: die ersten wurden mit der Zukunft vertröstet, die andern
damit beschwichtigt, daß die Kompetenzen der Landschaften äußerst elastisch be¬
stimmt wurde". Insbesondre unterließ man, die Zelle des Gewebes, die all¬
ständische Gemeinde zu schaffen. Im ganzen blieb die gesetzgebende Gewalt des
Staats unangetastet, seine verwaltende Macht aber wurde stark zu Gunsten
der neue" landschaftliche,, Institute eingeschränkt als der repräsentativen Or-
gane der örtlichen Bevölkerung, Die Regierungsgewalt spaltete sich und
mußte zum Antagonismus führen, Vou den ersten Jahren des Bestehns
der Landschaften an machte sich dieser Antagonismus bemerkbar. Gegenseitiges
Mißtrauen und Verdacht, je uach Umstanden offne oder geheime Opposition,
passiver Widerstand und sogar offner Kampf -- das sind die Züge und die ein¬
zelnen Episoden der Geschichte dieser Beziehuuge". Auf feiten der Regierung
war die Macht, und die Ausbrttche der Landschaften waren deshalb zur Erfolg¬
losigkeit verurteilt. Die äußere Erscheinung dieser Beziehungen ist diese: von
der einen Seite unterdrückt das gouvernementnle Prinzip mehr und mehr das
landschaftliche, andrerseits strebt die Landschaft danach, aus dem engen Rahme",
den man ihr gegeben hatte, herauszukommen, zu einer realen Macht zu werden,
sich ausführende Organe zu schaffen und Teilnahme an der Zentralverwaltung
An erlangen. Dieser Kampf ist nicht zufällig, keine psychologische Verirrung,
sondern ein Prinzipienkampf.


Line Denkschrift des Ministers Witte

nach Maßgabe des nach Zeit und Ort Nötigen zu gehn/' Und in einer
Depesche vom 14, April desselben Jahres an den russischen Botschafter in London
sagte der Reichskanzler Fürst Gortschat'vo: „Das von nnserm allerhöchsten
Monarchen angenommne System enthält in sich den Keim, der durch Zeit und
Erfahrung entwickelt werden soll. Es hat die Bestimmung, auf Grund pro¬
vinzieller und munizipaler Einrichtungen, die in England der Ausgangspunkt
und die Grundlage von Größe und Wohlfahrt gewesen sind, zur administra¬
tiven Autonomie zu sichren," In demselben Sinne sprach sich der Zar im
August gegen Milutiu aus: er habe keine Abneigung gegen eine repräsentative
Staatsleitung, aber die Russen seien für eine Konstitution noch nicht reif.

In der Kommission, die das Landschaftsgesetz von 1864 ausarbeitete,
Präsidierte ein so konstitutionell denkender Manu wie Milutin, und arbeitete
mau im Geist und in den Formen konstitutionellen Lebens, Aber sehr bald
erstarkte neben der liberalen Strömung das Mißtrauen, die Furcht vor dem
Reformeifer, besonders in dem von der Aufhebung der Leibeigenschaft er¬
schütterten Adel und bald auch in den Regiernngskreisen, Der neue Minister
des Innern, Walujew, übernahm an Stelle Milutins den Borsitz in der Koni¬
mission, und man begann in ihr zu kavieren, zwischen den beiden Prinzipien
Ausgleiche zu suchen. Die Selbständigkeit der Landschaften wurde nicht mehr
das klare Ziel der Arbeiten, sondern die ohne Gefährdung der staatlichen
Autorität mögliche Befriedigung der hoch gespannten Erwartungen der liberalen
Menge, Das Landschaftsgesetz bekam den unbestimmten Charakter, der das
Ergebnis des Bestrebens war, sowohl die Aichänger als die Gegner der Reform
zufrieden zu stellen: die ersten wurden mit der Zukunft vertröstet, die andern
damit beschwichtigt, daß die Kompetenzen der Landschaften äußerst elastisch be¬
stimmt wurde». Insbesondre unterließ man, die Zelle des Gewebes, die all¬
ständische Gemeinde zu schaffen. Im ganzen blieb die gesetzgebende Gewalt des
Staats unangetastet, seine verwaltende Macht aber wurde stark zu Gunsten
der neue» landschaftliche,, Institute eingeschränkt als der repräsentativen Or-
gane der örtlichen Bevölkerung, Die Regierungsgewalt spaltete sich und
mußte zum Antagonismus führen, Vou den ersten Jahren des Bestehns
der Landschaften an machte sich dieser Antagonismus bemerkbar. Gegenseitiges
Mißtrauen und Verdacht, je uach Umstanden offne oder geheime Opposition,
passiver Widerstand und sogar offner Kampf — das sind die Züge und die ein¬
zelnen Episoden der Geschichte dieser Beziehuuge». Auf feiten der Regierung
war die Macht, und die Ausbrttche der Landschaften waren deshalb zur Erfolg¬
losigkeit verurteilt. Die äußere Erscheinung dieser Beziehungen ist diese: von
der einen Seite unterdrückt das gouvernementnle Prinzip mehr und mehr das
landschaftliche, andrerseits strebt die Landschaft danach, aus dem engen Rahme»,
den man ihr gegeben hatte, herauszukommen, zu einer realen Macht zu werden,
sich ausführende Organe zu schaffen und Teilnahme an der Zentralverwaltung
An erlangen. Dieser Kampf ist nicht zufällig, keine psychologische Verirrung,
sondern ein Prinzipienkampf.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_235171/255>, abgerufen am 23.07.2024.