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Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Drittes Vierteljahr.

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Vorzug, der "ach Wildes Meinung der russischen Entwicklung vor der euro¬
päischen eigen ist: der Vorzug, den Kampf der Stände untereinander und mit
dem Monarchen vermieden zu haben, schwerlich allgemeine Anerkennung finden
dürfte. Denn diesem Kampfe wird auch Rußland nicht entgehn, und Witte
selbst schürt ihn vielleicht zu unnötig hoher Flamme ans, eben dnrch die rück¬
sichtslose Verwirklichung seines staatlichen Ideals, der autokratischen Bureau¬
kratie und der aus ihr folgenden Zentralisation der Staatsverwaltung.

In der Verehrung dieser Zentralisation läßt Witte sich wieder von der
Wissenschaft, insbesondre von A, Leroh-Beaulieu bestärken, dein Fremden, ob¬
wohl der entgegengesetzte Standpunkt von so guten Kennern Rußlands wie
Herzen, den beiden Aksakvw, dem Historiker Kostvmarow eingenommen wird.
Es ist in der That leicht, blendende Argumente für die Notwendigkeit einer
administrativen Zentralisation in Rußland aufzuführen, und Leroy-Beaulieu
hat das ausgiebig gethan.*) Aber wir haben einmal erlebt, wie der Baron
Haxthnnse" vor fünfzig Jahren alle Welt mit seiner Entdeckung des sozialen
Ideals in der russischen Gemeindeverfassung blendete und die vernünftige Ent¬
wicklung der russischen bäuerlichen Verhältnisse bis auf den heutigen Tag in
unheilvollster Weise zurückgehalten nud verwirrt hat. Der Mir, die russische
Bauerngemeinde, ist bis heute noch ein nationales Dogma, an das viele glauben,
und wenn Witte sein Ziel erreichen sollte, so könnte die büreaukratische Zen¬
tralisation ebenso zu einem nationalen Dogma werden. Denn an blendenden
Argumenten dafür mangelt es nicht für den, der weniger das Wohl des
russischen Volkes als den Glanz des russischen Staates im Auge hat. Und
wenn dieses Dogma, einmal anerkannt, mich nicht die Lebensdauer des andern
Dogmas von Haxthausenscher Erfindung haben wird, so wird es doch weit
größeres Unheil als dieses über das gesamte, nicht bloß das bäuerliche Volks¬
leben Rußlands bringen. Wenn Witte alle die wissenschaftlichen Quellen, die
er in überreichen Strome fließen läßt, wirklich gründlich, und besonders wenn
er sie. selbst erforscht hätte, so hatte er an seinem Dogma und an seiner
Autorität Beaulieu zweifelhaft werde" müssen. Aber so gut Witte unbedenklich
annimmt, daß die wissenschaftliche Rüstung seines Gegners Goremykin von
ander" Händen zusammengestellt wurde, so gut dürfen Nur annehmen, daß
Witte niemals die große Bibliothek gesehen oder doch durcharbeitet hat, auf
^ er sich beruft. Auch er hat sich seine wissenschaftliche Ausrüstung von
"Zusammenstellern" machen lassen, auch er hat Nieder Gneist noch Holtzendvrf
"°es gar Friedenthal, Nieder Barautc, noch Dich, noch Brougham, noch Marx,
"och Mill, noch den Japaner Jhcnaga usw. studiert, um diese seine Denkschrift
ZU verfassen, und seine "Zusammensteller," wie der Ausdruck bei Witte wort-
^es lautet, haben die große Litteratur Europas nur in usum mwislri ver¬
leitet, ohne ihm mehr davon zu sagen, als er hören wollte. Und hören
wollte er nur, daß Rußland nicht anders regiert werden könne, als von einem



*) I/öMM-o <Jo" DMM.

Vorzug, der »ach Wildes Meinung der russischen Entwicklung vor der euro¬
päischen eigen ist: der Vorzug, den Kampf der Stände untereinander und mit
dem Monarchen vermieden zu haben, schwerlich allgemeine Anerkennung finden
dürfte. Denn diesem Kampfe wird auch Rußland nicht entgehn, und Witte
selbst schürt ihn vielleicht zu unnötig hoher Flamme ans, eben dnrch die rück¬
sichtslose Verwirklichung seines staatlichen Ideals, der autokratischen Bureau¬
kratie und der aus ihr folgenden Zentralisation der Staatsverwaltung.

In der Verehrung dieser Zentralisation läßt Witte sich wieder von der
Wissenschaft, insbesondre von A, Leroh-Beaulieu bestärken, dein Fremden, ob¬
wohl der entgegengesetzte Standpunkt von so guten Kennern Rußlands wie
Herzen, den beiden Aksakvw, dem Historiker Kostvmarow eingenommen wird.
Es ist in der That leicht, blendende Argumente für die Notwendigkeit einer
administrativen Zentralisation in Rußland aufzuführen, und Leroy-Beaulieu
hat das ausgiebig gethan.*) Aber wir haben einmal erlebt, wie der Baron
Haxthnnse» vor fünfzig Jahren alle Welt mit seiner Entdeckung des sozialen
Ideals in der russischen Gemeindeverfassung blendete und die vernünftige Ent¬
wicklung der russischen bäuerlichen Verhältnisse bis auf den heutigen Tag in
unheilvollster Weise zurückgehalten nud verwirrt hat. Der Mir, die russische
Bauerngemeinde, ist bis heute noch ein nationales Dogma, an das viele glauben,
und wenn Witte sein Ziel erreichen sollte, so könnte die büreaukratische Zen¬
tralisation ebenso zu einem nationalen Dogma werden. Denn an blendenden
Argumenten dafür mangelt es nicht für den, der weniger das Wohl des
russischen Volkes als den Glanz des russischen Staates im Auge hat. Und
wenn dieses Dogma, einmal anerkannt, mich nicht die Lebensdauer des andern
Dogmas von Haxthausenscher Erfindung haben wird, so wird es doch weit
größeres Unheil als dieses über das gesamte, nicht bloß das bäuerliche Volks¬
leben Rußlands bringen. Wenn Witte alle die wissenschaftlichen Quellen, die
er in überreichen Strome fließen läßt, wirklich gründlich, und besonders wenn
er sie. selbst erforscht hätte, so hatte er an seinem Dogma und an seiner
Autorität Beaulieu zweifelhaft werde» müssen. Aber so gut Witte unbedenklich
annimmt, daß die wissenschaftliche Rüstung seines Gegners Goremykin von
ander» Händen zusammengestellt wurde, so gut dürfen Nur annehmen, daß
Witte niemals die große Bibliothek gesehen oder doch durcharbeitet hat, auf
^ er sich beruft. Auch er hat sich seine wissenschaftliche Ausrüstung von
"Zusammenstellern" machen lassen, auch er hat Nieder Gneist noch Holtzendvrf
"°es gar Friedenthal, Nieder Barautc, noch Dich, noch Brougham, noch Marx,
"och Mill, noch den Japaner Jhcnaga usw. studiert, um diese seine Denkschrift
ZU verfassen, und seine „Zusammensteller," wie der Ausdruck bei Witte wort-
^es lautet, haben die große Litteratur Europas nur in usum mwislri ver¬
leitet, ohne ihm mehr davon zu sagen, als er hören wollte. Und hören
wollte er nur, daß Rußland nicht anders regiert werden könne, als von einem



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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_235171/253>, abgerufen am 23.07.2024.